Am 8. Juli 2014 versenkte Deutschland WM-Gastgeber Brasilien mit 7:1 im Halbfinale. Damals mitten im Getümmel: der Liveticker. Die Highlights im Überblick.
21:18 Uhr
Bevor wir ins Geschehen einsteigen, noch schnell ein Halbfinalwitz. Treffen sich ein Holländer und ein Deutscher beim Bäcker. Fragt der Deutsche: »Gegen wen spielt ihr morgen eigentlich?« Sagt der Holländer: »Argentinien!« Darauf der Deutsche: »Ach, guck an! Gegen die spielen wir am Sonntag!«
2.
Erste Ecke für Brasilien, Oscar will ausführen, doch es ist so laut im Stadion, dass er den Ball nicht sehen kann.
11.
Und auf einmal ist es still, sehr still. Für eine Sekunde, dann explodieren hier in Berlin die Donnerschläge, das Haus bebt, und wie waidwunde Rehe bejubeln wir, blutend im Graben liegend, das 1:0 durch Thomas Müller: Ecke Kroos, Direktabnahme, Julio Cesar hat keine Chance, weint schont im Flug – und Müller wird zu einer einzigen Sehne, die sich zum Zerreißen anspannt, der Bogen, der uns in eine andere Umlaufbahn schießt. Wo es hoffentlich still ist. »Tor«, flüstern wir. »Tor. Hurra.«
19.
Ein Spiel ist das! Mein lieber Herr Gesangverein! Fallende, ineinander verknotete Menschen, die schreien und lachen und weinen und beten: Wie in einem Darkroom, wenn die Putzfrau aus Versehen auf den Lichtschalter kommt.
23.
JAAAAAAAAAAAAA! Miro Klose! Er macht es, er macht das 2:0, er macht sein 16. WM-Tor, er macht uns glücklich. Eingeschoben nach einer blitzsauberen Kombination durch gelähmte brasilianische Beine hindurch, Kroos mit der Präszision eines Miniaturgolfers, Klose im zweiten Versuch, hätte eigentlich gleich zwei Tore machen können, aber aus Respekt vor Ronaldo macht er nur eins. Und während ich das hier schreibe, steht es bereits 4:0. Ich kann nicht mehr, ich will aber: MEHR. Soll ich mir jetzt auch noch schnell Böller kaufen?
24.
Und selbst in diesem Moment schafft es Bela Retha, sich unbeliebt zu machen, schreit: »Brasilien beginnt zu trauern«, ich schreie: »Schnauze«, aber dann schreie ich nicht mehr, sondern halte die Schnauze, schaue, wie einer flankt und einer danebensemmelt und dann steht da Kroos, dieser Konjunktivspieler und setzt ein Ausrufezeichen! 3:0! Hurra! Brasilien beginnt zu trauern!
29.
5:0. Was ist das? Ein Ergebnis? Ein Traum? Ein Alptraum? Man will jubeln, aber man schafft es nicht: keine Luft, kein Blut, kein Glaube an das, was man sieht: Khedira trifft in der 29. Minute zum 5:0 gegen Brasilien. In einem WM-Halbfinale. Wir ersaufen in einem Strudel aus Fassungslosigkeit, Ehrfurcht und Mitleid mit dem Gegner. Und in diese schreckliche Begräbnisstille von Belo Horizonte hinein singen die mitgereisten Schlachtenbummler: »Oh wie ist das schön.« Fußball: Was hast du mit uns vor?
37.
Neymars Herz ist jetzt auch noch gebrochen. Er fällt ca. 100 Jahre aus.
41.
Verzweiflung pur: Hulk droht sich selbst Schläge an.
69.
Hat Lukas Podolski endlich die Würfel gefunden? Die Deutschen spielen Schach in Vollendung: Kehdira, Lahm, Schürrle, drin. Das sechste Tor. Wäre ich Brasilianer, würde ich hindurchgehen, durch dieses sechste Tor, im Vertrauen, dass es auf der anderen Seite auch nicht viel schlimmer sein kann.
77.
Müller steigt recht übermotiviert gegen David Luiz ein, der senst zurück, Nicklichkeiten, die niemandem schaden und niemandem nützen, als rauften zwei namenlose Bauarbeiter am Fuße der Pyramiden von Gizeh. Und Pharao Löw lächelt von seiner Sänfte.
79.
Tremor vom Kopfschütteln. Gibt’s nicht, gibt’s alles nicht. Gibt’s alles doch. Schürrle von Höhe der Fünfer-Grenze, viel zu spitzer Winkel, aber eben ein Winkel, und genau da kommt er hin, in den Winkel. 7:0. Gibt’s nicht. Und Berlin ist längst die Feiermunition ausgegangen.
91.
1:7. Oscar. Jetzt werden sie nachlässig.
92.
Und aus. Erstaunlich. Die Brasilianer sinken auf die Knie und beten. David Luiz betet, Luiz Gustavo betet, ich Agnostiker hatte immer angenommen, sie tun das, um sich zu bedanken, aber jetzt? Danke für nichts?
23:49 Uhr
Löw tröstet Fred, Schweinsteiger tröstet Scolari, Thiago Silva (mit Marc-Kevin-Göllner-Kappe) tröstet, wer nicht rechtzeitig entkommen kann. Und jetzt bildet die Selecao unter dem hagelnden Pfeifen der bitter enttäuschten Fans einen Mannschaftskreis. Oder ist es eine Wagenburg?
00:16 Uhr
7:1. Würde dieses Ergebnis nicht morgen früh frischtätowiert auf Jerome Boatengs Unterarm prangen, wir würden es wohl nicht glauben. Was aber sollen wir uns tätowieren lassen, nach diesem Spiel? Eine Träne unters Auge, für Brasilien? L O E W – auf die Fingergelenke? Oder den Wortlaut des Interviews mit Oliver Bierhoff, das wir jetzt gerade hören – auf den Rücken? Das könnte weh tun. Verkomplizieren wir es also nicht unnötig. Wir halten es lieber mit Tex Rubinowitz, dem Thomas Müller der Poesie: »Wenn dir etwas gefällt, analysiere es nicht, sondern tanze dazu.« Gute Nacht, liebe Fans.