Matthias Sammer quittiert seinen Job als Fernsehexperte. Dabei schien es, als hätte er neben Jan Henkel den Job seines Lebens gefunden – unumstritten war er aber nie.
Mit dieser Saison hat sich Sammers Rolle allerdings etwas verändert. Das merkt man, als Sebastian Kehl vor dem Spiel als Studiogast zwischen ihm und Henkel Platz nimmt. Auf dem Bildschirm ist die Mannschaftsaufstellung von Borussia Dortmund in taktischer Ordnung zu sehen. Kehl, neuerdings Leiter der Lizenzspielerabteilung beim BVB, dreht sich demonstrativ zu Sammer, tippt auf den Bildschirm und sagt grinsend zu ihm: „Wer den Dahoud dahin stellt, hat keine Ahnung.“ Sammer tut so, als hätte er das nicht gehört. Die mögliche Mannschaftsaufstellung der Borussen war schließlich schon nachmittags ein Thema, während der Vorbereitung der Sendung im Produktionsmobil hinterm Stadion. Sammer hatte da verschiedene Vermutungen angestellt, doch nun stößt Kehl ihn an: „Du weißt doch schon seit heute Mittag, wie wir spielen!“ Dann ist die Werbepause vorbei, und die Sendung geht weiter.
Seit Mai ist Matthias Sammer offiziell Berater des Vorstands von Borussia Dortmund, in dieser Rolle hatte er sich mittags mit Vereinsboss Watzke, Manager Zorc und Kehl zu einer ihrer regelmäßigen Besprechungen getroffen. Am Abend ist er quasi auf die andere Seite des Tisches gelaufen und erklärt den Zuschauern nun, was sie von Borussia Dortmund zu halten haben. Etwa, dass Kehl „der wichtigste Neuzugang“ beim BVB sei. Kein Wunder, dass es Manager in der Bundesliga gibt, die zu Sammers Doppelrolle hinter vorgehaltener Hand sagen: „Das geht gar nicht!“ Man könnte aber auch spotten, dass derlei hierzulande halt gelernt ist. War nicht der große Franz Beckenbauer über viele Jahre als Präsident des FC Bayern sogar Experte bei Sky und überdies noch Kolumnist der „Bild“-Zeitung?
Sammer hat sich eine Linie zurecht gelegt
Bei den Vorbesprechungen hatte Sammer über Dortmund übrigens nie als „wir“, sondern als „die“ gesprochen. Ganz so wie Beckenbauer, der gerne über „die Bayern“ redete. Bei ihrem Treffen im München hatten Sammer und Henkel auch über den Wunsch der Redaktion gesprochen, in der Sendung die Situation von Mario Götze zu diskutieren. Die „größte Scheindiskussion des deutschen Fußballs“ hatte Sammer sich da ereifert. Andererseits wollte er sich aber letztlich nicht den Vorwurf machen lassen, als BVB-Berater ein dem Verein unliebsames Thema nicht zu erörtern. Also erklärt er vor dem Spiel wortreich, warum man Götze noch Zeit geben und Geduld mit ihm haben müsse.
Während er da so über Götze redete, fragte man sich aber schon, welcher Sammer da sprach: der Experte, der BVB-Vertreter oder einfach jemand, der sich Sorgen um den Menschen macht? Seine Wortschwalle, das kapiert man in solchen Situationen, sind nicht immer eine Folge von zu vielen Ideen. Manchmal verbirgt er so, was er nicht deutlich sagen will.
Ansonsten hat sich Sammer für seine Rolle als Kritiker eine Linie zurechtgelegt, was er will und was nicht: „Die Szenen, die wir aussuchen, sind keine Vernichtung der Bundesliga.“ Das ist ein interessanter Satz, er glaubt also, man könnte denken, dass das so gemeint sei. Dass Sammer mancherlei Fußball in der Bundesliga eher fürchterlich findet, ahnt man. Das allerdings laut zu sagen, sieht er nicht als seine Aufgabe. Er folgt vielmehr der inneren Logik der Ereignisse. Beim BVB kritisiert er nicht den Spielaufbau mit langen Abstößen, sondern dass sie nicht dorthin auf dem Platz kommen, wo großgewachsene Spieler sind. Das nimmt der Kritik zwar einerseits die Schärfe, gibt ihr aber andererseits mehr Gewicht.
Trainer nehmen die Übertragung ernst
Vielleicht nehmen die meisten Trainer und Manager die Eurosport-Übertragung auch deshalb ernst. „Das macht Spaß, die reden halt über Fußball“, sagt Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic. Manche Trainer stellen vor Spielbeginn sogar Analysten ab, die sich anhören sollen, was Sammer erzählt. Andere Trainer lassen sich Aufzeichnungen davon geben, was er nach dem Spiel gesagt hat oder hören sich das noch im Stadion an.
Doch es ist nicht nur das Fachliche, das Zusammenspiel mit Henkel oder dass Sammer mit seiner Vergangenheit als Spieler, Trainer und Funktionär ein großer Name des deutschen Fußballs ist, das hier funktioniert. Da ist noch was anderes, das man im Besprechungsraum in München, im Produktionsmobil und während der Sendung spürt: Sammer liebt den Auftritt, er ist ein Mann der Bühne. Das ist deshalb überraschend, weil man seine Lust am Spiel hinter all der demonstrativen Ernsthaftigkeit leicht übersieht. Auch die kleine Burleske, so zu tun, als würde er die Dortmunder Aufstellung nicht kennen, passt dazu. Als Experte, das ist nicht zu übersehen, hat er die Rolle seines Lebens gefunden.
Nach dem Spiel in Dortmund trifft Sammer unter der Tribüne zufällig Mario Götze, der an diesem Abend nicht eingewechselt wurde. Er steuert auf ihn zu und ohne ein Wort zu sagen, greift Sammer ihm kurz mit der Hand in den Nacken. Eine kurze, fast intime Geste ist das. Dann steigt Sammer in den Wagen, für heute ist der Auftritt vorbei.