Die WM 1974 hatte noch gar nicht richtig begonnen, da konnte man schon die erste Lehre aus ihr ziehen: Kein Mensch braucht Eröffnungsfeiern.
Schon heute, davon ist auszugehen, plant man in Moskau bis ins letzte Detail die Eröffnungsfeier der WM im nächsten Jahr. Die Messlatte haben die Russen dabei selbst schon recht hoch gelegt: Bei der Zeremonie zum Start der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi wurden in drei Stunden knapp 22 Tonnen Feuerwerk in die Luft geblasen.
Man kann diesen modernen Gigantismus beklagen, aber eines ist sicher: Früher war nicht alles besser. Ganz im Gegenteil. Man denke nur an die Weltmeisterschaft 1974.
Um ein Haar hätte die Partie ausfallen müssen
Als Fußballer und Fans aus aller Welt damals nach Deutschland kamen, hatten sie vermutlich die üblichen Klischees im Kopf: Deutsche sind ordentlich und genau, organisieren alles bis zur Perfektion und machen keine Fehler. Nun, es dauerte kaum zwei Stunden, da konnten die Touristen und Gäste dieses Zerrbild gründlich korrigieren. Denn bereits die Eröffnungsfeier der WM war ein Desaster ersten Ranges.
Graue Wolken hingen über dem Frankfurter Waldstadion und verbreiteten miesepetrige Stimmung unter den 60.000 frierenden Zuschauern. Monatelang hatten die Organisatoren des Turniers meteorologische Aufzeichnungen studiert, um die WM in den Zeitraum zu legen, der das beste Wetter versprach. Dann aber goss es vier Wochen lang dermaßen hartnäckig, dass um ein Haar sogar eine Partie hätte ausfallen müssen (die so genannte „Regenschlacht“ gegen Polen). Und regnete es mal nicht aus Kübeln, dann herrschte eine klamme Kälte. So wie an diesem 13. Juni, als die Eröffnungszeremonie sich zog wie Kaugummi.
Bibbernde Brasilianer
Zugegeben, für das Wetter konnten die Ausrichter der Party nichts. Aber für den Rest. Die Hauptattraktion bestand aus 16 überdimensionalen Fußbällen, die auf dem Spielfeld und der Tartanbahn platziert waren. In jedem von ihnen steckte eine Folkloregruppe aus einem der Teilnehmerländer – schottische Dudelsack-Spieler, eine haitianische Karnevals-Kombo, Holländer in Holzschuhen oder Tango-Tänzer aus Argentinien. Nach und nach öffneten sich die Bälle wie Blumenblüten, um die versteckten Künstler zu enthüllen, die dann loslegen durften, den Ohren und Augen des Publikums zu schmeicheln.
Die Idee war hübsch, aber sie hatte einen Haken. Die jugoslawische Volkstanzgruppe „Ensemble Gradimir“ durfte als erste ran, was sie zwar früh aus dem stickigen Ball befreite, aber zur Folge hatte, dass sie danach bei 13 Grad und Dauernieselregen anderthalb Stunden dumm herumstand und die die Auftritte der Kollegen verfolgen musste. Ein Schicksal, das die Tänzer von „Brasil Tropical“ aus Rio de Janeiro den Belgradern vielleicht gerne abgenommen hätten.
Die leichtbekleideten Südamerikaner waren nämlich die letzten, die an die Reihe kamen. Sie hatten zu lange bei zu wenig Frischluft gebibbert, um noch Lebensfreude zu verströmen. Vielleicht irritierte es sie auch, dass die Sambaklänge, zu denen sie erstaunlich hüftsteif tanzten, der Big Band der Bundeswehr unter Leitung von Günter Noris zu verdanken waren.
Viel schlimmer, zumindest für die Fans, war aber das, was sich zwischen den Darbietungen der Jugoslawen und Brasilianer so abspielte. Die Bundesrepublik vertraute der Winninger Winzer‑, Tanz- und Trachtengruppe, die „Ja, das hat die Mosel so an sich“ schmetterte – und damit nur den DFB-Präsidenten Hermann Neuberger dazu brachte mitzusingen. Und während eine 20-köpfige Tanzgruppe aus Zaire die Hüften schwang, explodierte plötzlich eine Rakete auf der Gegentribüne, was eine kurze Panik auslöste, weil einige Zuschauer ein Attentat der RAF vermuteten.
Und dann war da noch die DDR, die den Schlagersänger Frank Schöbel und seine Band um Uve Schikora ins Rennen schickte.
Die Afrikaner flohen ins Warme
Schöbel hatte den fetzigen WM-Song der DDR veröffentlicht. „Ja, der Fußball ist rund wie die Welt“ hieß das Stück, bei dem verzerrte Gitarren einen Text untermalten, der forderte: „Lasst den Fußball leben, Tore muss es geben!“ Für die Eröffnungsfeier war das den DDR-Oberen aber wohl zu rockig. Also spielte Schikora Fagott und sechs Mitglieder des Staatsopernballetts versuchten sich an ein paar Hebeübungen, während Schöbel „Freunde gibt es überall“ trällerte.
Seine herzerwärmenden Zeilen wie „Feuerrot geht der Tag und die Nacht beginnt/Wenn ein Kind sich einsam fühlt, dann erzählt der Wind“ ließen allerdings das „Ensemble Pende“ aus der Provinz Bandundu in der heutigen Demokratischen Republik Kongo buchstäblich kalt. Entgegen der Absprache machten sich die Afrikaner, die zwanzig Minuten vor Schöbel aus dem Ball gehüpft waren, während des DDR-Auftritts vom Acker und flohen ins Warme.
Das Publikum wäre ihrem Beispiel vermutlich gerne gefolgt. Auf den meisten Plätzen konnte man weder die Musik richtig verstehen noch die Künstler gut erkennen. „Wer keinen Feldstecher im Marschgepäck hatte, blickte mehr auf die Uhr als auf das Spielfeld“, notierte das Fachblatt „Kicker“, das für seinen Bericht über die Feier das Waldstadion bissig als „Tatort“ bezeichnete. So atmeten alle auf, als das Pflichtprogramm um 17 Uhr endlich beendet war und die Mannschaften aus Brasilien und Jugoslawien die Bühne übernahmen. Sie quälten sich zu einem 0:0, und jetzt endlich waren es die Zuschauer leid: Ein Pfeifkonzert beendete den ersten Tag der WM.