Monate voller Geisterspiele sind schon für ganz normale Fans kaum zu ertragen. Aber was ist mit den Allesfahrern, für die zum Teil jahrzehntelange Serien enden? Wir haben sechs von ihnen gefragt.
Protokolle: Jonah Bleuel, Michael Eham, Lotti Hermel, Uli Hesse und Veit-Luca Roth
Fotos: Dominik Asbach, Dirk Bruniecki und Patrick Runte
Die Protokolle sind erstmals in 11FREUNDE #228 erschienen. Das Heft findet ihr bei uns im Shop.
„Irgendwann wird Allesfahren zu einem Zwang“
Meine Serie stand bei 870 Partien in Folge. Das waren aber nur Meisterschaftsspiele. Ich war zwar auch bei all diesen Begegnungen im Niederrheinpokal, zu denen Fortuna bloß die zweite Mannschaft schickte, aber gezählt habe ich die nicht. Mein letztes verpasstes Spiel war auswärts beim FC St. Pauli. Das Datum war der 27. März 1995, ein Montag. Damals bekam ich in meiner Filiale – ich bin von Beruf Banker – nicht frei. Also habe ich mich krank gemeldet. Ich wollte gerade losfahren, als meine damalige Freundin mich tränenüberströmt anrief. Sie war zugleich meine Arbeitskollegin und sagte, die Filiale hätte mich auf dem Kieker. Man würde mich entlassen, wenn ich nach Hamburg fahren würde. Also blieb ich daheim und holte meine Freundin demonstrativ von der Arbeit ab, damit mich alle sehen konnten. Später habe ich die Filiale gewechselt, damit das nicht noch mal passiert. Denn irgendwann wird Allesfahren zum Zwang. Man wächst langsam rein, weil vor allem Auswärtstouren ja viel Spaß machen, und kann dann nicht mehr aufhören. Meine ganze Familie hat mal wochenlang kein Wort mit mir gewechselt, weil ich nicht Patenonkel meines Neffen werden konnte. Die Taufe war an einem Spieltag.
Meine Serie hätte oft reißen können, vor allem am Anfang, als die Planung noch nicht so ausgereift war. Wir standen mal auf dem Weg nach Nürnberg im Stau und sind schließlich über den Standstreifen gebrettert, um zehn Minuten nach Anpfiff im Stadion zu sein. Ich weiß noch, wie ich mich eines Tages in Bocholt mit unserem Pressesprecher unterhielt. Damals stand meine Serie bei 300 Spielen, und er meinte, ich würde die 1000 sicher schaffen. Ich antwortete: „Weißt du, wie schwer das ist? Was alles passieren kann?“ Aber danach wurden die 1000 irgendwie zu meinem Ziel. Ich hätte dann natürlich nicht aufgehört, es sollte nur eine Etappe sein. Im Januar oder Februar 2024 wäre es so weit gewesen. Aber daraus wird nun nichts, denn am 16. Mai 2020 sprang mein Zähler von 870 auf 0. Ich hätte sicher überlegt, wie ich mich gegen Paderborn reinschleichen kann, wenn abzusehen gewesen wäre, dass es nur ein oder zwei Geisterspiele geben würde. Aber dem war ja leider nicht so. Es ist schon schade, dass es vorbei ist, doch die Zeit heilt alle Wunden. Der Anfang war hart – beim Paderborn-Spiel musste ich alleine vor dem Fernseher sitzen, weil nicht abzusehen war, wie ich reagieren würde. Inzwischen kann ich mit all dem halbwegs umgehen.
„In der Saison 1983/84 habe ich mal ein Spiel verpasst“
Ich bin seit 1963 Fan des TSV 1860, die Dauerkarte habe ich mir wenige Jahre später gekauft. Bis auf ein Spiel in der Bayernliga hatte ich seitdem keine Partie mehr verpasst. Das war in der Saison 1983/84, da musste ich arbeitsbedingt auf eine Messe. Ansonsten bin ich überall hin mitgereist: China, Abu Dhabi, Kanada, Korea. Auch zu Freundschaftsspielen, Trainingslagern und Hallenturnieren bin ich gereist. Von Zeit zu Zeit wurde es eng, manchmal hätten wir das Spiel fast verpasst. Auf der Autobahn nach Dortmund ist mal ein Kieslaster umgekippt. Wir standen ewig im Stau, konnten aber wenigstens noch die letzte halbe Stunde im Stadion sehen.
Wirklich brenzlig wurde es beim Hallenpokal 1996 in Dortmund. Sechzig hat dafür nur 51 Karten bekommen. Da fiel mir ein, dass ich einige Jahre vorher mal in einer Fernsehsendung gewesen war. Es ging um 1860 in der Bayernliga, die Bedeutung der Zuschauer und die Zukunft des Vereins. Wolfgang Niersbach, dem damaligen Pressesprecher des DFB, gefiel die Sendung und er schrieb mir daraufhin, wenn ich jemals etwas vom DFB benötige, sollte ich mich bei ihm melden. Niersbach war dann 1996 in München beim Qualifikationsturnier zum Hallenpokal vor Ort. Sechzig hat das Turnier gewonnen, obwohl keiner damit gerechnet hatte. Nach der Siegerehrung habe ich Niersbach auf das Kartenkontingent für Dortmund angesprochen. Er sagte: „Der DFB hat leider keine Tickets mehr. Wir haben die 51 Stück schon Präsident Karl-Heinz Wildmoser gegeben.“ Zu dem bin ich dann hin und habe acht Tickets bekommen.
Damit ich kein Spiel verpasse, habe ich mich für die letzten zehn Berufsjahre sogar vertraglich absichern lassen. Mit meinem Geschäftsführer haben wir eine Klausel in den Vertrag eingefügt, die besagt, dass ich mir immer Urlaub nehmen kann, wenn Sechzig spielt. Bis jetzt … Mein letztes Punktspiel war am 7. März gegen Jena. Die Zuschauer protestierten wegen Hopp, aber von Corona war eigentlich noch keine Rede. Eine Woche später durften wir schon nicht mehr ins Stadion. Das geht nun mittlerweile ein halbes Jahr so, denn in Bayern ist wirklich gar nichts möglich. Es ist schwer, die Enttäuschung im Zaum zu halten. Ich will auch keine Pläne machen, denn man weiß nicht, wie der DFB die Regelungen gestaltet. Sich etwas erhoffen und dann in den Keller fallen – dazu habe ich keine Lust. Also nehme ich mir im Moment nichts vor und schaue die Spiele im Fernsehen. Aber der Fußball, den man dort sieht, hat mit dem im Stadion nichts zu tun.
„Für mich gehört zum Fußball ein volles Stadion“
Seit ich denken kann, bin ich Dortmund-Fan. Das ist eben mein Heimatverein. Mittlerweile habe ich über 2100 Spiele des BVB gesehen und bin eigentlich noch lange nicht müde. Angefangen hat alles mit der Partie gegen den MSV Duisburg im Jahr 1965. Die Namen der Spieler weiß ich noch heute. Es war fast die Elf, die 1966 dann den Europapokal holte, nur Aki Schmidt war leider nicht dabei. Ansonsten bin ich eh ein wandelndes Lexikon über Borussia Dortmund. Seit der Verein 1974 ins Westfalenstadion umgezogen ist, war ich bei jedem Heimspiel dabei. Auswärts fahre ich auch zu praktisch jedem Spiel mit. Nur nach Gelsenkirchen und Leipzig nicht. Diese Vereine möchte ich nicht unterstützen, vor allem weil Leipzig nichts anderes als eine Produktwerbung ist.
Ich habe in meiner Zeit so viel gesehen. Ob mit dem Wohnmobil nach Rumänien oder mit dem Zug nach Donezk: Ich war überall dabei. Exotisch war auch meine Reise nach Tokio zum Weltpokal-Finale. Einmal war ich in Glasgow und musste am nächsten Tag arbeiten. Wegen des Nachtflugverbots konnte der Flieger nicht mehr starten und wir flogen erst am nächsten Morgen los. Ich bin direkt, in voller Fan-Montur, zur Arbeit gegangen und alle haben mich angestarrt. „Wo kommst du denn her?“, fragten sie. „Na, aus Glasgow, woher denn sonst?“ Meinen Urlaub habe ich immer nach den Spielen der Borussia ausgerichtet. Was mich reizen würde, wäre eine Auswärtsfahrt nach Irland. Das habe ich mit Dortmund nämlich noch nicht erlebt.
Als ich von der Saisonunterbrechung hörte, hoffte ich noch auf eine komplette Absage. Mir wäre es am liebsten gewesen, sie hätten gar nicht mehr gespielt. Der Fußball entwickelt sich dermaßen weg von den Fans, das nervt mich sehr. Mit den Geisterspielen kam für mich der Punkt, mich komplett vom Fußball abzuwenden. Die Partien habe ich auch nicht im Fernsehen verfolgt, nur die Zusammenfassungen in der Sportschau. Es gab zwar spaßeshalber die Überlegung mich als Balljunge zu bewerben, um vielleicht doch ins Stadion zu kommen, aber in meinem Alter war das Unternehmen aussichtslos. Hinzu wäre dann auch noch eine Quarantäne gekommen, weil ich nicht in Nordrhein-Westfalen lebe, sondern im niedersächsischen Osnabrück. Auch in der neuen Saison habe ich für mich den Entschluss gefasst, dass der Fußball zurzeit komplett überflüssig ist. Für mich gehört zum Fußball ein volles Stadion, und das passiert wohl erst, wenn es einen Impfstoff gibt. Vorher gehe ich nicht ins Stadion. Ganz oder gar nicht.
„Ein Tag hin, ein Tag zurück: eigentlich Wahnsinn“
Ich bin sauer auf die DFL und ihre Entscheidung pro Geisterspiele. Seit 1999 war ich bei jeder Partie des 1. FC Nürnberg. Bis auf eine: die Wiederholung gegen Alemannia Aachen im Januar 2004. Es war das erste Geisterspiel im deutschen Profifußball, deswegen konnte ich nicht hin. Aber bei der regulären ersten Partie war ich im Stadion, deswegen zählt das schon als durchgängige Serie. Ich habe keine Groundhopper-App oder führe Buch über meine Spiele, es waren aber bestimmt 1000 Stück. In den zwanzig Jahren gab es einige Highlights. Vor allem das Pokalfinale 2007 in Berlin. Auch die UEFA-Cup-Spiele danach waren klasse. Einmal sind wir einen ganzen Tag mit dem Bus nach Bukarest gefahren – und einen Tag wieder zurück. Für ein einziges Spiel. Eigentlich Wahnsinn, wenn man darüber nachdenkt. Die Reise nach Sankt Petersburg habe ich daraufhin lieber mit dem Flugzeug gemacht. Auswärts ist der Zusammenhalt stärker, dabei entstehen Freundschaften. Wenn man krasse Fahrten macht, wie etwa nach Kiel, als es nachts um drei Uhr losging, sind eben nur Menschen dabei, die wirklich zum Verein stehen.
Leider war nichts zu machen, bei unseren Geisterspielen doch irgendwie ins Stadion zu kommen. Anfangs dachte ich noch, dass ein Abbruch total okay wäre, vor allem als es bei Dynamo Dresden Corona-Fälle gab. Dadurch stiegen die Dresdner noch später ein und mussten quasi alle drei Tage spielen. Das war in meinen Augen Wettbewerbsverzerrung. Ein Saisonende wäre besser und logisch gewesen. In dieser Zeit fand bei mir eine Entfremdung vom Fußball statt. Die Spiele der Clubberer habe ich nur im Liveticker am Handy verfolgt. Ich habe die Übertragungen bewusst boykottiert, denn Fußball ist kein Fernsehprodukt. Selbst bei der Relegation war ich nicht vor dem Fernseher, sondern in Prag, bei einem Spiel von Dukla. Als ich gesehen habe, dass Ingolstadt 3:0 führt, war ich aber den Tränen nahe. Es ging schließlich um die Existenz des Vereins. Bei unserem Tor in der Nachspielzeit jubelten wir zu dritt in einem Park und schrien vor Freude, bis uns die Anwohner schräg anschauten.
Obwohl das erste Spiel der neuen Saison auswärts in Regensburg stattfand, bin ich durch Kontakte an Karten gekommen. Aber alles regelkonform, sozusagen als neutraler Fan. Es hat sich etwas komisch angefühlt. Trotzdem freute ich mich natürlich, wieder im Stadion zu sein. Es fehlt zwar noch viel zur Normalität, aber es ist besser als nichts.
„Eigentlich wäre ich auf der Autobahn. So wie immer“
Als es im März hieß, es dürften keine Fans mehr ins Stadion, konnte ich es erst überhaupt nicht glauben. Es wirkte surreal. Der HSV sollte in Fürth spielen, da habe ich noch zum Spaß gesagt, dass ich mir dann eben einen Presseausweis organisieren und trotzdem hinfahren würde. Die Partie wurde schließlich abgesagt. Um ehrlich zu sein, die Pause danach hat mir sogar ganz gut gepasst. Meine Freundin zog zu der Zeit gerade bei mir ein, und es musste einiges erledigt werden. Am Tag des ersten Geisterspiels musste ich arbeiten und dachte noch: Eigentlich wäre ich jetzt auf der Autobahn, wie immer.
Die Leidenschaft für den HSV packte mich im Sommer 1974. Als die Saison nach der WM begann, fuhr ich regelmäßig mit der U‑Bahn zur Geschäftsstelle und kaufte Karten für meine Freunde und mich. Eine Schülerkarte kostete fünf Mark, ich habe das Geld immer ausgelegt. Meistens bekam ich es auch zurück, doch ich bin auch oft darauf sitzengeblieben. Ein Jahr später fuhr ich erstmals mit zu einem Auswärtsspiel, anfangs unregelmäßig, aber ab 1977 war ich bei jedem Spiel dabei. Für das Finale im Europacup gegen Anderlecht im selben Jahr musste ich die Schule schwänzen, das ging nicht anders, obwohl ich die Schule immer sehr ernst genommen habe.
Als ich meinen Führerschein hatte, habe ich meine beiden Brüder einfach mit ins Auto gesetzt und ebenfalls infiziert. Von da an sind wir zusammen zu jedem Spiel gefahren. Nach dem Abitur war ich beim Bund, da musste ich manchmal ein bisschen tricksen. Während der Grundausbildung hatte man um 22 Uhr auf der Stube zu sein, keine Ausnahme. Einmal spielte der HSV unter der Woche zu Hause gegen Eindhoven. Das Spiel begann um 20 Uhr, deshalb wollte ich nach der ersten Halbzeit wieder zur Kaserne fahren. Wie der Zufall es wollte, war mein Auto allerdings zugeparkt, und ich kam nicht weg. Ich sah einen Polizisten in der Nähe und schilderte ihm mein Problem. Er hatte auch keine Antwort parat, bot mir jedoch seine Visitenkarte an: „Zeig die deinem Chef. Wenn es Ärger gibt, soll er mich anrufen.“ Mir hat das eigentlich ganz gut gepasst, so konnte ich die zweite Halbzeit ja auch noch im Stadion verfolgen. Nach dem Spiel kam ich natürlich viel zu spät wieder zurück, am nächsten Morgen sollte ich dann zum Rapport erscheinen. Ich gab meinem Vorgesetzten die Karte des Polizisten. Zu meiner großen Überraschung beließ er es daraufhin bei einer Ermahnung.
„Aus der Notaufnahme direkt zum Spiel“
Alles fing mit dem Pokalsieg 1992 an. Seitdem habe ich jedes Pflichtspiel von Hannover 96 im Stadion gesehen. Einmal wäre die Serie fast gerissen. Vor einem Spiel gegen Hamburg hatte ich hohe Blutwerte und kam in die Notaufnahme. Ich sollte übers Wochenende dort bleiben, aber das war nicht auszuhalten. Am Samstag habe ich mich entlassen und gesagt, ich käme am Montag wieder. Am folgenden Wochenende spielte 96 in Bielefeld. Vom Krankenhaus waren das 50 Kilometer. Also habe ich gefragt, ob ich nach Hause darf, um frische Klamotten zu holen. Dann bin ich zum Spiel und von dort direkt wieder ins Krankenhaus.
Tatsächlich gerissen ist meine Serie am 23. Mai gegen Osnabrück. Mein Team nur im Fernsehen zu verfolgen, kann ich nicht ab. Am vorletzten Spieltag bin ich sogar bis nach Aue gefahren, weil ich es nicht mehr aushielt. Ich kannte das Stadion und wusste, dass ich durch den Gästeeingang beide Tore sehen kann. Ich habe nicht viel vom Spiel mitbekommen, aber konnte immerhin ein bisschen Stadionluft schnuppern. Zurück im Stadion war ich am ersten Spieltag der neuen Saison. Es war ein Schock, dass nur 500 Zuschauer und auch nur VIP-Gäste erlaubt wurden. Laut 96-Homepage kostete das günstigste VIP-Ticket 3000 Euro, denn die gibt es nur für alle Heimspiele. Um im Stadion zu sein, habe ich sie gekauft.