Fünfter Teil unserer Serie der schönsten Orte der „Fußballrepublik Deutschland“: Nirgendwo sitzt es sich besser als in Block H im Meppener Stadion. Dank der Nähe zur Gästebank.
Für unsere aktuelle Ausgabe #223 reisen wir mit euch quer durch das Land und zeigen euch die 150 geheimen und weniger geheimen Fußballorte, die man gesehen haben muss. Als kleinen Vorgeschmack präsentieren wir an dieser Stelle die Lieblingsorte der 11FREUNDE-Redakteure. Diesmal: Tobias Ahrens über einen besonderen Sitzplatz.
Ort: Emslandstadion Meppen
Adresse: Lathener Straße 15A, 49716 Meppen
Region: Emsland
Als ich vorige Woche in mein altes Kinderzimmer kam, hing alles so, wie ich es vor Jahren hinterlassen hatte. Das „Class of 92”-Filmplakat an der Tür. Ein altes Dirk-Nowitzki-Poster an der Schräge. Über meinem Bett eine Fahne: „SV Meppen – Die treuen Fan’s”. Erst jetzt fällt mir das sinnlose Apostroph auf. Darüber ein Schal: „SV Meppen – Die Macht im Emsland”. Fand das Vorgängermodell „Die Besten im Nordwesten” besser. Daneben hängen Autogrammkarten, säuberlich und für die Ewigkeit mit je vier Heftzwecken an die weiße Rauhfasertapete gepresst: Lars Schiersand, Josef Schröer, Thorsten Thale.
Beim Anblick dieses Sammelsuriums fühle ich mich zuhause. Doch so richtig daheim war ich lange erst, wenn ich aus dem Haus ging, 750 Meter die Straße runterlief und mich auf einen bestimmten Platz im Stadion setzte. Block H, alte Tribüne, dort wo die Jungs schon warteten.
In Meppen ist die alte Tribüne ein rotes Backsteingebäude, das 1962 errichtet wurde. Unterhalb der Tribüne befinden sich die Kabinen für Jugendmannschaften, in deren Duschen der Fußpilz seit exakt 1962 nicht mehr entfernt worden ist. Im Emsland wird eben gespart, wo man kann. Zum Beispiel auch bei der Bezahlung von Ordnern. Jahrelang, als der SVM in der Ober- und Regionalliga spielte, besetzte der Verein nur den vorderen Eingang der Tribüne mit einem Ordner. Sobald dieser tatsächlich einmal unsere Sitzplatztickets sehen wollte, die wir nicht immer besaßen, liefen wir die Treppe wieder herunter, einmal um den gesamten Bau herum und an der anderen Seite hoch. Dort am Eingang stand meist niemand. Oder nur einer, der im Sitzen schlief. Und wir hatten unsere Ruhe.
Die alte Tribüne ist zweigeteilt. Zwischen den oberen und unteren Sitzreihen verläuft ein Gang, was zur Folge hat, dass die Zuschauer, die in der ersten Reihe der oberen Blöcke sitzen, bei jeder guten Chance nur den Rücken eines vorbeilaufenden Bratwurstholers sehen, weil dieser aus dem Augenwinkel die Situation erkannt hat und stehengeblieben ist. Auch deshalb saßen wir im unteren Block.
Wann genau wir die Plätze in Block H für die unseren erklärt hatten, weiß ich nicht. Eigentlich hatten wir eine freie Bank direkt an der Treppe erspäht, dort, wo wir uns an eine Betonmauer hätten anlehnen können. Eine gute Idee, fanden auch die beiden älteren Herren, die an diesem Nachmittag nach uns kamen und denen wir die Ecke streitig machten. „Wir sitzen hier seit 25 Jahren”, rief einer, und schwenkte wie zum Beweis eine Aldi-Tüte durch die Luft, in der er ein Kissen für sein Hinterkastell gelegt hatte und die er nun also gleich genau dort hinlegen wollte, wo wir saßen. 25 Jahre, eine lange Zeit, dachten wir, die kaum halb so alt waren. Und trollten uns ein paar Stufen runter.
Warum die beiden Herren an dieser Stelle saßen, erkannten wir schnell. Hier in Block H passte alles zusammen. Die Nähe zum Spielfeld hatte fast englische Qualität. Weshalb der Verein noch heute oft Strafen für das Werfen von Bierbechern zahlen muss – er muss dem Fan quasi nur aus der Hand fallen, dann liegt er auf dem Spielfeld. Wir saßen diagonal und knapp hinter der Auswechselbank der Gästemannschaft. Das Ergebnis dieser Melange: Ein Pöblereck. Unsere Vorbilder: Die beiden Meckerrentner von oben.
„Rrrrrrrrrrran!“, rief einer der beiden immer. Das R so wunderschön rollend, dass unser Rechtsverteidiger gleich ein wenig schneller lief. Oder im Falle einer unerwarteten Führung: „Schiri, Telefon!“ In der Hoffnung, der Schiedsrichter würde abpfeifen, um den Anruf entgegenzunehmen. Wir brüllten bald auch: „Rrrrrrrrrrran!“ Wir verstanden schnell.
Die Folge waren lautstarke Bemerkungen über Gewichtszunahmen, wenn die Auswechselspieler zum Warmmachen an uns vorbeiliefen. Und aufmunternde Worte an den jüngsten von ihnen, wenn unser Trainer mal wieder nicht auf ihn gesetzt hatte. Beleidigungen, Drohungen an den Unparteiischen, Fachdialoge mit heraneilenden Co-Trainern („Jaha, komm du doch!“) – alles dabei. Dass der Verein auf die Idee kam, zwischen uns und der Gästebank fortan die Einlaufkinder und ihre Eltern zu setzen, führte nicht zu einer Verbesserung der Situation. Im Gegenteil. Wir waren Halbstarke, die längst begriffen hatten, dass niemand Mitte März ins Emslandstadion kommen würde, um sich Querpässe von Endre Varga gegen den SV Bad Rothenfelde anzusehen (auch wenn Endre Varga wirklich tolle Querpässe spielte, aber dazu mehr in der sicher bald erscheinenden Serie „Mein Lieblingsquerpass – Folge 6”). Für die Stimmung, das wurde uns bewusst, waren wir schon selbst verantwortlich.
Bei einem Spiel gegen Hannover 96 II ging Jungtrainer Valerien Ismael allen auf die Nerven, weil er sich alle zwei Minuten beim Schiedsrichter erkundigte, wie lange denn noch zu spielen sei. Als er mal wieder auf die Uhr tippte und zur Frage ansetzte, rief einer aus unserer Horde: „Es ist 15:35 Uhr. Und jetz‘ setz dich wieder hin.” Ismael drehte sich irritiert um, lachte dann aber doch. Einen Augenblick der Aufmerksamkeit von einem Deutschen Meister, die Trophäe eines Jungen aus der Provinz. Danach waren wir im Spiel.
Wie 2015, als der VfL Osnabrück kam, der alte Rivale, zum Finale des Niedersachsenpokals. Vor einer der ersten wichtigen Begegnungen nach Jahren der sportlichen Talfahrt hatten wir uns vorgenommen, es diesmal etwas ruhiger anzugehen. Als wir Nachzügler eine Viertelstunde vor dem Anpfiff auf unsere Plätze kamen, sahen wir deshalb nur, dass zwei unserer Freunde bereits über der Bande hingen und Osnabrücks Marcos Alvarez engagiert ein Zwei-gegen-Eins in der dritten Halbzeit anboten. Der reagierte professionell per Mittelfinger.
Wir waren Zeuge, wie Mathias Jack bei jedem zweiten Spiel mit Gelb-Rot vom Platz flog, wie Daniel Farke in seinem ersten Spiel für den SV Meppen ein Fallrückziehertor schoss und danach kein Scheunentor mehr traf und wir hatten jedes Jahr die Hoffnung, dass bald die großen Zeiten zurückkehren würden. Wir lebten in unserer ganz eigenen, kleinen Welt.
Vielleicht ist es deshalb so schwierig, Außenstehenden die Faszination einer Holzbank in einem mittelgroßen Stadion eines Drittligisten schmackhaft zu machen. Es sind Geschichten, die nur jene verstehen, die dabei waren. Situationskomik. Oder Tragik. Wir sind auf dieser Holzbank in Block H älter geworden. Hier haben wir Freundinnen vorgestellt, das erste und das letzte Bier getrunken, uns über Startaufstellungen geärgert und „Dans op de Deel“ nach jedem Tor gesungen. Erinnerungen, die so viel bedeuten, dass es einen immer wieder zurückzieht.
Geblieben sind die Anekdoten, die hervorgekramt werden wie bei Familienfesten, wenn vom verbitterten und längst verstorbenen Großonkel erzählt wird, dessen Eigenheiten dem Angeheirateten für immer verborgen bleiben werden. Für die Eingeweihten bedeuten diese Geschichten aber auch: Heimat.
Deshalb überkommt mich noch immer ein seltsamer Zustand, wenn ich meine Eltern besuche und zum ersten Mal auf die Schrägwand schaue: Autogramme, Fahnen, eine Eintrittskarte für ein Testspiel beim TuS Pewsum. Schwere Zeiten, schöne Zeiten. Aber bald ist das vorbei. Die Wand soll frisch gestrichen werden. Und auch die Holzbank in Block H ist Geschichte. Nach dem letzten Aufstieg musste der Verein – ganz nach DFB-Statuten – neue, blaue Plastiksitze darüberschrauben.