Für 4 Minuten und 38 Sekunden war der FC Schalke 04 deutscher Meister 2001. Doch dann traf Andersson. Und die Hölle tat sich auf.
19. Mai 2001 | 17:18 Uhr
Im Parkstadion behält Trainer Huub Stevens die Fassung. Er hebt mahnend die Hände vor der Spielerbank, an der Nico van Kerckhoven vor Freude Klimmzüge macht. Dann pfeift Hartmut Strampe das Spiel ab. Mike Büskens schnappt sich nach dem Abpfiff den Spielball: „Das ist der Meisterball, den stecke ich in meine Tasche und gebe ihn nie wieder her.“ Stevens schickt die Spieler in die Kabine, die alte, nicht mehr funktionierende Rolltreppe hoch. Einige bleiben dennoch im Innenraum, zusammen mit Rudi Assauer, Andreas Müller und Aufsichtsratsmitglied Jürgen W. Möllemann in seinem Fallschirmspringeranzug.
Tausende im Stadion hängen nun an den Lippen zweier Männer, einer sitzt direkt in ihrer Nähe. „Das Spiel auf Schalke ist aus. Wir warten auf Vollzug“, kann Manni Breuckmann noch sagen. Doch dann sieht er von seinem Platz aus, wie die Menschen der Falschmeldung aufsitzen, dass in Hamburg schon Schluss sei. Immer wieder steht er auf, um die Leute zu informieren, zu beruhigen, wedelt mit den Armen. „Doch es brachte alles nichts. Keiner hat es in diesem Taumel mitbekommen. Mein Kollege Alex Bleick berichtete immer noch aus Hamburg, das Spiel lief, und ich war der Einzige in meinem Umkreis, der das mitbekam. Eine absurde Situation.“
Die Falschmeldung hat mehrere Etappen. Kurz nach dem Abpfiff auf Schalke heißt es zum ersten Mal, dass das Spiel in Hamburg ebenfalls zu Ende sei. Nico van Kerckhoven aber stürmt zu Rudi Assauer und ruft: „Es ist noch nicht aus!“ Assauer wird für alle Umstehenden zum Gradmesser, der Mann, der während der ganzen Saison gewarnt hat: „Wer vorher feiert, feiert umsonst.“ Schnell beruhigt sich alles, Fritz von Thurn und Taxis von „Premiere“ kommentiert: „Die letzte Befreiung fehlt noch.“ Doch dann kommt Assauers Geste: Ihm wird wieder mitgeteilt, das Spiel in Hamburg sei zu Ende, er macht einen Aufwärtshaken wie ein Boxer, neben ihm lächelt Jiri Nemec – für den Tschechen ein unglaublicher Gefühlsausbruch. Das Feuerwerk anlässlich des letzten Spiels im Parkstadion startet – doch selbst das Knallen der Raketen wird von der Geräuschkulisse im Stadion geschluckt. Fans stürmen den Platz, die Falschmeldung ist durchgebrochen und nicht mehr aufzuhalten. Just in diesem Moment erscheint ein Flimmern auf der Videoleinwand über der Südkurve, die eigentlich schon direkt nach dem Abpfiff in Gelsenkirchen anspringen sollte, aber einen technischen Defekt hatte. Die letzten Minuten aus Hamburg werden übertragen, viele halten es für eine Aufzeichnung. Doch das Spiel ist noch immer nicht aus.
Den Wahnsinn kann das nicht mehr stoppen. „Premiere“-Fieldreporter Rolf Fuhrmann gratuliert Andreas Müller zur Meisterschaft, hinter ihnen läuft das Spiel in Hamburg auf der Leinwand. „Ich weiß nicht, wie es steht“, sagt Müller. „Es ist zu Ende in Hamburg, Sie sind Meister“, entgegnet Fuhrmann. „Ganz großes Lob an den HSV. Ich liebe euch“, so Müller, dann wird ihm von Vereinsvertretern ein übergroßes Pilsglas überreicht. „Jedes Mal, wenn ich Fuhrmann danach getroffen habe, hat er sich bei mir entschuldigt. Ihm tat es sehr leid.“ Teile der Fans feiern den Titel, andere blicken zur Leinwand, nachdem sie gemerkt haben, dass dort doch keine Wiederholung läuft. „Es war, als würde man bei seiner eigenen Beerdigung zuschauen“, umschreibt es ein Fan.
Torwart Oliver Reck liegt da schon unterm Tisch in der Trainerkabine, wo die Spieler die letzten Minuten in Hamburg auf dem Bildschirm verfolgen. „Da passiert noch was“, sagt er zu Andreas Möller. „Ich weiß es, oh Gott.“ Als Kapitän Tomasz Waldoch zu den Medienvertretern gehen will, hält ihn Reck am Ärmel fest. „Tommy, es ist noch nicht vorbei!“
19. Mai 2001 | 17:20 Uhr
Patrik Andersson trifft für die Bayern zum 1:1. Bayern ist Meister. Die Nachricht geht direkt ins Blut. In der Südkurve sackt ein alter Mann zusammen, er sagt: „Ich wollte doch nur einmal Meister werden.“ Fritz von Thurn und Taxis ruft drei Wörter: „Um Gottes willen!“ Rudi Assauer winkt ab und taumelt Richtung Rolltreppe. Auf dem Rasen brechen viele Fans heulend zusammen, anderen fehlt die Kraft zum Weinen. Dem riesigen Konzert des Jubels wird der Stecker gezogen. Eine gespenstische Stille legt sich über das Stadion. Was man jetzt noch hört, ist das unaufhörliche Knallen der Raketen, es ist wie bei der Band, die auf der untergehenden Titanic spielt. Wer als Außenstehender diese Bilder sieht, muss Fritz von Thurn und Taxis’ Befürchtung teilen: „Hoffentlich tut sich keiner etwas an.“
Doch wer ist in diesem Moment noch Außenstehender? Der Schriftsteller Steffen Kopetzky ist Bayern-Fan und für die „Zeit“ vor Ort. In dem wohl besten Artikel über diesen Tag – er trägt den Titel „Schalke im Nacken“ – schreibt er: „Einsamer fühlte ich, der Bayern-Fan, mich nie, und verzweifelter, als in diesem Augenblick, als Schalke nicht mehr Deutscher Meister war.“
19. Mai 2001 | 17:25 Uhr
Auf dem Rasen trauern die Fans, in den Katakomben die Spieler, Ebbe Sand ist in sich zusammengefallen, er kauert auf dem Boden, Flaschen und Stühle fliegen durch den Trainerraum. „Bänke, Türen, Fernseher – nichts ist mehr heil geblieben. Zum Glück hat uns keiner die Rechnung geschickt“, sagt Marco van Hoogdalem. Youri Mulder lacht, ohne es zu wollen. „Es war so skurril. Ich habe mal mit einem Radrennfahrer gesprochen. Er sagte, dass bei Stürzen auf der Bergabfahrt die anderen Fahrer lachen. Aber nicht aus Schadenfreude, sondern weil sie so nervös sind und keine Kontrolle über ihre Emotionen haben. Genauso fühlte ich mich in diesem Moment.“ Jörg Böhme zündet sich eine Zigarette an. Rudi Assauer und Huub Stevens versuchen erfolglos, die Spieler zu trösten. Assauer wird Minuten später auf der Pressekonferenz den Journalisten berichten, in welche Augen er gesehen hat. „Erzählt mir nichts mehr davon, dass Fußballer nur eiskalte, berechnende Profiteure sind.“ Es folgt sein vielzitierter Satz: „Ich habe den Glauben an den Fußballgott verloren.“
„Dieser schnelle Umschlag vom höchsten Gefühl auf diese unendliche Trauer – das habe ich so noch nicht erlebt“, sagt Manni Breuckmann. Er bleibt nach dem Spiel noch minutenlang konsterniert auf seinem Reporterplatz sitzen. Manfred Hendriock, Redakteur bei der „Westfälischen Rundschau“, wird am kommenden Tag schreiben: „Es war, als wenn man das Liebste verliert, das man besitzt.“
Huub Stevens’ Gesichtszüge sind hart, sein Blick starr und die Worte klar. Er ruft die Mannschaft zusammen, gratuliert ihr zur Leistung der Saison und sagt: „Wir haben nächsten Samstag noch einen Titel, den DFB-Pokal, zu holen.“ Dann schickt er sie raus auf die Tribüne zu den Fans, die unten auf dem Rasen stehen. Minuten nach dem Tiefschlag schreit einer in die Stille. Es ist der simpelste, aber prägendste Ruf: „Schaaaaaalke!“ Er wiederholt ihn, immer mehr stimmen mit ein. Die Mannschaft steht gezeichnet auf der Tribüne, als „You’ll never walk alone“ gespielt wird, verliert selbst Huub Stevens den Kampf mit den Tränen. Stadionsprecher Dirk Oberschulte-Beckmann hat das Lied ausgewählt „Alle fühlten gleich, alle waren getroffen“, erinnert er sich. „Als wir dann zusammen sangen, war das ein unglaubliches Gefühl der Zusammengehörigkeit.“
Die Spieler treffen sich im Haus des Ersatztorwarts Frode Grodas. „Anfangs war es ganz ruhig, doch dann artete es in eine richtige Frustparty aus“, erzählt Ebbe Sand. Die Wohnung muss renoviert werden – und das nicht im sprichwörtlichen Sinn. Um die 200 Fans sind da noch auf dem Gelände des Parkstadions, sie schaffen es einfach nicht, nach Hause zu gehen. Da tritt Rudi Assauer aus seinem Büro auf den Balkon vor der Geschäftsstelle und hält eine flammende Ansprache – in nicht immer ganz verständlichem Ton.
Allein am Montagmorgen treten 500 Leute dem Verein bei, zum letzten Training vor dem Pokalfinale erscheinen 15 000 Anhänger. Schalke holt durch ein 2:0 gegen Union Berlin den Pott. Und im Schalker Block des Berliner Olympiastadions ist ein Plakat zu lesen: „Alles wird gut.“
Epilog
Menschen neigen dazu, bestimmte Ereignisse der Geschichte nicht beim Namen zu nennen, sondern nur beim Datum. Auf Schalke spricht man seither vom „19. Mai“. Dieser Tag machte aus dem Wunschtraum der Meisterschaft ein zwanghaftes Streben.
Es sind diese Momente, von denen sich die Schalker Fans auf Auswärtsfahrten immer wieder erzählen. Wo immer sie auch wohnen, wo sie herkommen und wie alt sie sind – ihre Biografien kreuzen sich an diesem Punkt. Jeder weiß, wie er diese 4 Minuten und 38 Sekunden erlebt hat.
Sie werden in den Jahren nach jenem 19. Mai zum Sisyphos des deutschen Fußballs und fortwährend erfolglos einen Stein den Meisterhügel hinaufschieben: 2005, 2007, 2010. Mannschaftsbetreuer Charly Neumann sagte einmal: „Ich hoffe, der liebe Gott lässt mich noch einmal mit der Meisterschale durch unsere Arena laufen.“ 2007, als Schalke die Meisterschaft beim Erzrivalen Borussia Dortmund verspielt, ist Charly Neumann schon schwer krank, doch er besteht darauf, nach dem Spiel zum Schalker Block geführt zu werden. Erst leise, dann immer lauter bricht sich der Jubel Bahn. Von Ordnern gestützt steht Neumann vor der Kurve, die Fans rufen minutenlang „Charly, Charly“, wie sie es schon in den achtziger Jahren nach den Abstiegen der Schalker getan haben.
Charly Neumanns großer Traum erfüllt sich nicht. Er stirbt am 11. November 2008.