Mehr als 120 Menschen sind bei der Stadion-Katastrophe von Malang gestorben. Gewalt ist im indonesischen Fußball allgegenwärtig. Ein Roadtrip durchs Kriegsgebiet.
Eigentlich ist es absurd, dass dieses Spiel nach Surakarta, an einen sogenannten neutralen Ort verlegt wurde. Schließlich sind Auswärtsfans bei den Partien zwischen Persija und Persib seit Jahren nicht mehr zugelassen. Das Problem: Persija hat momentan kein eigenes Stadion, da es für die Asienspiele renoviert wird. Die Heimspiele trägt das Team in Bekasi aus, einer Stadt im Speckgürtel von Jakarta, aber eigentlich schon Persib-Land, West-Java. Die Polizei verlagerte das Problem also einfach – und schuf dadurch diesen aberwitzigen Konvoi und das dazugehörige Kamikazeszenario. „Psst!“, flüstert ein Junge. „Adjap!“ Er steht ein paar Meter hinter einem Polizisten, grinst und zeigt einen Aufkleber, auf dem die Abkürzung „A.C.A.B.“ prangt.
Auch Rifki, der Junge mit dem Windbreaker, setzt ein Gewinnerlächeln auf. Als wäre dieser Trip ein Spiel. Wie „Schiffe versenken“ auf der Autobahn, die Flotte ist getroffen, aber kein Problem, sie fährt ja noch. „Persib ist schwach, und wir sind stark!“, sagt Rifki, als sich der Konvoi wieder in Bewegung setzt und draußen die Lichter von amerikanischen Fastfoodrestaurants vorbeifliegen wie aus einem fernen Universum und einem anderen Leben, McDonald’s, Kentucky Fried Chicken und so weiter. You and I are gonna live forever.
Eine öffentliche Debatte um Fangewalt im indonesischen Fußball hat es bislang kaum gegeben. Vor acht Jahren erschien ein Film zu dem Thema, „Romeo Juliet“, eine Liebesgeschichte zwischen einem Persija-Fan und einer Persib-Anhängerin. Der Regisseur wollte zeigen, dass es auch miteinander geht. Einige Fans tobten vor Wut, weil das niemals möglich sei. Auch das indonesische Magazin „Tempo“ berichtet gelegentlich über Fußballfans in Indonesien, zumeist kenntnisreich und investigativ. Vor einigen Monaten übersetzte sogar der „Guardian“ eine „Tempo“-Story mit dem Titel „Jakarta’s Hooligan Problem“. Es war das erste Mal, dass dieses Thema ausführlich in einer großen westlichen Zeitung behandelt wurde.
Ansonsten gibt es Einzelkämpfer ohne große Lobby. Etwa den Journalisten Akmal Marhali und den ehemaligen Verbandsfunktionär Llano Mahardika. Vor ein paar Jahren haben sie die Organisation „Save our Soccer“ (S.O.S.) gegründet und eine Art Monitoring-System entwickelt. Mit zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeitern durchleuchten sie den indonesischen Fußball in all seinen Facetten. Sie führen auch Buch über die Randale und die Toten. Einen Tag vor der Abreise nach Surakarta sitzen sie in einem Café in Zentral-Jakarta. Marhali, 38, beige Hose, schwarzes Hemd, entschlossener Blick, hat einen Stapel Unterlagen mitgebracht. Aber zunächst beugt er sich nach vorne, als habe er Sorge, dass jemand mithört. „65 Tote!“, sagt er und lässt die Zahl in der Hitze verpuffen.
65 Tote haben er und seine Mitarbeiter im indonesischen Fußball seit 1995 gezählt. Alleine 2017 kamen elf Fans im Rahmen von Fußballspielen ums Leben. Die Dunkelziffer könnte sogar noch viel höher liegen. Auf einer Grafik ist zu sehen, wie die Anhänger gestorben sind: durch Schläge und Tritte (24), durch Messerstiche (14), andere fielen aus den fahrenden Bussen oder wurden von Feuerwerkskörpern getroffen, einer wurde erschossen. Einmal wurde ein Junge zu Tode geprügelt, weil er bei einem Tor Persijas kaum gejubelt haben soll. Die Persija-Anhänger dachten daher irrtümlich, er wäre ein Persib-Fan, der sich in ihre Kurve eingeschlichen habe. Woher kommt nur diese rasende Wut? Warum fehlt der Respekt vor dem Leben?
Die Spuren reichen weit in die Vergangenheit, in die Dekaden der Suharto-Diktatur. Einige der Männer, die Mitte der Sechziger über eine Million Kommunisten massakriert haben, leben heute noch. Und sie fühlen sich als Helden. Sie erzählen öffentlich und detailverliebt von ihren Morden. Sie berichten von rollenden Köpfen und abgeschnittenen Penissen, und sie lächeln dabei. Aber die Faszination für das Extreme hat auch etwas mit den Post-Suharto-Jahren zu tun, der Zeit nach 1998. Damals bekamen die indonesischen Regionen und Städte mehr politische Bedeutung, und es entwickelte sich ein verstärkter Lokalpatriotismus. Das Land war im Aufbruch, Punks liefen durch die Straßen Jakartas, Galerien eröffneten, die Zeitungen druckten kritische Berichte, und auch wenn Fußballstadien zuvor schon mehr Freiraum als andere Orte in Indonesien geboten hatten, konnte man nun noch lauter schreien, schimpfen und vor allem kämpfen. Gleichzeitig kam das Internet auf und zeigte den jungen Menschen, was sie über all die Jahre verpasst hatten. Auf einmal erschien die Welt nicht mehr riesengroß, selbst Indonesien mit seinen 17 504 Inseln wirkte übersichtlich und aufgeräumt. Man musste nur mit der Maus die richtigen Links anklicken.
„Wem sollen die jungen Menschen hier vertrauen? Wo sind die Vorbilder?“
Heute werde Indonesien zwar demokratisch regiert, man dürfe aber nicht glauben, dass alles sauber ablaufe, sagt Marhali. Vor allem nicht im Fußball, wo Personen das Sagen haben, die schon zu Suharto-Zeiten in den Schaltzentralen saßen. „Wem sollen die jungen Menschen hier vertrauen?“, fragt Marhali. „Wo sind die Vorbilder?“ Und dann beginnt er einen halbstündigen Monolog. Immer wieder tauchen darin Männer auf, gegen die selbst Sepp Blatter, Jack Warner und Co. aussehen wie Vorschüler. Er berichtet von korrupten Unternehmern, die vier oder fünf Erstligavereine gleichzeitig besitzen, was der Wettmafia aus Singapur oder Malaysia Tür und Tor öffne. Er holt sein Handy hervor und zeigt geheime Aufnahmen, die Mitarbeiter von ihm gemacht haben. Auf einem ist zu sehen, wie ein Geldkoffer den Besitzer wechselt, damit ein Spiel verschoben wird. Er erinnert an Nurdin Halid, den ehemaligen Verbandspräsidenten, der zwei seiner acht Amtsjahre wegen Steuervergehen im Gefängnis verbracht hat. Als er sich 2011 zur Wiederwahl stellte, löste er massive Fanproteste aus. Das wiederum nutzte der Ölmilliardär Arifin Panigoro aus und gründete eine illegale zweite Erste Liga. Er kaufte alte Vereine auf oder gründete neue. Danach spielten 15 Mannschaften in der staatlichen ersten Liga und parallel 19 in der illegalen „Super League“. This is Indonesia!
Das Thema Fangewalt beschäftigt in diesem Irrgarten des Wahnsinns kaum jemanden aus der Regierung oder dem Verband. Es gibt immer Wichtigeres. Ende Mai 2012 wurde etwa auf Druck von islamischen Hardlinern ein Lady-Gaga-Konzert in Indonesien verboten, während beim Clasico, der beinahe zeitgleich stattfand, drei Persib-Anhänger starben. „Fans und Ausschreitungen liegen nicht in unserem Verantwortungsbereich“, teilte auch der Fußballverband PSSI im Jahr 2016 mit. Die neue Generalsekretärin des PSSI, Ratu Tisha Destria, verspricht immerhin einen moderneren Kurs. Sie möchte eine Abteilung für Fanbelange gründen.
Marhali ist skeptisch. Er blättert in einer alten 11FREUNDE-Ausgabe. Seine Augen bleiben an einem Bild hängen, das Bayern-Fans in einem Polizeikessel zeigt. „So etwas müsste es bei uns auch geben“, sagt er da. „Kontrollen am Stadion, verbesserte Infrastruktur, Kameras, ein professionelles Ticketing-System, Administratoren aus Europa.“ Marhali entwirft im Handumdrehen ein kleines Law-and-Order-Programm. Vielleicht ein Zeichen von Ohnmacht und Ratlosigkeit. Oder ist das Problem wirklich nur mit der harten Hand zu lösen?
Marhali überlegt. Er ist eigentlich einer, der den Leuten die Hand reichen möchte. „Wissen Sie, was gut wäre?“, fragt er und seine Augen leuchten. „Wenn wir den Fußball endlich sterben ließen. Nur für ein, zwei Jahre, und dann könnten wir ihn wieder aufbauen.“ Außerdem würde er sich ein Benefizturnier zu Ehren der Toten wünschen. Alle Klubs sollten daran teilnehmen, und rund um das Stadion würden sie Fotos der Verstorbenen aufhängen. „Wir würden sie sichtbar machen“, sagt er. „Die Fans würden aufeinander zugehen und darüber sprechen.“ Er hält kurz inne. „Wissen Sie, was der Verband dazu sagt? Er sagt: ‚Mister Marhali, das ist keine gute Idee!‘“