Unser Kollege machte sich auf den Weg, den Aufstieg des VfL Bochum mitzuerleben. Dann passierte, was doch gar nicht passieren konnte.
Sebastian Schindzielorz hatte den Rasen des Ruhrstadions verlassen und sich in der obersten Reihe der Haupttribüne versteckt. „Solche Momente gehören den Spielern“, sagte der Sportdirektor des VfL Bochum. Aber vor allem brauchte er wohl selber einen ruhigen Moment, um zu realisieren, was sich da gerade zusammenfügte. Vor 33 Jahren, im Alter von neun Jahren, war Schindzielorz aus Polen nach Deutschland gekommen. Er beherrschte damals weder die Sprache richtig, noch kannte er das Land, in dem er nun leben sollte. Sein Vater hatte aber eine gute Idee: Er meldete ihn zum Fußballspielen beim VfL Bochum an.
„War auch Glück dabei“
Vermutlich glaubte Vater Schindzielorz nicht ernsthaft, dass sein Sohn mal Bundesligaprofi werden würde. Wichtiger war eher, dass das Kind beim Fußball einen Anker setzen konnte. „Der Klub hat mir von Anfang an eine Heimat gegeben, und das gilt seither“, hat Schindzielorz mal gesagt. Er wurde in Bochum tatsächlich zum Bundesligaprofi, zog dann in die Welt hinaus, und kehrte vor fünf Jahren zurück, um erst Teammanager und vor drei Jahren dann Sportvorstand zu werden. Nun stand er oben auf der Tribüne, und die von ihm zusammengestellte Mannschaft war gerade in die Bundesliga zurückgekehrt. Die Gratulation dafür, dass dieses Team mit finanziellen Mitteln, die eher für einem Platz im gehobenen Niemandsland der Tabelle reichen, gerade als Meister der Liga aufgestiegen war, nahm er fast abwehrend an. „War auch Glück dabei.“ Ja, aber nicht so wahnsinnig viel.
Vielleicht hatte Schindzielorz das mit dem Aufstieg auch noch nicht richtig realisiert. Schließlich hatte der ganze Jubel im leeren Stadion einen zutiefst ungläubigen Unterton. Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch, dem es nichts ausmacht, wie der VfL-Mittelfeldspieler Thomas Eisfeld angeredet zu werden, war vor allem froh, dass er kein Unglück gebracht hatte. Drei Stunden zuvor hatte er auf einem Stein vor dem Ruhrstadion gestanden und in eine Fernsehkamera darüber gesprochen, was der Aufstieg des VfL Bochum in die Bundesliga für die Stadt bedeutet. Daran wäre im Prinzip nichts einzuwenden gewesen, aber er tat das halt vor Anpfiff des Spiels, in dem es um diesen Aufstieg ging. Er hatte das gemacht, weil das ZDF keine Akkreditierung fürs Spiel bekommen hatte und sein Statement immerhin fürs Heute-Journal war und die auch alles löschen würden, wenn es doch noch schiefginge. Und wie konnte es nicht schief gehen?
Elf Jahre lang hat die Zweite Liga zäh wie Teer am VfL Bochum geklebt. Als der Klub zum letzten Mal in der Bundesliga spielte, gab es RB Leipzig erst ein Jahr und Angela Merkel regierte noch mit der FDP. Die vielen Versuche, die Liga in der richtigen Richtung zu verlassen, waren nie kraftvoll genug. In allen den Jahren Zweiter Liga hatte sich das Gefühl verfestigt, für immer am fußballerischen Katzentisch sitzen zu müssen. (Allen, die übrigens gerade glauben, dass die Zweite Liga mit Schalke, Hamburg und Bremen, die wahre erste Liga sei, denen sei versichert: Spätestens, wenn sie an einem Freitagabend um halb Sieben oder an einem Samstag um Eins im Stadion stehen oder vor der Glotze sitzen, werden sie wissen, dass die verdammte Zweite Liga eben die verdammte Zweite Liga ist. Aber das nur am Rande.)
Natürlich konnte es mit dem Aufstieg eigentlich nichts werden in einem Stadion, um dessen Zäune noch einmal Zusatzzäune gezogen worden waren, die von Ordner-Armeen gesichert wurden sowie von einem Polizeiaufgebot, als müsse der Bundestag vor Querdenkern geschützt werden, bzw. natürlich besser. Weshalb man aus der Ferne auch immer Fetzen von Polizeiansagen hören konnte („Bitten wir Sie das Abbrennen…“). Offensichtlich waren da Menschen, während im Stadion nur des eiskalte Wind und der Mann aus Sandhausen waren, der von der Tribüne Ermutigendes rief. Wenn auch immer das Gleiche: „Auf geht’s Sandhausen, come on!“ und „Sandhausen überragend“.
Die überragenden Sandhäuser, schlechteste Auswärtsmannschaft der Liga, ließen den VfL Bochum mit 1:0 im Führung gehen. Aber es wirkte wie ein satanischer Trick des Teams aus Hansi-Flick-Land. In der zweiten Halbzeit glich es erst aus und wurde von der One-Man-Army auf der Tribüne weiter mächtig nach vorne gepeitscht. Der zweite und dritte Bochumer Treffer wirkten wie eine erneute Volte Sandhausens, im letzten Moment noch härter zuzuschlagen, während Kiel dann noch das Spiel gegen Darmstadt drehen würde und Fürth sowieso gegen Düsseldorf. Und Bochum würde doof dastehen.
Aber dann war das Spiel vorbei, und die Bochumer Spieler jubelten. Sie überkippten sich mit Bier, zogen sich T‑Shirts an, auf denen etwas von Bundesligaaufstieg 2021 stand, und bekamen die so genannte „Felge“ überreicht, die Meisterschale des kleinen Mannes. Bochums Trainer Thomas Reis flitzte mit dem Meisterwimpel die Tribüne hoch, um Aufsichtsrat Martin Kree zu herzen, der als Spieler nie mit dem VfL Bochum aufgestiegen war – weil er nie abgestiegen war. Auf dem Rückweg hielt Reis auf halbem Weg und winkte Günther Pohl zu, der Legende des Bochumer Lokalradios, der seit über 30 Jahren die VfL-Spiele kommentiert. Pohl notierte sich aber gerade noch was und bekam das nicht mit. Also stupste ihn jemand an, jetzt hatte er aber seine Brille nicht auf. Dann sah er, Reis zeigte ihm den Wimpel und kam der Einfachheit halber zu ihm gelaufen und nahm ihn in den Arm.
Das war natürlich unglaublich rührend, aber so richtig war das Gefühl immer noch nicht verflogen, dass das hier eine Art Fußballversion der „Truman Show“ war. Vermutlich würde Robert Zulj, dem besten Spieler der Saison, gleich ein Scheinwerfer aus dem Kulissenhimmel auf den Fuß fallen. Vermutlich war es auch das, was Schindzielorz dachte.
Schade, dass er das hochgesicherte Stadion nicht verließ, und auch die Mannschaft nicht mitbekam, was draußen passierte. Erst konnte man die Menschen nur hören, dann auch sehen. Sie trugen blau-weiße Schals und Trikots, sie sangen und hüpften herum. Es waren schon Tausende und immer mehr von ihnen strebten die Castroper Straße hinauf dem Stadion entgegen. Sie tranken Bier, wenn auch nicht genug, weil an den wenigen Kiosken Schlangen waren wie 1983 vor einer rumänischen Bäckerei. Sie machten einander relativ reduzierte Mitteilungen, bei denen es sich im Wesentlichen um unterschiedliche Formen von „Jaaaaahh“ handelte.
Aus den Autos hingen blau-weiße Schals oder Menschen in Trikots und Herbert Grönemeyers „Bochum“ lief in Endlosschleife. Aus einem Auto kamen sogar aufgezeichnete Fan-Gesänge, ein Stadion auf Rädern. Außerdem wurde gehupt, unglaublich viel gehupt. Vermutlich konnte man das Hupen noch im Weltall hören. Der Bus der Linie 308 gab als Ziel überraschend „VfL Bochum“ an, der Busfahrer winkte. In einem Frisörgeschäft stand die Büste einer Frau mit Lockenwicklern im Fenster, die einen VfL-Schal trug. Ein Würstchenstand verschenkte VfL-Aufkleber. Vor dem Bahnhof hingen Mitarbeiter der Stadt blau-weiße Wimpelketten auf.
Nein, es konnte kein Irrtum sein: Es war passiert, was doch gar nicht passieren konnte. Aber besser nochmal im Internet nachschauen und ja, da stand es auch!