Seit 1995 starben über 70 Fans im indonesischen Fußball. Jede Auswärtsfahrt könnte deshalb für die Ultras von Persija Jakarta die letzte sein. Ein Roadtrip durchs Kriegsgebiet.
Kilometer 243. Der Bus brettert mit 100 km/h über den Highway, als der Stein – es ist der fünfte oder sechste Angriff der Nacht – im letzten Fenster einschlägt. Während die meisten Persija-Ultras auf die Felder rennen, kehren andere die Scherben zur Seite.
Vor einigen Jahren wurde ein Waffenstillstand von den führenden Köpfen der rivalisierenden Fangruppen vereinbart. „Aber wie soll man zehntausende Fans kontrollieren?“, fragt Diky Soemarno. Der 30-Jährige ist Generalsekretär bei Jakmania, der Dachorganisation aller Persija-Fans. Auf seinem T‑Shirt steht „Sleep, Eat, Persija, Repeat“. Anders als die meisten in dem Konvoi spricht er fließend Englisch und hat einen gutbezahlten Job bei einer südkoreanischen Internetfirma. Er ist selbst Vater, sein Sohn ist fünf Jahre alt und heißt Mikael Zola Adidas. Zola wegen des ehemaligen Chelsea-Spielers, Adidas, nun ja, wegen Adidas. Das erste Mal war Diky im April 1998 bei einem Spiel von Persija, kurz vor dem Ende des Suharto-Regimes. Einen Tag später wurde er Mitglied bei Jakmania. Danach tauchte auch er tief ein in die Welt des Internets, und am liebsten verlor er sich auf Seiten der argentinischen Barra Bravas, die nach den Toren an den Zaun rennen und in Ekstase geraten. Dann sah er Ende der Neunziger beim indonesischen Klub Arema Malang die ersten Choreos und dachte, so etwas bräuchten sie auch bei Persija.
„This is Indonesia! Du kannst die Dinge nicht logisch erklären!“
Diky ist ein smarter junger Mann und kann sich gewählt ausdrücken. Er mag Musik von Coldplay, er war schon in Singapur und Thailand. Bald möchte er nach Japan. Wie die anderen glaubt er an Gott, an die Hölle und den Himmel. Aber er driftet wie die anderen gerne in Kriegsrhetorik ab. Er sagt, er sei ein guter Kämpfer. Oder dass er nicht mehr nach Bandung fahren könne, weil sie ihn töten würden. Ist dieser Fankrieg nicht haram, eine Sünde? Diky verdreht die Augen. „This is Indonesia“, sagt auch er. „Du kannst die Dinge nicht logisch erklären!“
Diky weiß auch, wie der Krieg mit Persib angefangen hat. Diese Rivalität entspinnt sich nicht über den Glauben der Fans wie bei Celtic gegen die Rangers. Sie fußt auch nicht auf dem Kampf von Arm gegen Reich wie in Argentinien bei Boca Juniors gegen River Plate – selbst wenn Persijas Fans gerne behaupten, Persib könne sich Spieler wie Michael Essien nur leisten, weil es von dem viertreichsten Mann des Landes, dem Multimilliardär Anthoni Salim, unterstützt wird. Eigentlich entstand die Rivalität – wie so vieles in Indonesien – durch Zufall. Als hätten die Anhänger eines Tages beschlossen, dass sie endlich auch Feinde benötigen.
Bis zur Jahrtausendwende fand das große Derby zwischen PSMS Medan und Persib statt, viele nennen dieses Spiel sogar heute noch den wahren indonesischen Clasico. 2001 aber, bei einem Auswärtsspiel in Bandung, sollen Persib-Fans neun Busse mit Persija-Anhängern überfallen haben. Es war die Geburt eines neuen Clasico, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Natürlich sind noch zahlreiche andere Versionen der Entstehungsgeschichte in Umlauf, und natürlich behaupten Persib-Fans, die Persija-Anhänger hätten den Krieg angefangen. Eine Fassung geht so: 2001 nahmen Fans von beiden Teams an einem TV-Quiz in Jakarta teil. Auf der Heimfahrt nach Bandung wurden die Persib-Fans von Persija-Anhängern attackiert, weil diese das Quiz verloren hatten. Ach.
Am späten Morgen hat der Konvoi West-Java passiert. Ein letzter Stop bei Kendal, hundert Kilometer vor Surakarta. In einem Laden werden Hijabs verkauft und Hello-Kitty-Puppen, in einem Steinverschlag gibt es zum Frühstück Instantnudeln mit Instantkaffee, dazu Zigaretten. Der Ciu und die Angriffe haben Spuren hinterlassen: Die Gesichter sind verquollen, in den Bussen fehlen Scheiben. Einige schlurfen in eine Moschee, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt. Ein Dank an Gott, dass alles gut ausgegangen ist. Und die erneute Bitte, dass Persijas Spieler heute stark und schnell sein mögen.
Um 13 Uhr erreicht die Kolonne Surakartas Stadion Manahan, einen riesigen Betonbau in der Stadt. Die drei Stehkurven sind ausverkauft und komplett in Orange gehüllt, voller Banner und Fahnen. 18 000 Zuschauer sind gekommen, die meisten aus Jakarta. Das Thermometer zeigt 35 Grad, trotzdem tragen viele Fans noch ihre langen Hosen, die Windbreaker und Mützen. Vier Vorsänger drücken sich auf ein Podest am unteren Zaun der Kurve, durch ein großes Eisentor lugen Hunderte, die sich keine Tickets leisten können. Die Stimmung ist entspannt, kaum Polizei, lasche Kontrollen, und Persib-Anhänger sind wegen des Auswärtsverbots nicht zu sehen. Doch der Schein trügt. Das Spiel komprimiert den indonesischen Fußballwahnsinn noch einmal auf 90 Minuten: Stress auf den Rängen, ein Platzverweis, ein Wembleytor, Rudelbildungen – und am Ende stirbt beinahe jemand.
Aber zunächst, mitten in die Fangesänge hinein, öffnet sich der Himmel. Ein monsunartiger Regen prasselt auf Surakarta nieder, und die Fans sehen aus, als wären sie nicht durch West-Java angereist, sondern durch den Indischen Ozean geschwommen. Aber der Schiedsrichter lässt weiterlaufen, während sich hinter der Tribüne ein Schamane daran macht, den Regen zu besänftigen, und Persib ein astreines Tor schießt. Selbst aus hundert Metern Entfernung erkennt man, wie der Ball die Linie überquert, das Netz berührt und zurück ins Feld springt. Entsetzen im Block, dann Durchatmen: Der Schiedsrichter gibt das Tor nicht, er hat den Ball an der Latte gesehen.
Immerhin der Schamane scheint Profi zu sein, zur zweiten Halbzeit klart es tatsächlich auf. Bis in der 70. Minute die Fans außer Rand und Band geraten. Auf einmal stürmen hunderte von ihnen die Stufen der Kurve hinab und prügeln auf einen Jungen ein. Ein paar Polizisten beobachten gelangweilt das Geschehen. Die Capos versuchen, die Lage zu beruhigen, aber es zu spät. Der Junge hat keine Chance. Schließlich steigen drei Beamte in den Block und ziehen den Verletzten auf die Tartanbahn. Er sieht aus wie nach einem Zwölf-Runden-Kampf gegen Mike Tyson. Schnell machen die ersten Gerüchte die Runde. Das Opfer sei ein Persib-Fan, der sich eingeschlichen habe. Außerdem habe er seinen Freunden die Route des Konvois verraten. Die Stimmung ist nun angespannt, für ein paar Minuten jedenfalls, denn in der 77. Minute entscheidet der Schiedsrichter nach einem Schubser auf Elfmeter für Persija, und die Welt ist wieder in Ordnung. Bruno Lopes trifft zum 1:0‑Siegtreffer.
Die Fans ersticken beinahe am eigenen Jubel. Maybe I just want to fly. Aber schon fünf Minuten später geht es weiter auf der Achterbahn der Gefühle. 83. Minute: Platzverweise für Persib. 84.: Rudelbildung an der Mittellinie. Persibs Spieler bedrängen den Schiedsrichter, und dann verlassen sie vor dem Abpfiff geschlossen den Platz, Persija ist der Sieger. Rifki, Luthfi, Raina und die anderen machen sich auf den Weg zum Bus. Rückfahrt. 18 Stunden nach Jakarta. 18 Stunden Highway to Heaven, aber dazwischen kommt wieder die Hölle. Auf dem Heimweg wird bekannt, dass der verprügelte Junge aus Surakarta stammt. Er war ein neutraler Zuschauer, aber der Saum seines T‑Shirts war in den Farben Persibs gehalten: blau. Er hat großes Glück gehabt, der Bodycount tickt trotzdem unaufhörlich.
Ende November, als in Bali der Vulkan Agung kurz vor der Eruption steht und tausende Menschen evakuiert werden, verschickt Akmal Marhali, der Mann von „Save our Soccer“, eine Pressemitteilung. Angehängt sind neue Statistiken, denn es hat den 66. Todesfall gegeben, den zwölften im Jahr 2017, so viele wie noch nie. Marhali schreibt, der Fan hieß Rizal. Er war Anhänger von Persija Jakarta und wurde neun Tage nach dem Clasico, am 12. November, beim Spiel gegen Bhayangkara zu Tode geprügelt. Am 13. November war seine Beerdigung.