Heute Abend empfängt Borussia Dortmund den Meister aus München als Tabellenführer. Verantwortlich dafür ist Lucien Favre. Zehn Geschichten über einen Perfektionisten, zertrümmerte Kniegelenke, und die Liebe zum Fußball.
1.
Lucien Favre wurde am 2. November 1957 im beschaulichen Dorf Saint-Barthélemy im Westen der Schweiz geboren. Als Bauernsohn in der landwirtschaftlich geprägten Region musste er auch hin und wieder seine Eltern unterstützen: „Ich habe geholfen auf dem Hof, manchmal. Aber ich war kein großer Fan dieser Arbeit.“ Die meiste Zeit verbrachte er deswegen woanders: auf dem Fußballplatz.
2.
Im Nachbarort Oulens-sous-Echallens begann er seine Vereinskarriere, wechselte mit 15 zum großen FC Lausanne-Sport, spielte später in Xamax, Toulouse und bei Servette Genf. Favre galt als hervorragender Techniker und Spielmacher, eine Augenweide für Fans des schönen Spiels, das man so in der Schweiz zuvor nicht kannte. Zu seiner Zeit hatte die Nationalmannschaft den Spitznamen „Abbruch GmbH“
3.
Mit 28 stand Favre in der Blüte seiner Karriere. Dass er im September 1985 aber schon den Gipfel erreicht haben sollte, konnte er ebenso wenig ahnen, wie es seine Schuld war. Im Spiel mit dem FC Servette gegen Vevey ist Favres Gegenspieler Pierre-Albert Chapuisat, der Vater von Stéphane. Über die Schweizer Grenzen hinaus als rabiater Verteidiger bekannt, wird Chapuisat an diesem Spätsommerabend seinen Ruf mehr als gerecht. Mit einer brutalen Grätsche zertrümmert er Favres Kniegelenk, Bänder reißen, Knochen brechen. Nach acht Monaten kommt Favre zurück auf den Platz, doch er findet nie wieder zu alter Klasse zurück: „Ich hatte zu viel Angst“, sagt er später. Er verklagt Chapuisat, der wegen fahrlässiger Körperverletzung zu 5.000 Franken Strafe verurteilt wird.
4.
1987 wechselte Karl-Heinz Rummenigge zum FC Servette, wo er mit Favre zusammenspielte und sich auch ein Zimmer teilte. Später sagte Rummenigge: „Favre ist mir fast auf die Nerven gegangen, weil er immer nur über Fußball reden wollte.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert.
5.
So begann Favres Trainerkarriere quasi schon mit 25. In Toulouse musste die Mannschaft nach einer Trainerentlassung selbstverantwortlich die Übungseinheiten organisieren. Favre übernahm zwei Wochen lang die Leitung, „und die Spieler waren sehr zufrieden“, wie er selbst sagt. Sieben Jahre später startete die Karriere an der Seitenlinie dann wirklich – als Assistenztrainer der C‑Junioren beim FC Echallens.
6.
Favre gilt als Perfektionist, auf und neben dem Platz. Als er in Yverdon Trainer war, beobachteten der Präsident und er einen Spieler, den sie verpflichten wollten. Zufällig fuhr der Präsident nach der Partie im Auto hinter dem Spieler. Die potentielle Neuverpflichtung überfuhr drei rote Ampeln. „Der Präsident rief mich an“, erzählt Favre. „Ich überlegte sehr, sehr lange. Dann sagte ich: Es geht nicht. Wir können ihn nicht nehmen.“
7.
Favres letzte Trainerstation vor dem Wechsel in die Bundesliga war von 2003 bis 2007 der FC Zürich. Der große FCZ stand am Tabellenende und für Favre lief es zunächst gar nicht. Doch in den folgenden Jahren gewann er einmal den Pokal und zwei Meisterschaften. Dass er überhaupt in Zürich Trainer wurde, war eine glückliche Fügung: Der eigentliche Top-Kandidat hatte zu lange mit der Unterschrift gezögert. Sein Name: Joachim Löw.
8.
Von 2011 bis 2015 trainierte Favre viereinhalb Jahre lang Borussia Mönchengladbach und machte den Abstiegskandidaten zum Champions-League-Teilnehmer. Gladbach stand unter Favre für berauschenden Kombinationsfußball und ein pfeilschnelles Angriffsspiel. Doch die Defensive brachte ihm einen Rekord: Mit durchschnittlich 1,1 Gegentoren pro Spiel ist Favre diesbezüglich der beste Gladbacher Trainer aller Zeiten.
9.
„Überall, wo man mich hat arbeiten lassen, hatte ich Erfolg“, sagte Favre im Gespräch mit 11FREUNDE über sich selbst. Das stimmt. Aber nicht dauerhaft. Zürich verließ er ohne Absprache. In Gladbach trat er nach einer Negativserie zurück, obwohl der Verein das zuvor abgelehnt hatte. Als er bei Hertha beurlaubt wurde, berief er eigenmächtig eine Pressekonferenz im Hotel Adlon ein und schoss gegen den Klub. Die Welt sprach von einer Selbstdemontage. Sein ehemaliger Mitspieler Kubilay Türkyilmaz sagt über Favre: „Wenn es brenzlig wird, haut er ab. Einmal totalen Gegenwind überstehen, das fehlt in seiner glanzvollen Trainerlaufbahn.“
10.
Aber alles Perfektionistische, alles Pedantische und alles Schwierige am Spieler und Trainer Lucien Favre lässt sich doch auf eines zurückführen: seine bedingungslose Liebe für den Fußball. Favre kann bis heute laut eigener Aussage den Ball öfter hochhalten als viele seiner Spieler. Wenn er auf dem Trainingsplatz keine Taktiktafel in der Hand hat, hat er einen Ball am Fuß. Der Zeit sagte er 2017, tausendmal schaffe er noch beim Jonglieren. Und: „Wenn es um Fußball geht, können Sie mich mitten in der Nacht wecken. Ich liebe dieses Spiel und werde es immer lieben.“