Liverpool und Manchester City liefern sich ein packendes Meisterschaftsrennen. Dabei schien das vor wenigen Wochen eigentlich schon beendet.
In England gibt es ein Sprichwort: „It ain’t over till the fat lady sings“. Seinen Ursprung hat es in der Welt der Oper, wo einst ein Kritiker sagte, die Aufführung sei erst zu Ende, wenn die Opernsängerin, die „Fat Lady“, ihr Solo beendet habe. Heute hat das Sprichwort seinen Weg in den Alltagsgebrauch vieler Engländer gefunden. Es ist vergleichbar mit dem sprichwörtlichen Tag, den man im Deutschen nicht vor dem Abend loben soll. Oder mit dem Spiel, das erst zu Ende ist, wenn der Schiedsrichter abpfeift. Oder eben mit dem Meisterschaftsrennen in der Premier League, das erst entschieden ist, wenn auch wirklich der letzte Spieltag absolviert wurde. Um im Bild zu bleiben: In knapp vier Wochen wird die korpulente Dame gesungen haben, am 22. Mai um genau zu sein. Vermutlich steht erst dann fest, wer sich zum Premier-League-Champion kürt. Nach der 4:0‑Gala des FC Liverpool gegen Manchester United am Dienstagabend ist diese Frage offener denn je in dieser Saison. Dabei schien sie vor nicht allzu langer Zeit bereits beantwortet.
Gerade einmal drei Monate ist es her, da sprach die Tabelle der Premier League eine eindeutige Sprache. Manchester City thronte mal wieder auf dem Platz an der Sonne, komfortable neun Punkte trennten die Citizens von Verfolger Liverpool. Wobei das Team von Jürgen Klopp mehr ein Verfolgerchen zu sein schien. Immer wieder streute der LFC kleine Ausrutscher in eine zweifellos gute Saison ein, das 0:1 gegen Leicester City im Januar schien der nächste Beweis dafür zu sein, dass das Team nicht in der Lage ist, die gnadenlose Konstanz an den Tag zu legen, die für den Meistertitel nötig ist.
Demgegenüber stand ein himmelblauer Gegner, der die Ausgeburt ebenjener Konstanz zu sein schien. Die Ergebnismaschine von Pep Guardiola lief auf Hochtouren und viele englische Experten, darunter auch der ehemalige Liverpool-Spieler Jamie Carragher, mussten sich eingestehen, dass ein wirklicher Meisterschaftskampf bis zum Schluss in dieser Saison wohl nicht mehr zustandekommen würde. „So sehr ich es ihnen auch wünsche, aber der Titel wird dieses Jahr nach Manchester gehen“, sagte Carragher. Doch dann, pünktlich zum Start der wichtigsten Saisonphase – in England heißt sie „Crunchtime“ – schaffte Liverpool den Sprung von einer fast aussichtslosen zu einer sehr guten Ausgangsposition im Titelrennen. Ein Sprung, der vor allem mit einem Namen verbunden ist: Jürgen Klopp.
Klopp hat es mal wieder geschafft, seine Mannschaft zur wichtigsten Saisonphase auf den Zenit ihrer Leistung zu führen. In der Zeit, in der die Pokale vergeben werden und die Top-Teams im Drei-Tages-Rhthymus auch ihre Top-Leistung abrufen müssen, formte Klopp aus seiner Mannschaft wieder die Offensiv- und Pressingmaschine, die sie in den vergangenen Jahren gewesen ist und die 2019 und 2020 in beeindruckender Manier zum Champions-League-Sieg und zur englischen Meisterschaft gestürmt ist. Seit der angesprochenen Pleite gegen Leicester haben die Reds nicht mehr verloren und dabei in der Liga nur fünf Gegentore kassiert. Im FA Cup zog das Team durch einen 3:2‑Sieg über Manchester City ins Finale ein, den League Cup durfte Kapitän Jordan Henderson bereits Ende Februar in die Höhe recken. Auch in der Champions League zog Liverpool gegen Benfica Lissabon letztlich souverän ins Halbfinale ein, womit die Reds eine realistische Chance auf einen Titelgewinn in gleich vier Wettbewerben haben. Wenngleich Klopp dieses Szenario als unwahrscheinlich einstuft: „Man kann nicht in vier Wettbewerben um Titel kämpfen, das ist unmöglich.“ Und dennoch zählt seine Mannschaft in allen vier mittlerweile zu den Topfavoriten. Diese Ambition konnte der LFC jetzt durch den 4:0‑Statement-Sieg gegen den anderen Rivalen aus Manchester, nämlich United, eindrucksvoll untermauern – und damit den Druck in den östlichen Teil Manchesters weitergeben.
Dieser Druck herrscht dort nun allerdings nur, weil auch Manchester City einen erheblichen Teil dazu beigetragen hat, dass der LFC vier Wochen vor Schluss noch munter im Titelrennen mitmischt. Denn in den vergangenen Wochen schlichen sich kleine Patzer in die Ergebnisse der Skyblues ein. Vor allem ein 0:0 bei Crystal Palace und eine 2:3‑Niederlage gegen Tottenham sind hier zu nennen. Ergebnisse, die über eine Saison hinweg verschmerzbar sind, aber in der angesprochenen Crunchtime fatale Folgen haben können. Die kurzfristigen Folgen für City sind in diesem Fall, dass das Neun-Punkte-Polster aus dem Januar weg ist und die Mannschaft sich solche Ausrutscher in der restlichen Saison eben nicht mehr erlauben kann.
Was außerdem auffällt: In den vergangenen Wochen tut sich die Mannschaft immer wieder schwer, Lücken gegen tief stehende Gegner zu finden. Gleichzeitig legt sie eine gewisse Anfälligkeit gegenüber Kontern an den Tag. Belege sind neben der Tottenham-Pleite die Champions-League-Spiele gegen Atletico Madrid (1:0, 0:0), sowie die 2:3‑FA-Cup-Niederlage gegen Liverpool. In letzterem Spiel geriet Pep Guradiola in die Kritik, da er Pokaltorhüter Zack Steffen auch gegen das Spitzenteam aus Liverpool aufstellte. Steffen unterlief prompt ein folgenschwerer Fehler. In den Medien hieß es: „Pep erntet, was er säht.“ Es scheint, als würde Taktik-Genie Guardiola vor der entscheidenen Saisonphase mal wieder ins Experimentieren und Nachdenken geraten. In beiden englischen Pokalwettbewerben sind die Citizens bereits ausgeschieden, in der Champions League wartet mit Real Madrid ein echter Brocken – das berühmte Momentum, es scheint aktuell rot gefärbt zu sein.
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Das größte Plus des FC Liverpool scheint in den letzten Wochen der breite Kader zu sein. So kann Klopp munter rotieren, ohne einen Qualitätsverlust hinnehmen zu müssen. Aus dem einstigen „Magischen Trio“ im Sturm, bestehend aus Sadio Mané, Mo Salah und Roberto Firmino ist durch die Verpflichtungen von Luis Diaz und Diogo Jota längst ein Quintett geworden. Auch im Mittelfeld steht Klopp regelmäßig vor der Wahl zwischen Jordan Henderson, Fabinho, Thiago, Naby Keita, James Milner und Curtis Jones. Dazu kommt, dass Klopp es schafft, den mit Superstars gespickten Kader voll mitzunehmen. Von außen betrachtet wirkt es, als würde jeder sein Ego hinten anstellen, um den maximalen Erfolg der Mannschaft zu garantieren. Wie es aussieht, ist es Klopp wieder einmal gelungen, eine Wagenburg zu bilden, die immun gegen Druck und äußere Einflüsse zu sein scheint.
Das Liga-Duell Anfang April der beiden Teams endete, wie sollte es auch anders sein, 2:2. Eine mögliche Vorentscheidung des Titelrennens musste somit ausfallen. Dennoch konnte das Spiel als Beweis dafür angeführt werden, auf welch hohem Level die beiden Mannschaften performen, wie gut die Roten und die Blauen Fußball spielen können. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, dass beide Trainer nach dem Spiel aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. Während Klopp von „Rock ’n’ Roll“ sprach, bescheinigte Guardiola dem Spiel ein „Top-Top-Level“.
Blickt man auf die Restprogramme beider Teams, fällt auf, dass diese einander durchaus ähneln. Während Liverpool bei sechs ausstehenden Spielen mit Ausnahme des FC Chelsea nur auf Mannschaften aus unteren Tabellenregionen trifft, hat Manchester City bis auf die Ausnahme Aston Villa ebenfalls auf dem Papier machbare Aufgaben vor sich. Hier gilt für beide in den kommenden Wochen: Verlieren verboten. Auch die Champions-League-Belastungen sind für beide gleich hoch, schließlich wartet für beide ein Auswärtsspiel in Spanien. Das FA-Cup-Finale des FC Liverpool findet außerdem erst Mitte Mai statt, bis dahin können sich die Reds also voll auf die Liga konzentrieren. Es scheint also, als würde der Titelkampf in der Premier League wirklich erst an den allerletzten Spieltagen entschieden werden. Oder eben erst dann, wenn die „Fat Lady“ auch wirklich gesungen hat.