Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Wie in anderen KZs wurde auch dort Fußball gespielt. Über das makabre Nebeneinander von Mord und Vergnügen.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #114. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertesz, ein jüdischer Überlebender des Holocaust, hat einst verstörende Worte gewählt, um den Alltag in Auschwitz zu beschreiben: „Es war alles da, verlockend, frisch, in allerbestem Zustand und größter Ordnung.“ In seinem Buch „Roman eines Schicksallosen“ heißt es außerdem: „Wir Jungen haben dann auch gleich gesagt: Na, da spielen wir nach der Arbeit Fußball.“ Man mag es kaum glauben, doch in fast allen deutschen Konzentrationslagern gab es organisierten Sport. „Meist wurde Fußball gespielt“, sagt die Berliner Historikerin Veronika Springmann, „auf extra dafür angelegten Plätzen. In Auschwitz lag der Platz unmittelbar neben dem Krematorium.“
In Theresienstadt gab es sogar eine eigene Liga, die sich „Liga Terezin“ nannte. „Kleiderkammer“ gegen „Ghettowache oder „Köche“ gegen „Hagibor Theresienstadt“, so lauteten dort die Begegnungen. Von dieser Liga gibt es sogar Filmbilder. In einem Propagandafilm mit dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ aus dem Jahr 1944 sieht man das Spiel zweier Mannschaften mit je sieben Spielern. Das Match findet im Innenhof einer früheren Kaserne statt, das Publikum sitzt am Spielfeldrand oder drängelt sich an den Fenstern und Gängen. „Sportbegeisterte Zuschauer feuerten die Mannschaften durch kräftige Zurufe an“, heißt es im Bericht des Schriftstellers Hans Günther Adler, der als Überlebender ein Standardwerk über Theresienstadt geschrieben hat. Und die Historikerin Nicola Schlichting weiß zu berichten: „Einige Mannschaften ließen sich vom Fußball draußen inspirieren, eine hieß Fortuna Köln.“
Sieben gegen Sieben, zweimal 35 Minuten
Einen derart großen Spielbetrieb wie in Theresienstadt hat es in keinem anderen NS-Lager gegeben. In diesem KZ, das die SS als „Musterghetto“ bezeichnete, gab es ab 1943 auch eine von Häftlingen gebildete „Fachgruppe Fußball“, die sich um ein eigenes Regelwerk kümmerte. Das Ergebnis der Diskussionen: Gespielt wurde meist sieben gegen sieben und über zweimal 35 Minuten. Sogar eine eigene Sportzeitung gab es, freilich nur in einer Mini-Auflage von sechs Exemplaren. Der Titel „Rim-Rim-Rim“ war einem Anfeuerungsruf entlehnt, das Blatt wurde von fußballbegeisterten Waisenjungen von 13 oder 14 Jahren auf einer Schreibmaschine erstellt. Neben ausführlichen Fußballberichten waren dort auch Porträts verschiedener berühmter Sportler zu lesen, die in Theresienstadt lebten.
Aber auch wenn es anderswo nicht derart organisiert zuging: In beinahe allen Konzentrationslagern, die das NS-Regime errichtete, gab es ab 1942 sportliche Aktivitäten. Hintergrund war, dass die Nazis mehr und mehr die Arbeitskraft der inhaftierten Menschen benötigten. „Die KZs wurden als Wirtschaftsunternehmen verstanden, und die Rüstungsindustrie brauchte sie“, sagt die Historikerin Springmann. Bis zu dieser Neuausrichtung hatte man in den Lagern unter Sport vor allem demütigende Übungen begriffen, etwa das Robben im Matsch, „Auf und Nieder!“ brüllende SS-Leute, Froschhüpfen oder Entengang. Dann aber bekam er „eine neue Bedeutung“, wie der österreichische Historiker Rudi Leo sagt. So wurde auf Anweisung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, eine Art Prämiensystem für Häftlinge geschaffen, ein System aus „Gunst und Strafe“, wie Veronika Springmann es beschreibt. Und zur Gunst, die die Nazis vor allem jungen, kräftigen und männlichen Häftlingen gewährte, gehörte auch der Sport. In Auschwitz hat Springmann außer für Fußball auch Belege für Handball und Turnen gefunden.
Fußball war allerdings überall der wichtigste Sport. „Die Spiele wurden oft als Länderspiele ausgetragen“, berichtet Springmann. „Reichsdeutsche Häftlinge gegen Polen, gegen Russen, gegen Luxemburger et cetera.“ Im KZ Mauthausen waren beispielsweise viele Spanier gefangen. Hier, wie auch im KZ Dachau, wurden regelrechte Länderturniere veranstaltet. Die Aktiven waren meist Häftlinge. Dass auch Aufseher, also SS-Männer, gegen Häftlinge spielten, ist nicht verbürgt; einzelne Hinweise gibt es aber. Der frühere österreichische Profi Igor Fischer, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat, sagte einmal: „Der Gegner da auf dem Platz war ein ganz spezieller. Er konnte dich auch umbringen. Nicht gleich am Fußballplatz, aber später.“ Im Lagerkomplex Auschwitz, der Vernichtungs- und Arbeitslager zugleich war, spielten meist „Arbeitskommandos“ der Häftlinge gegeneinander. Der Historiker Wolf Oschlies fand allerdings auch Begegnungen wie „Krankenbau“ gegen „Block 15“ oder „Alte Nummern“ gegen „Zugänge“. Oschlies meint: „Dass Kapos und Gefangene in einer Mannschaft spielten, war keine Seltenheit.“ Kapos waren die bei den anderen Häftlingen meist verhassten Funktionshäftlinge, die als verlängerter Arm der SS agierten.
Bis vor kurzem wusste man kaum etwas über die Fußball spielenden Häftlinge in Konzentrationslagern. Erst eine junge Historikergeneration kümmert sich nun um das Thema, das lange als heikel galt. Der Begriff Sport war und ist zumeist positiv besetzt, kaum jemand wollte ihn mit dem Grauen der KZs in Verbindung bringen. „Bei den Historikern zählt der Sport als nichts Wichtiges“, glaubt Springmann. „Und bei den Sportwissenschaftlern ging man immer davon aus, dass der Sport doch irgendwie das Gute ist.“ Eine schöne Sache halt, die schlimmstenfalls von sportfremden Mächten missbraucht wird.
Dabei hatte schon der Publizist Eugen Kogon, einst selbst Häftling in Buchenwald, in seinem Werk „Der SS-Staat“ vom KZ-Sport berichtet. Zur Motivation der Lagerleitung, den Fußball nicht nur zu erlauben, sondern sogar zu fördern, schrieb Kogon: „Die SS scheint es als eine Art Reklameschild für den guten Zustand und die prachtvolle Laune der Häftlinge angesehen zu haben.“ Freilich konnten und durften nur die wenigsten Häftlinge kicken. Kogon berichtet, dass „anfangs auch eine Judenmannschaft“ mitspielte, „die aber später verboten wurde“. In Buchenwald, zum Beispiel, bildeten die politischen Gefangenen das beste Team.
„Da hat mir der Fußball das erste Mal geholfen“
Doch es gab auch einige wenige Fälle, in denen jüdische Fußballer von ihrem Talent profitierten. So wurde der österreichische Profi Ignaz Feldmann in Westerbork, einem Nebenlager von Auschwitz, von einem SS-Unterscharführer erkannt. Der SS-Mann hatte bei Austria Wien gespielt, Feldmann beim erfolgreichen jüdischen Rivalen Hakoah Wien. Dieser Umstand machte aus Feldmann einen Protegé der SS. Der Österreicher Fritz König, Sohn eines jüdischen Arbeiters und damit für die Nazis ein „Halbjude“, kickte in den dreißiger Jahren als großes Talent unter anderem für die Jugendmannschaft des renommierten SC Red Star Wien. Als König später in Buchenwald interniert wurde, „da hat mir der Fußball das erste Mal geholfen“, wie er sich in einem Interview erinnerte. Damit er fit blieb, erhielt er einen halbwegs angenehmen Job in der Wäscherei. Wie wenig Häftlinge allerdings das Privileg Fußball genießen durften, wird an einer Zahl aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg deutlich. Von 14 000 Gefangenen durften gerade mal 60 Fußball spielen. In Buchenwald mit seinen bei Kriegsende über 80 000 Häftlingen hat es ganze zwölf Mannschaften gegeben. Der Auschwitz-Überlebende Andreas Sarasopa berichtet, nur die privilegierten Funktionshäftlinge hätten spielen dürfen. „Die Jüngeren oder Schwächlicheren haben ja nach der Ankunft das Lager schon wieder auf dem üblichen Weg, über den Schornstein, verlassen.“
Die verstörende Nähe vom unendlichen Grauen des KZs und dem unschuldigen Spaß eines Fußballspiels wird auch beim polnischen Schriftsteller Tadeusz Borowski deutlich. Er schreibt in seiner autobiografischen Erzählung „Menschen, die gingen“, wie er während einer Spielunterbrechung in Auschwitz plötzlich eine große Gruppe sieht, die von einem gerade eingetroffenen Zug zur Selektionsrampe geführt wird. Borowskis Ich-Erzähler holt den Ball, der nach einer Ecke ins Aus geflogen ist. „Als ich ihn aufhob, erstarrte ich: Die Rampe war leer. Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken 3000 Menschen vergast.“ Wie ein Fußballplatz von der SS zur Selektion der Häftlinge benutzt wird, beschreibt dagegen Andreas Sarasopa: „Plötzlich kommt eine Latte zum Vorschein, die quer in etwa 1,60 Meter Höhe seitlich am Fußballtor angenagelt wird.“ Jugendliche müssen darunter hergehen, denen man sagt, dass die Kleinsten von ihnen zur Kartoffelernte gebracht würden. „Dann geschieht etwas völlig Unerwartetes. Die fast als gemütlich zu bezeichnende Szene wechselt abrupt. Wie aus dem Nichts tauchen weitere SS-Männer, diesmal mit Hunden, auf.“ Die Jugendlichen, die sich auf eine Abwechslung als Erntehelfer freuen, werden mit Knüppeln und Hunden weggetrieben. „Es fand soeben eine getarnte Selektion für die Gaskammern statt.“
Mord und Vergnügen existierten auf engstem Raum nebeneinander. Odd Nansen, der Sohn des norwegischen Friedensnobelpreisträgers Fridtjof Nansen, notierte in sein Tagebuch aus dem KZ Sachsenhausen: „Während der Fußballkampf am schlimmsten tobte, kamen zwei Gefangene, die eine Leiche auf einer Bahre trugen. Sie setzten die Leiche hin, zündeten ihre Stummel an und begannen, dem Kampf zu folgen. Als der spannende Augenblick vorbei war, gingen sie zur Leiche zurück und setzten den Transport zum Leichenhaus fort.“
Als Zuschauer der KZ-Spiele fanden sich Häftlinge und SS-Leute gleichermaßen ein. Genaue Zuschauerzahlen seien nicht bekannt, sagt Veronika Springmann, „aber wenn man die Berichte liest, hat man den Eindruck, als müssten es viele gewesen sein“. In Theresienstadt, wo im Innenhof einer früheren Kaserne gespielt wurde, waren es gut und gerne dreitausend Menschen. Dabei war die erste Balkongalerie der SS vorbehalten. Über Auschwitz berichtet Wolf Oschlies: „Die SS schaute den Spielen interessiert zu, bedrohte aber gelegentlich den polnischen Tormann, wenn dieser bei Spielen gegen ›deutsche‹ Mannschaften allzu gut hielt.“ Ähnliche Beobachtungen hat Springmann gemacht. „Die deutschen Häftlinge wurden quasi als Vertreter Deutschlands wahrgenommen. Als eine polnische Mannschaft gewann, war das, als ob Polen den Krieg gewonnen hätte.“
NS-Opfer Julius Hirsch
Gerade aus Polen waren etliche Spitzenfußballer von den Nazis interniert worden. Czeslaw Sowul etwa hatte vor dem Krieg beim Erstligisten Garbana Krakow gespielt. Doch auch Spieler tschechischer und österreichischer Erstligisten befanden sich in den Lagern. Jirka Tesar war einst Torwart der tschechischen Jugendnationalmannschaft gewesen, Jan Burka erhielt nach der Befreiung Angebote von mehreren europäischen Spitzenklubs, wanderte aber nach Kanada aus und wurde ein bekannter Künstler. Ob ein NS-Opfer wie der deutsche Nationalspieler Julius Hirsch, der vermutlich 1943 als 51-jähriger in Auschwitz ermordet wurde, dort ebenfalls Fußball gespielt hat, ist nicht bekannt. Auch vom in Auschwitz ermordeten Weltklassespieler Arpad Weisz kennt man dieses Detail seines Lebens nicht.
Im Kibbuz Givat Chaim in Israel haben Überlebende des KZ Theresienstadt eine Gedenkstätte errichtet. Dort findet sich auch eine Ausstellung über die „Liga Terezin“. Im Oktober 2010 fand in Givat Chaim ein Erinnerungsturnier statt, die Mannschaften hießen so wie damals im Ghetto: Arsenal etwa spielte gegen Maccabi Prag – in Theresienstadt waren das ein Team von Fans des englischen Fußballs und eine Mannschaft tschechischer Juden gewesen. Das Turnier ging auf die Initiative des Leiters der Gedenkstätte, Oded Breda, zurück; sein Vater Moshe Breda war einstmals Fußballer in der „Liga Terezin“ gewesen. Mit dabei in Givat Chaim war auch Peter Erben, einer der letzten noch lebenden Fußballer der „Liga Terezin“, der auch im Film „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ zu sehen ist. Erbens Team war damals die Jugendfürsorge gewesen. Sie hatte 1944 die Spieler von Hagibor Theresienstadt mit 14:1 besiegt. Im Jahr 2010 gelang der Jugendfürsorge lediglich ein 3:1‑Erfolg.
Tadeusz Borowski, der polnische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende, formulierte das Dilemma des Nebeneinanders von Tod und Spielen einst so: „Gewiss, ein Leben im Lager, aber doch – Leben.“ 1951 brachte er sich um.