Am Dienstag griffen Fans das Haus von Manchester Uniteds zweitem Vorsitzenden Ed Woodward an. Ob sie wohl wussten, dass sie sich einen ganz speziellen Jahrestag ausgesucht hatten?
Ende Januar 1980 war die Stimmung bei Manchester United nicht gut. Am Boxing Day hatten die Roten Teufel das mit großer Spannung erwartete Spitzenspiel gegen den FC Liverpool verloren, gleich zu Beginn des neuen Jahres war man dann daheim gegen Tottenham aus dem Pokal ausgeschieden. Außerdem mochten die Fans den unterkühlten, technokratischen Fußball nicht, den Trainer Dave Sexton spielen ließ. (Die Anti-Sexton-Fraktion nannte das Stadion „Cold Trafford“.) Doch das war alles nichts im Vergleich zu dem Skandal, der den Verein am 28. Januar völlig unvorbereitet traf.
An jenem Montagabend zeigte der Fernsehsender ITV die neueste Folge aus der preisgekrönten Reihe „World In Action“. Es handelte sich dabei um ein investigatives Polit-Format, vergleichbar mit deutschen Magazinen wie „Report“ oder „Panorama“, produziert von Granada TV. Doch am 28. Januar beschäftigte sich die Sendung mal nicht mit Gewerkschaftskämpfen, dem Zerfall der englischen Innenstädte oder Krisengebieten am anderen Ende der Welt. Es ging vielmehr um einen Fußballverein. Die Folge trug den Titel „Der Mann, der United kaufte“ und würde für die größte mediale Aufregung um den Klub sorgen, seit Trainer Tommy Docherty drei Jahre zuvor entlassen worden war, weil er eine Affäre mit der Frau des Physiotherapeuten hatte.
Die 30-minütige Sendung widmete sich dem Vorsitzenden von Manchester United, Louis Edwards, und seinen anscheinend halbseidenen finanziellen Machenschaften. Der als „Champagner-Louis“ bekannte Edwards galt zu diesem Zeitpunkt als eine der schillerndsten Figuren im englischen Fußball. Er war 1965 Vorsitzender von United geworden, als Nachfolger des verstorbenen Harold Hardman. Nun warf man ihm unter anderem Insiderhandel mit Klubanteilen vor, durch den er sich nicht nur einen schönen Profit erschlichen haben sollte, sondern auch die Aktienmehrheit bei United. Die Sendung, für die Granada TV zwölf Monate lang recherchiert hatte, ging aber noch viel weiter. Sie behauptete auch, dass Edwards mit schwarzen Kassen operierte, indem er nicht-existierende Spesen abrechnete und die Bücher manipulierte.
Das Geld aus diesen schwarzen Kassen, so „World In Action“, benutzte Edwards für Bestechungen. Genauer: für die Bestechung der Eltern von Nachwuchstalenten. Ein prominentes Beispiel, das die Sendung beleuchtete, war der schottische Ex-Nationalspieler Peter Lorimer. Laut „World In Action“ hatten Lorimers Eltern 5000 Pfund von Edwards bekommen, damit ihr damals noch minderjähriger Sohn später bei United unterschrieb. Zwar bezahlte die Familie das Geld zurück, als Peter Lorimer sich stattdessen für Leeds United entschied, trotzdem verstieß diese geheime Zahlung in eklatanter Weise gegen die Regeln des Verbandes.
Louis Edwards wurde 1914 in Salford geboren, einer Stadt im Großraum Manchester, und war von Kindesbeinen an United-Fan. Schon mit 14 verließ er die Schule, um einen Job im fleischverarbeitenden Betrieb seines Vaters anzunehmen. Als dieser Vater 1943 starb, übernahm Louis zusammen mit seinem Bruder Douglas die Firma. Sie belieferte die Schulen in Manchester und dem weiteren Umland mit Fleisch und florierte in den Fünfzigern und Sechzigern. Im Jahre 1958 erwarb Louis Edwards seine ersten Aktien an United – zehn Stück für je ein Pfund. Er wurde ein enger Freund von Manchesters berühmtem Trainer Matt Busby und Stammgast auf den Ehrenplätzen in Englands Erstligastadien. In der Öffentlichkeit sah man ihn nur selten ohne eine dicke Zigarre im Mund und einem Glas Champagner in der Hand. Er galt als Paradebeispiel für den einfachen Jungen, der es in seiner Stadt geschafft hatte.
Bis zum 28. Januar 1980. Denn „World In Action“ blickte auch kritisch auf Edwards’ Aufstieg. Das Fleisch seiner Firma wäre minderer Qualität gewesen, außerdem meldeten sich Leute, die bezeugten, dass die Familie Edwards durch geheime Zahlungen an kommunale Angestellte dafür gesorgt hatte, dass sie all die vielen Aufträge im Nordwesten des Landes bekam. Dieser Teil der Vorwürfe war zwar ebenfalls schwerwiegend, hätte aber kaum noch praktische Auswirkungen haben können, denn Edwards hatte seine Anteile an der Firma Ende der Siebziger an den Tycoon James Gulliver verkauft. (Für 100.000 Pfund. Unter Gullivers Führung steigerte das Unternehmen seinen Wert in nur sieben Jahren auf zwei Milliarden.)
Doch es ging ja eben nicht nur um eine Fleischfirma, sondern um einen der größten Fußballvereine der Welt. Edwards hatte United oft mit Geld ausgeholfen, etwa um nach dem unerwarteten Abstieg 1974 eine neue Mannschaft aufzubauen oder Arbeiten am in die Jahre gekommenen Stadion auszuführen. Nun hörten die Fans des Klubs heimlich mitgeschnittene Aufnahmen von Telefongesprächen, in denen Edwards sich über die Umgehung von Kapitalertragssteuer ausließ und Steuerdelikte als „bloße Detailfragen“ bezeichnete. Viele Anhänger sorgten sich, dass jetzt auch das Finanzgebaren von United unter die Lupe genommen werden würde. Als Derby County am 2. Februar nach Old Trafford kam, hörte man im Stadion deutliche „Edwards raus!“-Rufe.
Edwards selbst sagte zu den Vorwürfen: „Mein Gewissen ist rein.“ In einem Interview mit der Zeitung „Daily Express“ kündigte er an, Granada TV mit Klagen zu überziehen. Zu diesem Zweck besprach er sich mit einigen bedeutenden Anwälten, darunter George Carman und Lord Goodman, die einst den Premierminister in solchen Fragen beraten hatten. Danach sah Edwards davon ab, juristisch gegen „World In Action“ vorzugehen. Bis heute wurden die Anschuldigungen nie angefochten oder gar widerlegt.
Der Skandal machte landesweit Schlagzeilen. Die „Daily Mail“ spekulierte sogar: „United könnte die Meisterschaft gewinnen – und dann aus der Liga geworfen werden.“ Das Netz um Edwards zog sich immer enger zusammen. Sieben Parlamentarier forderten, dass die Regierung den Fall untersuchen sollte, den man schon als „Edwardsgate“ bezeichnete. Der Verband gab bekannt, sich mit den Vorwürfen der Bilanzfälschung und des Insiderhandels mit Klubaktien genau zu befassen. Die Liga und das Handelsministerium leiteten eine Untersuchung ein, um die mögliche Bestechung der Eltern von Minderjährigen zu klären. Und schließlich meldete sich auch die Steuerbehörde zu Wort und kündigte Nachforschungen an. Der „Daily Mirror“ kommentierte: „Bisher haben wir nur deshalb noch kein Fußball-Watergate, weil man mit übler Nachrede vorsichtig sein muss. Doch es ist klar, dass die Korruption im Fußball bis in höchste Kreise reicht. Wenn diese Sendung dafür gesorgt hat, dass eine umfassende Untersuchung eingeleitet wird, dann kann das Spiel nur davon profitieren.“
Doch nichts davon geschah. Und zwar weil Louis Edwards am 25. Februar 1980 in seinem Badezimmer einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Sein Sohn Martin feuerte in den Tagen danach eine mediale Breitseite nach der anderen ab. Er warf dem Fernsehen vor, seinen 65-jährigen Vater praktisch getötet zu haben. Plötzlich stoppte das Räderwerk der Nachforschungen und Recherchen. Der „Sunday Express“ griff den Medienunternehmer Lord Bernstein scharf an, den Chef von Granada TV. Mit einem Mal hatten sowohl die Boulevardblätter wie auch die seriösen Zeitungen kein Interesse mehr daran, Korruption im Fußball offenzulegen. Seit fast vierzig Jahren pflegten die englischen Printmedien ein gutes Verhältnis zu den großen Klubs. Und es waren ja nicht sie gewesen, die Zeitungen, die den Skandal enthüllt hatten, sondern das ungeliebte Fernsehen. „Edwardsgate“ verlief im Sand.
Zwar hatte Louis Edwards offenbar seinem Freund Matt Busby versprochen, dass er sein Nachfolger werden sollte, doch am 22. März wurde Martin Edwards neuer Vorsitzender von Manchester United. (Der schon betagte Busby nahm würdevoll das Angebot an, als Präsident zu fungieren.) Es war Martin Edwards, der 1986 einen gewissen Alex Ferguson als Trainer verpflichtete. Als Louis Edwards’ Sohn den Vorsitz schließlich niederlegte – nach einem Sex-Skandal im Herbst 2002 –, war der Wert seiner Anteile am Verein von 600.000 Pfund auf 60 Millionen gestiegen. Drei Monate später begann die Glazer-Familie aus Florida damit, Manchester United nach und nach zu übernehmen.
Gestern, exakt vierzig Jahre nach der Ausstrahlung der „World In Action“-Folge, warfen United-Fans Bengalos auf das Haus von Ed Woodward, der für die Glazers die Geschäfte des Klubs leitet. Vermutlich wussten die Fans nicht einmal, welch bedeutungsvolles Datum sie sich ausgesucht hatten.