Heute empfängt Arsenal im Emirates Stadium den FC Chelsea. Eine vergleichsweise unbefleckte Heimstätte. Im alten Stadion des FC Arsenal wurde 93 Jahre lang gelitten, gehofft und gefeiert.
Am Ende wäre es fast wieder passiert. Jens Lehmann stemmte die Hände in die Hüfte, sein Blick konsterniert. Soeben hatte er einen eigentlich harmlosen Freistoß passieren lassen, und nun stand es 2:1 für Wigan Athletic. Ein Ergebnis, mit dem Arsenal im letzten Spiel der Saison 2005/06 die Qualifikation für die Champions League verpasst hätte. Und mindestens ebenso wichtig war es, einen erfolgreichen Abschied zu feiern – schließlich stand der Umzug von Highbury ins Emirates Stadium unmittelbar bevor. Nun aber drohte, was an diesem Ort schon so oft passiert war: eine bittere Enttäuschung.
Das Arsenal Stadium im Londoner Norden war bei allen Erfolgen, wie zum Beispiel einem Meisterschaftshattrick in den dreißiger Jahren, immer auch ein Schauplatz des Scheiterns gewesen. Hier durchlebte der Klub jahrzehntelange Dürreperioden, hier spielte Arsenal in den Siebzigern hässlichen, destruktiven Fußball. Bei seinem ersten Besuch sah Nick Hornby, der Autor des Buches „Fever Pitch“, auf den Rängen „Gesichter, die vor Zorn, Verzweiflung oder Frustration verzerrt waren. Sich zu amüsieren, indem man leidet, war für mich ein vollkommen neuer Gedanke.“
Der Plan: Eine Fusion zwischen Fulham und Arsenal
Die Geschichte des Stadions geht zurück ins Jahr 1913. Damals pachtete ein gewisser Henry Norris beim theologischen St. John’s College sechs Hektar Fläche für die nächsten 21 Jahre. Das war auch bitter nötig, denn die bisherige Heimat Arsenals im Südosten der Stadt hatte einen dermaßen hügeligen Platz, dass die Torhüter der beiden Mannschaften einander nicht sehen konnten.
Weit im Norden sollte der Klub nun eine zeitgemäße Spielstätte erhalten. Norris, der Arsenal kurz zuvor übernommen hatte und zugleich Präsident des FC Fulham war, wollte den Verein eigentlich mit Fulham fusionieren und an deren Heimat Craven Cottage einen konkurrenzfähigen Londoner Superklub aufbauen. Das jedoch verbot die Liga. Also fokussierte sich Norris auf Arsenal und ließ inmitten der Wohnsiedlung Highbury ein Stadion bauen.
Doch es dauerte bis zu den Dreißigern, ehe Highbury zu einem heißgeliebten Fußballort wurde. Herbert Chapman war es, der in der landesüblichen Doppelfunktion als Trainer und Manager den Klub revolutionierte. Arsenal spielte nun bahnbrechenden und erfolgreichen Fußball, und das bis dahin improvisiert zusammengestückelte Stadion wurde umgebaut. Das Arsenal Stadium erhielt in der Chapman-Ära seine ebenso gradlinige wie filigrane Ästhetik, die es zu einem Symbolbild zügelloser Fußballromantik machte.
Die rauen Stehtribünen waren bis zu ihrem Verbot nach dem „Taylor Report“ ein mythenumrankter Sehnsuchtsort für die Arbeiterklasse, gleichzeitig war die Marble Hall vor der Osttribüne mit seiner prunkvollen Art-déco-Fassade ein apodiktisches Monument für den zunehmenden Glamour des Klubs. Am Eingang der Marmorhalle verkauften vor großen Spielen betrügerische Schwarzmarkthändler Tickets zu Wucherpreisen an arglose Fußballtouristen. Die heimischen Nachwuchsfans zwängten sich derweil durch eine schmale Gasse ins sogenannte „Schuljungengehege“, das die Ausbildungsstätte des Clock Ends war, des legendären Stehsektors des Klubs.
Erdnussverkäufer, Losverkäuferinnen, Polizeikapelle
Trotz der schleichenden Eventisierung, die auch vor Highbury nicht halt machte, ging es hier im Verlauf der neun Jahrzehnte in erster Linie um Fußball. Die Erdnussverkäufer, die sich im hektischen Trubel von keinem Rempler aus dem Gleichgewicht bringen ließen, die Polizeikapelle, die in der Halbzeitpause aufspielte, und die „Make money with Arsenal“-Girls, die Lose verkauften, waren nicht mehr als atmosphärische Randerscheinungen.
Mit seinen mächtigen Metallstützen, die das Giebeldach über den Tribünen trugen, wirkte Highbury zuletzt wie ein Monument aus einer vergangenen Zeit. „Ich habe immer gespürt, dass diesem Stadion eine ganz eigene Seele innewohnte“, sagt Arsenal-Coach Arsène Wenger über das ehemalige Stadion seines Vereins. „Ich mag daran dieses Gefühl, dass der Klub zu den Leuten aus der Umgebung gehört.“ Deshalb – und weil Arsenal entscheidende Spiele wie das am 7. Mai 2006 gegen Wigan Athletic am Ende oftmals doch noch gewann – wird Highbury seinem pathetischen Beinamen gerecht. Die Arsenal-Fans nannten es stets: „The Home of Football“.