Immer jüngere Talente, immer höhere Ablösen, immer mehr Berater: Die Jagd nach Talenten ist ein schmutziges Geschäft geworden. Immer mehr Verantwortliche schlagen Alarm.
Die Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #197 im April 2018. Das Heft gibt es bei uns im Shop – genau wie das Abo mit allen aktuellen Ausgaben.
Die letzte Bastion der Unschuld liegt in Dessau. Genauer in der „Anhalt Arena“, einem Multifunktionsbau mit Wellblechcharme, wo jedes Jahr im Spätwinter der „Allianz Cup“ ausgetragen wird. Am Samstagmorgen spazieren Eltern mit ihren aufgeregten Kids an der Hand durch ein Industriegebiet auf die Halle zu, in der schon Kirmestechno aus den Boxen dröhnt. Sonst spielt hier der Dessau-Rosslauer HV in der zweiten Handballbundesliga, doch heute ist die Crème de la Crème des deutschen Fußballs gekommen: Bayern, Dortmund und neun weitere Erstligisten, dazu Tottenham Hotspur und der FC Chelsea aus der Premier League – alle vertreten durch ihre U11-Mannschaften.
Auf dem Spielfeld wirken die Zehn- und Elfjährigen in den Trikots großer Vereine nicht nur wie Miniaturausgaben bekannter Profikicker, sondern werden auch so behandelt. Kinder bitten sie ehrfurchtsvoll darum, Autogramme auf Trikots zu kritzeln und bestaunen anschließend die Unterschriften von „Jussef“, „David“ und „Lubo“. Ansonsten aber unterscheidet sich die Fußballidylle nicht von all den anderen Hallenturnieren für Kinder und Jugendliche überall in Deutschland. Auf den Rängen feuern Eltern während des Spiels ihre Kinder an oder reichen in den Pausen eingetupperte Frikadellen. Jugendtrainer geben dem Nachwuchs letzte Anweisungen, halten die Kinder bei Laune oder trösten weinende Jungs nach Niederlagen. In Dessau ist die Welt noch in Ordnung.
Und doch herrscht hier nur die Ruhe vor dem Sturm. Das sagen alle an diesem Wochenende: Trainer, Betreuer und Eltern.
Die Welt des Jugendfußballs ist in Aufruhr. Nicht weil schlecht gearbeitet würde. Im Gegenteil: Die deutsche Nachwuchsarbeit gilt weltweit als vorbildlich. 366 DFB-Stützpunkte, 54 Nachwuchsleistungszentren der Klubs, Hunderte von Trainern, Tausende von Spielern. Spieler aus dem Jugendfußball kommen fast umweglos in der Bundesliga zum Einsatz. In der Saison 2017/18 sind Jan-Fiete Arp beim Hamburger SV, der Herthaner Arne Maier oder Denis Geiger in Hoffenheim die gefeierten Rookies. In den letzten zehn Jahren entfielen 25,9 Prozent der Spielminuten auf Spieler, die auch noch in der U23 spielen konnten. Davon träumen andere Länder: In der Premier League waren es nur 15,4 Prozent, in Italien 16,3 und in Spanien 18,4.
„Der Markt ist völlig außer Rand und Band.“
Und doch reden alle von einer Krise und der dunklen Seite der Erfolgsgeschichte. Am deutlichsten formuliert es der, der schon am längsten dabei ist. Volker Kersting leitet seit 26 Jahren die Jugendabteilung des 1. FSV Mainz 05. Nationalspieler wie André Schürrle oder Erik Durm wurden dort ausgebildet, Thomas Tuchel und Sandro Schwarz bekamen hier das Rüstzeug für ihre Trainerkarrieren. Doch derzeit ist Kersting wütend. „Ich weiß nicht mehr, ob es noch um die Ausbildung von Spielern geht oder nur noch ums Geschäft“, sagt er. „Der Markt ist völlig außer Rand und Band.“ Er muss Eltern warnen, dass ihre Kinder via Facebook oder Instagram von Beratern bedrängt werden. Klubs jagen sich gegenseitig Zwölfjährige ab. 15-Jährige bekommen inzwischen fürs Kicken monatlich mehr als ein Facharbeiter und werden behandelt wie Aktien, in die man investiert. „Wir erleben den Maximalkapitalismus des Jugendfußballs“, sagt Kersting.
Da ist zum Beispiel Thierno Ballo, der gerade seinen 16. Geburtstag gefeiert hat und von Viktoria Köln zum FC Chelsea gewechselt ist. Geboren wurde er in der Elfenbeinküste. Sein Vater floh von dort nach Österreich und holte seine Frau und den vier Jahre alten Thierno nach. Dessen Talent entdeckte auf einem Sportplatz in Linz der IT-Unternehmer und Jugendtrainer in der Kreisklasse Peter Huemerlehner.
Er brachte den Jungen erst zum Linzer ASK, vor fünf Jahren wechselte der damals Elfjährige dann zu Bayer Leverkusen. Internationale Vereinswechsel sind in diesem Alter nicht erlaubt, doch inzwischen war Huemerlehner Ballos Vormund geworden und siedelte angeblich aus beruflichen Gründen ins Rheinland um. Thiernos Mutter war auch dabei. „Sie war als Haushälterin beschäftigt, wir haben ihr Gelegenheit gegeben, etwas Geld zu verdienen“, sagt Huemerlehner.
Hausverbot für den Berater
Überraschenderweise meldete er den Jungen dann 2015 bei Bayer Leverkusen ab. Heute hat er dort Hausverbot. Stattdessen steckte er Ballo in die Jugend des Regionalligisten Viktoria Köln, nachdem er ihn auch dem 1. FC Köln angeboten hatte. Huemerlehner wollte pro Saison sogar 50 000 Euro mitbringen, bezahlen würde Chelsea. Dafür müsste der Klub nur einverstanden sein, dass Ballo regelmäßig zu Testspielen seines zukünftigen Arbeitgebers nach England reist. Der 1. FC Köln lehnte ab, Viktoria nicht.
„Man kennt den Zielverein schon und nutzt die Zeit hier sinnvoll“, mag Huemerlehner nur Vorteile erkennen. Dabei sichert sich Chelsea einen Spieler, den der Klub vor dem 16. Geburtstag gar nicht hätte verpflichten dürfen. Den Londonern droht wegen ähnlicher Verstöße eine Transfersperre. Huemerlehner prahlte in der Jugendszene zudem damit, dass er allein durch das Handgeld des Abramowitsch-Klubs ausgesorgt habe. Im Gespräch sagt er dazu nichts, erzählt aber, dass er inzwischen „zwölf Burschen“ betreut. Angeblich lässt er ihnen viel individuelle Ausbildung angedeihen: „Aber wenn die Spieler gesund bleiben, refinanziert sich alles.“ Ausnahmetalent Thierno Ballo hat er schon einen Ausrüstervertrag verschafft, „der bei Adidas die absolute Benchmark setzt“.
Geparkte Spieler, windige Transfers, fragwürdige Abhängigkeitsverhältnisse
Geparkte Spieler, windige Transfers und fragwürdige Abhängigkeitsverhältnisse sind nicht der Normalfall in der deutschen Nachwuchsausbildung. Aber viele Trainer und Betreuer schauen mit Sorge auf die zunehmend überdrehte Jagd auf Talente. Lars Ricken hat die Veränderungen am eigenen Leib erfahren. Als er mit 14 Jahren in Dortmund von der kleinen Eintracht zur großen Borussia wechselte, wäre es eine absurde Vorstellung gewesen, dass der Klub in seiner Nachwuchsabteilung mal festangestellte Psychologen und Pädagogen, Athletik- und Torwarttrainer beschäftigen würde. „Damals war es ein Highlight, auf Rasen zu trainieren, heute haben wir beheizbare Kunstrasenplätze“, sagt Ricken.
Seit 2008 leitet er die Nachwuchsarbeit des BVB. Sein Büro liegt in der Geschäftsstelle des Klubs auf der gleichen Etage wie die Sportdirektion von Michael Zorc. Kein Zufall, die Jugendarbeit ist identitätsbildend für die Borussia. 13 Meisterschaften in der A- und B‑Jugend, nur der VfB Stuttgart holte mehr Titel. Doch wichtiger als die Trophäen ist, dass Jugendspieler in der Bundesliga ankommen. „Es ist sehr wichtig, dass bei uns Dortmunder Jungs spielen“, sagt Ricken. „Dortmunder Jungs“ müssen nicht einmal unbedingt aus dem Pott kommen, auch ein Magdeburger wie Marcel Schmelzer fällt in diese Kategorie oder sogar ein Amerikaner wie Christian Pulisic, der vor drei Jahren als 16-Jähriger kam.
21 Millionen Euro für einen 16-Jährigen
Für Ricken wird der Wettbewerb um die besten Talente inzwischen international ausgetragen. „Dazu haben wir auch unseren Teil beigetragen“, gibt er zu. Nicht nur durch die Verpflichtung von Pulisic, sondern auch die des Dänen Jakob Bruun Larsen. Den holte Ricken vor drei Jahren für 175 000 Euro von Lyngby BK. Inzwischen sind solche internationalen Transfers längst zum Standard geworden. Der FC Bayern sicherte sich vor der vergangenen Saison den 16-jährigen Joshua Zirkzee aus Holland, den gleichaltrigen Luxemburger Ryan Johansson und für 700 000 Euro den Südkoreaner Wooyeong Jeong. Der Hamburger SV holte ein finnisches Toptalent und einen Ungarn aus der Jugend von Ferencvaros Budapest, der VfL Wolfsburg zwei 16-jährige Österreicher, die TSG Hoffenheim einen gerade 16 Jahre alt gewordenen Belgier sowie einen Finnen und einen 15-jährigen Luxemburger.
Auch durch die finanzstarke Konkurrenz aus England steigen die Preise. Der Wechsel von Mads Bidstrup (16), der im Winter vom FC Kopenhagen nach Leipzig kam und den Ricken sportlich ähnlich stark wie Bruun Larsen einschätzt, kostete schon zwei Millionen Euro. Für den gleichaltrigen Portugiesen Umaro Embalo von Benfica Lissabon wäre Leipzig sogar bereit gewesen, 16 Millionen Euro zu bezahlen. Der Transfer scheiterte im letzten Moment, wäre aber nicht einmal ein Rekord gewesen, denn der AS Monaco überwies an den FC Genua 21 Millionen Euro für den italienischen Stürmer Pietro Pellegri, der im März 17 Jahre alt wird.
163 Millionen Euro pro Saison für den Nachwuchs
Insgesamt wird der Aufwand größer: 163 Millionen Euro haben die Klubs der ersten und zweiten Bundesliga in der letzten Saison in ihren Nachwuchs investiert, in den letzten zehn Jahren hat sich der finanzielle Aufwand mehr als verdoppelt. Ein Klub wie Augsburg gibt pro Saison dafür rund drei Millionen Euro aus, in Mainz sind es vier und beim 1. FC Köln 7,5 Millionen Euro. Bei Klubs wie Schalke 04, RB Leipzig, Borussia Dortmund, Wolfsburg oder Leverkusen ist es noch mal das Doppelte und liegt damit auf dem Niveau der Profietats besserer Zweitligisten.
Doch inzwischen steht die drängende Frage im Raum, ob die Rechnung noch aufgeht. „Ich frage mich manchmal, ob ich meinem Vorstand nicht vorschlagen soll, unser Nachwuchsleistungszentrum zu schließen“, sagt Volker Kersting. „Dann melden wir uns in der Kreisliga an und stellen nach dem Spiel einen Kasten Bier in die Mitte.“ Das ist natürlich etwas kokett, Kersting ist viel zu passioniert bei der Sache. Aber er benennt das Problem: Wenn die großen Klubs den kleinen ihre besten Talente wegholen, lohnt sich der finanzielle Aufwand nicht mehr. In England schloss der Zweitligist FC Brentford aus dem Süden Londons bereits seine erfolgreiche Akademie. Juniorennationalspieler hatten den Verein für weit unter 50 000 Euro Ablöse verlassen. Inzwischen betreibt Brentford erfolgreich ein B‑Team mit jungen Spielern, die bei den großen Klubs aussortiert wurden.
Bis 2006 galt es unter den Bundesligisten als unschicklich, sich gegenseitig Jugendspieler abzuwerben. Dann aber geriet ein hochtalentierter, damals 16 Jahre alter Mittelfeldspieler von Hansa Rostock ins Visier der Bayern: Toni Kroos. Die Münchner erkauften sich Hansas Schweigen mit einer halben Million Euro Kompensation, danach war von einer Solidarität der Ausbilder nie mehr die Rede. Seit 2012 wird der Transfermarkt konsequent in den Jugendfußball vorgezogen. Stuttgarts heutiger Manager Michael Reschke holte der verdutzten Konkurrenz zwei Supertalente nach Leverkusen weg. Für Levin Öztunali vom Hamburger SV und Julian Brandt aus Wolfsburg bezahlte Bayer insgesamt 520 000 Euro Ablöse. Der Marktwert beider Spieler zusammen liegt heute bei gut 35 Millionen Euro.
Die Einkaufspolitik der großen Klubs bringt sogar mittelständische Vereine wie Hannover 96 in die Bredouille. Weil den Niedersachsen ständig die besten Talente weggekauft wurden, wird seither der Eingang zum Nachwuchsleistungszentrum an der Clausewitzstraße von einem Sicherheitsdienst bewacht. Sämtliche Trainingseinheiten aller Jugendteams und der U23-Mannschaft finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Zutritt haben nur die Familienangehörigen der Spieler.
Besonders aggressiv bei der Akquise war in den letzten Jahren RB Leipzig, vor allem nachdem im Jahr 2015 die Akademie am Cottaweg eröffnet wurde. Die Verantwortlichen des Newcomers mussten damals fast aus dem Stand 50 Internatsplätze mit Spitzenspielern füllen und gingen mit dem Staubsauger durch die Nachwuchsleistungszentren der Konkurrenz. Das war aber nur der vorletzte Akt in einer beeindruckenden Materialschlacht, die sich die Klubs seit Jahren liefern. Letzten Sommer setzte sich der deutsche Rekordmeister mit dem FC Bayern Campus an die Pole Position im Nachwuchsfußball. 100 Millionen Euro kostete die Anlage im Norden von München unweit der Arena mit acht Fußballplätzen und einem Mini-Stadion für 2500 Zuschauer, mit Arztpraxis, Mensa und eigener Bushaltestelle.
„Wir haben Steine gebaut. Und jetzt müssen wir den FC Bayern mit Beinen besser machen“, kündigte Vereinspräsident Uli Hoeneß an. Eine schlechte Nachricht für die Konkurrenz, denn schon wieder war ein Konkurrent mit tiefen Taschen unterwegs, der 35 Apartments mit Spielern zu füllen hatte.
Längst hat sich auch dadurch der Wettbewerb um die Talente vorverlegt: Wenn sich alle um die 17-Jährigen balgen, warum nicht gleich die talentiertesten Kinder verpflichten? „Ich bin kein großer Freund davon, Spieler unter 15 Jahren aus ihrem Umfeld zu reißen“, sagt Leipzigs Sportdirektor Ralf Rangnick. Allerdings könne es auch mal Ausnahmen geben. Um den 12-jährigen Offensivspieler Godjes Yeboah vom SC Blaues Wunder Hannover rissen sich Dortmund, Schalke, Bayern, Wolfsburg und Bremen – RB bekam den Zuschlag. Der Junge zog samt Familie nach Leipzig, wo der Vater einen Job bei Porsche vermittelt bekam. Finanzielle Zuwendungen bestreitet der Klub allerdings. „Mit einem Familienumzug mutet man jungen Kerlen möglicherweise zu viel zu“, findet Rangnick, dennoch passiert das heutzutage gar nicht so selten. Auch der FC Bayern verpflichtete zu Saisonbeginn 2017/18 den 14-jährigen Torben Rhein und die Brüder Nemanja und Nikola Motika, 14 und 13 Jahre alt, alle drei von Hertha BSC. Zwar war das Trio angeblich an die Berliner gebunden, aber die Bayern zweifelten die Verträge an. Vermutlich zu Recht, doch um weiteres Aufsehen zu vermeiden, zahlten sie eine niedrige sechsstellige Ablöse.
Etliche Klubs beschweren sich hinter vorgehaltener Hand darüber, dass die Bayern heimlich ihre Talente umwerben. Auch Stefan Reuter, Manager des FC Augsburg, ärgert sich über seinen alten Verein. Mehr als ein Dutzend Spieler holten sich die Bayern aus den FCA-Jugendmannschaften. „Sie gehen auch an ganz junge Spieler, das ist ungut“, sagt Reuter. Die Einkaufspolitik der Bayern-Akademie löst in der Szene auch aus anderen Gründen viel Kopfschütteln aus. „Da fehlt der rote Faden völlig“, sagt ein Experte. Ob es ihn vielleicht doch gibt, war nicht zu klären. Ein versprochenes Interview sagte Bayerns neuer Nachwuchsboss Jochen Sauer, früher Geschäftsführer bei Red Bull Salzburg, kurzfristig ab. Die Presseabteilung, die es bei der Nachwuchsakademie auch gibt, teilte mit, der Klub stehe derzeit für eine Berichterstattung nicht zur Verfügung.
Illegal ist es nicht, was Klubs wie Bayern, Leipzig und andere machen. Es verwandelt Jugendfußball aber in Profifußball für Minderjährige. Auch in der Leverkusener A‑Jugend werden Spitzenspielern mittlere fünfstellige Gehälter bezahlt – im Monat versteht sich. Mittelfeldspieler Sam Schreck, früher mal beim FC St. Pauli, bekommt in Leverkusen angeblich 25 000 Euro im Monat. Julian Brandt soll als Jugendspieler 2014 sogar mit 100 000 Euro bezahlt worden sein. „Man muss den Spielern schon mit 16 Jahren vernünftiges Brot hinlegen“, sagt Jonas Boldt, der Manager von Bayer Leverkusen. Zumal die Klubs in der Not sind, die Verträge so stricken zu müssen, dass die Spieler mit 18 Jahren nicht einfach gehen und die Vereine für ihre Ausbildungsarbeit leer ausgehen. Um die Preise nicht noch weiter hochzutreiben, gibt es inzwischen direkte Absprachen zwischen RB Leipzig und dem FC Bayern, sich keine Spieler abzuwerben. Kleinere Vereine schließt das nicht ein.
Einige Berater geben keine Spieler mehr zu RB Leipzig
Dennoch versuchen gerade die Pioniere der Jugendarbeit radikal, ihren Nachwuchs nicht der Profilogik auszusetzen. Der SC Freiburg zahlt auch heute keinem Spieler mehr als 250 Euro Aufwandsentschädigung im Monat. „Wir versuchen, die Spieler so lange es geht nicht mit dem Geld zu konfrontieren“, sagt Nachwuchschef Steiert. Schließlich gibt es sowieso kaum Gründe dafür, von einem Nachwuchsleistungszentrum zum anderen zu wechseln. Alle sind zertifiziert und viele davon mit drei Sternen, dem Höchstwert.
Mancher junge Kicker hat die Erfahrung gemacht, dass der Erfolgsdruck auf die Trainer bei den großen Klubs so groß ist, dass Spieler viel schneller ausgetauscht werden als anderswo. Aufgrund dieser Ungeduld geben einige Berater keine Spieler mehr zu RB Leipzig. Stefan Reuter glaubt, dass der FC Augsburg vom Heuern und Feuern in München profitiert: „Die vielen Spieler, die vom FC Bayern geholt und wieder weggeschickt wurden, spielen uns natürlich in die Karten.“ Bei ihrer bundesweiten Akquise per Schleppnetz und Scheck holen sich die großen Klubs offensichtlich Probleme ins Haus. „Oft genug sind für Wechsel die Eltern anfällig, die sich vom Geld blenden lassen – oder es sogar nötig haben“, sagt Jörg Jakobs, der bis Ende Januar die Nachwuchsarbeit beim 1. FC Köln verantwortete. Dabei seien Ortswechsel im Jugendalter sehr oft problematisch, meint Jakobs: „Selbst viele 16-Jährige haben richtig damit zu kämpfen, wenn sie von zu Hause weg sind“
Zum Talent eines Spielers gehört es auch zu lernen, den Druck auszuhalten, den ein Berufsfußballer hat. Aber ist es richtig, dass schon Zwölfjährige und ihre Eltern über den richtigen Berater nachdenken müssen? Damit wurde auch Dirk Hebel konfrontiert, als sein Sohn erstmals in der D‑Jugend der Kölner Kreisauswahl mitspielen durfte. Die besten Kicker der Stadt waren nicht mal komplett vertreten, denn Spieler aus dem Nachwuchsleistungszentrum des 1. FC Köln werden nicht in die Auswahl berufen, um anderen Talenten die Plätze nicht wegzunehmen. Doch im Laufe des Spiels gesellte sich ein Bekannter von Hebel zu ihm und fragte: „Bist du auch zum Scouten hier?“
„Ich war erstaunt, dass die so früh anfangen und so tief“
Das war ein so naheliegender wie zugleich völlig abseitiger Gedanke. Hebel ist Mitbesitzer einer der größten Spielerberatungsagenturen in Deutschland. SportsTotal betreut unter anderem Toni Kroos, Marco Reus oder Julian Weigl und hat ein repräsentatives Büro mit Blick auf den Rhein. „Ich war erstaunt, dass die so früh anfangen und so tief“, sagt Hebel und schüttelt den Kopf. Seine Agentur nimmt bis auf wenige Ausnahmen Spieler erst mit 17 Jahren auf, es wurde sogar ein Mitarbeiter entlassen, der wiederholt jüngere Spieler kontaktierte. Erst wenn Verträge über den Nachwuchsbereich hinaus gemacht würden, bedürfe es professioneller Hilfe. „Bis dahin können die Eltern das gut selbst machen,“ findet Hebel. Viele hundert Kollegen von Hebel ohne ähnlich erlesenes Klientel sehen das jedoch anders.
Ortstermin in der Sömmeringhalle in Berlin-Charlottenburg. Mit glühendem Eifer kicken hier die besseren D‑Jugend-Teams um die Berliner Stadtmeisterschaften. Es gibt kaum Fouls, keine Partie gerät aus den Fugen, und die Eltern auf den Rängen begleiten die Spiele begeistert. Und natürlich drängt sich die Frage auf: Welche der besten zwölfjährigen Fußballspieler der größten Stadt Deutschlands werden in sechs oder sieben Jahren mal in der Bundesliga spielen? Auf den Holzbänken sitzen Beobachter, die sich diese Frage professionell stellen. Mit Sicherheitsabstand über die Ränge verteilt, schauen Scouts von RB Leipzig, Werder Bremen und Hannover 96 zu. Dazu kommt noch ein gutes Dutzend Spielerberater oder deren Scouts.
Ihr Platzhirsch ist ein Mann mit blankpolierter Glatze, den alle als Roger kennen. Eigentlich heißt er Ramazan Ülger, der gebürtige Berliner hat es als Fußballspieler mal bis in die zweite türkische Liga geschafft, seit über zehn Jahren arbeitet er als Scout im Jugendfußball, inzwischen fest angestellt bei Dr. Michael Becker. Der Anwalt aus Luxemburg war als Berater mal eine große Nummer, vertrat Michael Ballack und Bernd Schneider zu deren besten Zeiten. Dann quatschte er zu viel und zu laut über die angebliche „Schwulencombo“ bei der deutschen Nationalmannschaft und verlor seine Klienten.
Dann geht der Irrsinn richtig los.
Roger hat den heutigen Hoffenheimer Nadiem Amiri mit 15 Jahren bei Waldhof Mannheim entdeckt und den Stürmer Cem Dag, der im letzten Sommer von Union Berlin zu Borussia Mönchengladbach wechselte – mit 14 Jahren. Einige Jugendtrainer nennen Roger abschätzig „Kinderfänger“. Die Spiele um die Stadtmeisterschaft verfolgt er ziemlich unaufgeregt, es gibt für ihn hier keine großen Überraschungen. „Die meisten Spieler kenne ich schon seit der E‑Jugend“, sagt er, seit sie zehn Jahre alt waren also. Er kontrolliert hier nur, wie die Spieler sich entwickeln, und pflegt an diesem Sonntag sein Netzwerk. Vielleicht hat einer der Jugendtrainer einen Tipp für ihn oder die Telefonnummer der Eltern eines Spielers.
Dass Roger inzwischen immer jüngeren Spielern nachjagen muss, nimmt er achselzuckend: „Man darf nicht schlafen auf dem Markt. Früher hat man die Spieler mit 17 gewonnen, heute geht das viel früher los.“ Rogers Orientierungspunkt ist Bad Blankenburg, wo der DFB jedes Jahr im Sommer ein bundesweites Sichtungsturnier ausrichtet, auch für die U15-Nationalmannschaft, das jüngste Auswahlteam. „Wir versuchen vorher dran zu sein, sonst ist es zu spät“, sagt Roger. In Bad Blankenburg sichten auch die Berater, aber dann schaut nicht ein Dutzend Konkurrenten zu wie in der Sömmeringhalle, sondern über hundert. Dann geht der Irrsinn richtig los.
Eltern bekommen Autos angeboten
Über die Berater im Jugendfußball sprechen fast alle verächtlich, vielleicht auch, weil sie die Logik des Geschäfts unverstellt repräsentieren: Versuche das Los in der Lotterie zu kaufen, solange es noch erschwinglich ist, und hoffe darauf, den Hauptgewinn zu ziehen! Vermutlich bewundern nicht wenige von ihnen die Chuzpe, mit der Huemerlehner einen Spieler bei Chelsea untergebracht hat. Dabei gibt es bis zum 18. Lebensjahr eigentlich nicht mal was zu verdienen, weil die Klubs nicht für Beratung bezahlen dürfen. Doch jeder NLZ-Leiter kennt die kreativen Vorschläge von Agenten, ihre Arbeit als Honorare fürs Scouting zu deklarieren. Oder ein Berater hat auch einen volljährigen Spieler bei dem Klub unter Vertrag und hätte nichts dagegen, wenn das Honorar für den Minderjährigen einfach auf das des Volljährigen draufgeschlagen würde. Merkt ja keiner.
Ralf Keitel hat nicht schlecht gestaunt, als er Geld angeboten bekam, nur ein paar hundert Euro, aber immerhin: „Ein Berater wollte mir Geld geben, damit er meinen Sohn beraten darf.“ Andere Eltern, so erzählt er, hätten schon Autos angeboten bekommen. An sich ist Keitel auf die Spieleragenten gar nicht schlecht zu sprechen, obwohl er fast jedes Wochenende von ihnen angesprochen wird, wenn er mit seiner Kamera bei den Spielen der A‑Jugend des SC Freiburg fotografiert. Sein Sohn Yannick könnte schließlich ein Hauptgewinn werden. Er ist der einzige Spieler seiner Mannschaft, der noch keinen Berater hat, obwohl er mit der deutschen U17 bei der WM in Indien war. Beim SC Freiburg sind sie überzeugt, dass Yannick Keitel es in die Bundesliga schaffen wird.
Ralf Keitel erzählt mit großem Vergnügen davon, mit welchen Techniken ihn Berater unauffällig in Gespräche zu verwickeln versuchen, fast zwanzig von ihnen hat er zu sich nach Hause eingeladen, in Einzelterminen. Yannick war bei den Gesprächen dabei, denn im Grunde organisiert sein Vater ein lang angelegtes Casting für den Fall, dass der Junge wirklich im Profifußball ankommt. Bis dahin jedoch kümmern sie sich um alles noch selbst. „Es ist unsere Freizeitgestaltung geworden, wir fokussieren uns darauf“, sagt Ralf Keitel, der Maschinenbauingenieur ist. Wenn die Mannschaft seines Sohnes spielt, sind seine Frau Kerstin und er fast immer dabei. Unter der Woche bilden sie den Fahrdienst für die halbstündige Strecke zwischen Breisach und Freiburg zum Training. Seit sechs Jahren geht das schon so. Ob Yannick in der Bundesliga landet oder nicht, ob er dort Millionen verdient oder nicht, ist für die Keitels kein Thema.
Auch weil ihnen klar ist, dass sich die meisten großen Träume sowieso nicht erfüllen. Jedes Jahr verlassen über 600 Spieler die deutschen Nachwuchsleistungszentren, und vielleicht 30 von ihnen werden Profis, die zweite und dritte Liga mit einbezogen. Von den 35 Spielern, die vor fünf Jahren in der U19 des BVB standen, spielt keiner in der Bundesliga, drei in der zweiten Liga und einer in der türkischen Süperlig. Fünf Jungs kicken gar nicht mehr. Aus der Mannschaft des FC Bayern von damals ist derzeit ein Spieler Reservist in der zweiten Liga und einer kickt in der österreichischen Bundesliga. Der Rest spielt zumeist viert- oder fünftklassig – wenn überhaupt. Das ist weder untypisch noch ein Drama, denn fast alle haben eine gute Schulausbildung bekommen und was fürs Leben gelernt. Und ihre Altersgenossen in den Turninternaten oder Leistungsschwimmer und Ruderer hatten nicht einmal die theoretische Chance, von ihrem Sport langfristig leben zu können.
„Nur die geistig widerstandsfähigsten Spieler überleben.“
Das Problem ist ein anderes: Die Kommerzialisierung des Jugendfußballs macht die Abstürze größer. Was ist mit dem Jungen, der mit 16 Jahren aus Süddeutschland nach Schalke wechselte und dort 8000 Euro im Monat verdiente und nun wieder daheim am Bodensee bei den Amateuren kickt? Was bedeutet es, wenn ein Kind mehr verdient als seine Eltern und dann der Traum vom Profifußball platzt? Was ist mit den Familien, die mit ihrem 12-Jährigen umsiedeln und mit ansehen müssen, wie er schon zwei Jahre später wieder aussortiert wird?
Neulich hat sich Mehmet Scholl über die Ausbildung der Talente beschwert, oben ankommen würde eine „weichgespülte Masse“. Er beklagte damit einen Mangel an kreativen Paradiesvögeln und eigensinnigen Straßenkickern. Doch ihr Fehlen hat nichts mit den von Scholl gehassten Laptop-Trainern zu tun. „Es reicht nicht, der beste Kicker zu sein“, sagt Kölns ehemaliger Nachwuchsleiter Jörg Jakobs. „Nur die geistig widerstandsfähigsten Spieler überleben.“ Oft genug sind das heute Kinder aus Mittelschichtfamilien wie den Keitels. Von Eltern, die bereit und wirtschaftlich in der Lage sind, sich in den Dienst ihrer Söhne zu stellen. Und die ihren Nachwuchs zumindest etwas vor dem ganzen Irrsinn schützen können. „Die Kinder müssen ein normales Leben führen, das ist das Wichtigste“, sagt Jakobs. Genau das ist inzwischen aber auch das Schwierigste.