Heute wäre Bill Shankly 100 Jahre alt geworden. Ein Mann, ohne den es die Legende des FC Liverpool nicht geben würde.
This is Anfield. Die Reds. Der Kop. She loves you. Yeah, yeah, yeah! You´ll never walk alone. Die Legende vom Liverpool Football Club. Würde es alles nicht geben. Ohne diesen Mann: Bill Shankly. Der Fußball für wichtiger als Leben und Tod befand. Und dem die Leute das auch noch glaubten. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.
„Ich habe einen großen Fehler gemacht!“
Der FC Liverpool war ein Trümmerhaufen, als im Winter 1959 ein Schotte namens Bill Shankly an der Anfield Road vorstellig wurde. Durch das brüchige Stadion knatterte der kalte Nordwest-Wind. Zerbrochener Beton auf den Tribünen, zerborstenes Glas auf dem Rasen. Kein Leben in diesem Steinhaufen. Der neue Trainer ließ sich die Trainingsplätze zeigen. Zwölfmal umrundete Bill Shankly das Gelände. Dann konnte er nicht mehr. „Nessie“, flüsterte Liverpools Neuer seiner Gattin im Auto zu, „ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht.“ Was hatte er sich da nur angetan?
15 Jahre später gab Bill Shankly eine Pressekonferenz. Und legte sein Amt als Trainer des FC Liverpool nieder. Seiner Frau zuliebe. An der Anfield Road waren sie fassungslos. Aber auch unglaublich dankbar. Traurig und zu Tränen gerührt. Aber immer noch knallverliebt. In ihren Trainer, ihren Messias. Der aus dem Steinhaufen ohne Leben die Legende vom Liverpool Football Club geschaffen hatte. Einen der größten Klubs der Welt. Einen Ort, an dem man das Herz des Fußballs schlagen hören konnte. Der inzwischen die besten Fans des Planeten hatte. Der die Hafen- und Arbeiterstadt zu einer Stadt gemacht hatte, die Fußball atmete, inhalierte, ausdünstete, und benötigte wie die Luft zum Atmen. „Shanks“, der knorrige Schotte, war ihr Halbgott.
Wie hatte er das nur gemacht?
Zunächst einmal: Die Voraussetzungen waren beschissen. Und damit wie gemacht für einen Messias auf seiner Mission. Liverpool dümpelte im Niemandsland der zweiten Liga herum, der Klub war Ende der fünfziger Jahre so faszinierend wie ein Sack Zement. Shankly hatte 1000 Möglichkeiten, etwas zu verbessern. Schlechter konnte es beim LFC eh nicht mehr werden.
Der neue Mann drehte an den richtigen Schrauben. Ließ die Trainingsplätze und das angeschlagene Stadion renovieren. Professionalisierte seine Zweitliga-Truppe in kleinen Schritten – gemeinsame Treffen vor dem Training, gemeinsames Essen nach dem Training, anständiges Aufwärmtraining, regelmäßige Fitnesskontrolle. Aufbauarbeit Schritt für Schritt. Das Talent seiner Spieler war begrenzt, also injizierte er ihnen eine simple Spielphilosophie, auf einfachen taktischen Anweisungen gebaut, Disziplin, Kraft, Kondition – und vor allem: Herz. Das kam an bei den Spielern. Und bei den Fans. Er kam an. Mit seiner kernigen Art. Zwar streng, aber nicht ohne Humor. Er sog den Verein in sich auf, wurde der größte Fan seines eigenen Arbeitgebers. Obwohl er nie für Liverpool gespielt hatte. Liebe – Talent – Fleiß – Glück. Ein Quartett aus dem Fußball-Trainer-Baukasten, in Bill Shankly vereint.
Shanks, der Psychologe
Selbstverständlich verklärt man seine Arbeit heute zum Teil. Denn beinahe wäre er nach wenigen Monaten wieder aus dem Verein geflogen, den Klubbossen gingen seine ständigen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und vor allem neuen Spielern auf den Sack. Und den Erfolg konnte auch Shankly nicht sofort erzwingen. Erst 1962 stieg seine Mannschaft in die „First Division“ auf, erst jetzt rannten die Leute dem Verein die Bude ein. Erst jetzt interessierten sich die größten Fußballer ihrer Zeit für Liverpool. In der Branche hatte es sich zumindest rumgesprochen, dass im Nordwesten Englands ein spannendes Projekt im Gange war. Geleitet von einem Mann, den die eigenen Fans bereits als Messias verehrten, der aber offenbar tatsächlich geradezu überirdischen Einfluss auf sein Umfeld zu haben schien.
Shankly war ein überragender Psychologe. Ron Yeats, ein Landsmann Shanklys und aufgrund seiner körperlichen Erscheinung nur „Big Ron“ genannt, stieß schon 1961 zum damaligen Zweitligisten aus Liverpool. „In welcher Liga spielt Liverpool überhaupt?“, fragte Yeats beim ersten Gespräch mit Shankly. „Wir spielen in der First Division, mein Sohn“, antwortete Shankly. „Ich dachte, ihr würdet in der zweiten Liga spielen?“ Antwort: „Wenn du bei uns unterschreibst, mein Sohn, dann spielen wir im nächsten Jahr in der First Division.“ Yeats unterschrieb, Shankly hatte seinen Anführer für das, was da kommen sollte, gefunden.
1964 wurde Liverpool Meister. 1965 gewann der Klub den FA-Cup. Erstmals in seiner Geschichte. „Der schönste Titel meiner Karriere“, befand Shankly später. 1966 und 1973 holte der LFC unter seiner Regie erneut den Meistertitel, ebenfalls 1973 den UEFA-Cup. 1974 noch einmal den FA-Cup.
Titel und Erfolge. Die eine Seite der Medaille. Aber der Grund, warum sie Bill Shankly in Liverpool ewig dankbar sein werden, weshalb sie ein Denkmal vor ihr Stadion gestellt haben, dessen einer Eingang seinen Namen trägt, ist ein anderer. Er hat ihrem Klub eine Seele gegeben. Er hat dem Verein nicht nur ein neues Leben, sondern eine neue Liebe eingehaucht. Sein Wirken auf und neben dem Platz, seine Hingabe und sein ganzes Wesen, dass zur Philosophie dieser Stadt passte wie Arsch auf Eimer, hat die Anhänger des Klubs dazu motiviert, die Fankultur für immer zu verändern. Aus dem Kop wurde in wenigen Jahren eine brodelnde Masse, aus einem ganz normalen Stadion Anfield – ein geradezu mystischer Ort für den Weltfußball. Am Boxing Day 1963 sangen sie hier zum ersten Mal die Hits der „Beatles“ in der Kurve – eine Revolution der Tribüne! Und keine Anekdote beschreibt besser, wie sehr Bill Shankly diese Revolution im Kern unterstützte, wie sehr er wusste, was wahre Fanliebe tatsächlich bedeutete. Als Brian Epstein, der „Beatles“-Manager, Shankly vor dem FA-Cup-Finale 1965 um Freikarten für seine weltberühmte Band bat, antwortete Shankly: „Ich habe noch nie auch nur einen der ›Beatles‹ bei uns im Stadion gesehen. Jede einzelne Karte, die ich bekomme, werde ich für die Jungs vom Kop aufsparen!“
Das „This is Anfield“-Schild: seine Erfindung
Das „This is Anfield“-Schild im Spielertunnel. Die roten Trikots. Das Selbstverständnis eines jeden Liverpool-Fans, das sein Verein der größte Klub der Welt ist. Die Legende des Liverpool Football Club. Hat alles er erfunden: Bill Shankly. 1974 hörte er auf. Seiner noch größeren Liebe zuliebe. Shanklys Nachfolger, Bob Paisley, übernahm ein verdammt gutes Team eines faszinierenden Vereins. Nimmt man Titel und Erfolge als Messlatte, war Paisley viel erfolgreicher als Shankly. Sechsmal Meister, dreimal Gewinner des Europapokals der Landesmeister und vieles mehr. Aber so denken sie nicht in Liverpool. Niemand hat vergessen, wer die Grundsteine für die Legende dieses Klubs gelegt hat.
Vielleicht noch eine letzte Geschichte: Als der FC Liverpool zu einem Auswärtsspiel bei Honved Budapest in der ungarischen Hauptstadt Quartier bezog, wurde Shankly am Hoteltresen gefragt: „Entschuldigen Sie, Herr Shankly, aber auf diesem Formular haben Sie hinter ›Heimatadresse‹ ›Anfield‹ angegeben…“ Und Bill Shankly antwortete: „Das ist korrekt. Hier lebe ich.“ Auch heute noch, an seinem 100. Geburtstag.