Warum bekommen manche Spieler bei Länderspielen der Nationalmannschaft mehr Fanfrust ab als ihre Kollegen? Eine Psychoanalyse der deutschen Fanseele.
Mario Gomez nahm die Pfiffe gleichmütig hin. Eine schauspielerische Glanzleistung, die selbst Lee Strasberg Anerkennung abgenötigt hätte. Schließlich war der Stürmer aus Florenz im Revanchespiel gegen Argentinien ein paar Wochen nach der insgesamt ja ganz passabel verlaufenen WM derart gellend ausgebuht worden war, dass es selbst Bundestrainer Joachim Löw peinlich wurde. Hinterher übten sich die Gazetten und Funktionäre in vergeblichen Erklärungen für den erstaunlich hartnäckigen Hass, der Gomez bei Länderspielen nun schon seit Jahren entgegenschlägt.
Wutstarre, schon vor dem Anpfiff
Nun gibt es sicher ein paar Indizien für das kleingeistige Gepfeife. Als empirisch gesichert kann gelten, dass sich bei Länderspielen gerne jene komplexbeladene Klientel auf den Rängen versammelt, die uns im richtigen Leben als skrupellose Gebrauchtwagenhändler und Versicherungsvertreter begegnet. Eine Spezies, die sich schon vor dem Anpfiff in eine bemerkenswerte Wutstarre ereifern kann, wenn auch nur einer der Spieler, womöglich auch noch mit Migrationshintergrund, bei der Nationalhymne nicht ergriffen mitsingt. Jedes Länderspiel ein nationales Hochamt, auf Augenhöhe mit Sedantag und Hambacher Fest.
Es ist dies ein Publikum, das im vierten Stern keine nette Stickerei sieht, sondern eine quasimilitärische Auszeichnung, die auch dann mit unbändigem Stolz getragen wird, wenn der eigene Beitrag zum Titel darin bestanden hat, mit Erdnüssen und Fernbedienung in der Pranke das Sofa durchzusitzen.
Nationalheld Miro Klose
Dieses Publikum hat natürlich auch klarste Vorstellungen, wem es seine Sympathien gewährt und wem nicht. Natürlich will es für sein Geld Zauberpässe und Traumtore en gros sehen und applaudiert, wenn ein Interzonenpass von Mats Hummels tatsächlich mal ankommt, wirklich geliebt werden jedoch nur die braven Rackerer wie Miro Klose und Bastian Schweinsteiger. Letzterer ist erst durch das WM-Finale zum Nationalhelden aufgestiegen, in dessen Verlauf der Münchner ein ums andere Mal von seinen Gegenspielern Augenbrauen und Patellasehnen gelocht bekam und doch immer wieder quicklebendig um die Ecke gebogen kam wie Max Cady auf dem Hausboot.
Klose wiederum wird ja nicht vorwiegend wegen seiner 500 Länderspiele und 17 WM-Teilnahmen verehrt, sondern weil sich die Volksseele in allem, was ihn ausmacht, so wunderbar wiederzufinden glaubt. Aufgewachsen in Kusel, was zwar im Nordpfälzer Bergland liegt aber hübsch nach Mosel klingt, passionierter Angler, immer hübsch bescheiden, aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet, keine Skandale. Und da war schließlich diese Szene in Wortmanns „Sommermärchen“, als Klose eine allzu kühne Hairstylistin ausbremste und am Ende wieder mit seinem klassischen, seit Jahrzehnten erprobten Egalschnitt ins Mannschaftshotel zurückwankte. Schau an, das ist ja genauso wie bei mir, denkt sich der Fan auf dem Schalensitz und schwenkt begeistert das Fähnchen.
Wer die Liebe des Publikums zu Klose und Schweinsteiger sieht, begreift, warum Mario Gomez ein bemerkenswert naheliegender Sündenbock ist, wenn mal bei einem Länderspiel nicht alles glatt läuft. Ein junger Mann von viel zu gutem Aussehen und einer Frisur, die tragischerweise auch bei Starkregen über 90 Minuten besser sitzt als auf den Plakaten beim Bahnhofsfriseur. Ein Spieler, dessen betont aufrechter Gang so wenig dem Idealbild des im Sperrfeuer des unsichtbaren Gegners geduckt vorpreschenden deutschen Landsers entspricht. Und ein Stürmer, der, zugegeben, in letzter Zeit in der Nationalelf öfter mal den Party-Crasher gespielt hat und nun schon seit zwei Jahren auf ein Tor im schwarzweißen Dress wartet.
Wobei natürlich lustig ist, dass sich heute noch schmerbäuchige Stammtischler mit Schaum in den Mundwinkeln über Gomez vergeigte Chance gegen Österreich 2008 echauffieren können, ihrerseits jedoch wegen auffälliger Spreizfüße schon in der G‑Jugend aussortiert wurden. Klar ist jedenfalls: Gäbe es Gomez nicht, würde es mit Sicherheit jemand anderen aus der Nationalelf treffen, vielleicht Mesut Özil, vielleicht auch Mats Hummels, der für Volkes Geschmack auch schon wieder viel zu gut aussieht und dessen Schlaumeierei in den Interviews die Fanseele regelmäßig überfordert.
Woher die Verehrung für Buchwald?
Freilich gab es das natürlich schon früher, dass Sympathie und Abneigung sehr ungleich verteilt wurden. In der WM-Elf von 1990 etwa wurden kreuzbrave Kämpfer wie Andi Brehme und Guido Buchwald vom Fanvolk heiß geliebt. Buchwald konnte sich nach seinem Übersteiger im Achtelfinale, bei dem sich der Mann beinahe beide Füße gebrochen hätte, vor kultischer Verehrung kaum retten.
Jürgen Klinsmann hingegen, der wegen seines VW-Käfers als Intellektueller und wegen der allzu langen Haare als Revoluzzer verdächtigt wurde, war den Anhängern zutiefst suspekt. Als Teamchef Franz Beckenbauer nach dessen Weltklassepartie gegen Holland im ARD-Interview missgünstig ins Mikro sprach, Klinsmann habe „weit über seine Verhältnisse gespielt“, traf das ziemlich genau die Empfindungen der Massen. Gomez kann also Trost darin finden, dass Sympathiebekundungen und Aversionen des Publikums Jahrzehnte alten und dabei erstaunlich stumpfen Regeln folgen.
Nun ist es eine erstaunliche charakterliche Deformation des Länderspielpublikums, einen Spieler aus den eigenen Reihen niederzupfeifen. Was jedoch die Auswahl der Lieblinge angeht, unterscheiden sich Nationalelf und Klubfußball tatsächlich nur in Nuancen. Auch in den Vereinen sind es in aller Regel erdverbundene und vereinstreue Kämpfertypen, denen hysterische Verehrung von den Rängen zuteil wird. Wer hingegen auch nur den vagen Eindruck erweckt, sein letzter Blick in der Kabine sei ein prüfender in den Spiegel, hat beim Publikum schon verloren.
Jeder liebt Uns Uwe
Als Blaupause des Volkshelden gilt dabei seit den sechziger Jahren der gute Uwe Seeler, der nicht nur auf dem Platz stets den treuen Rackerer gab, sondern sich obendrein auch als Lokalpatriot erster Kajüte inszenierte. Anstatt mal ein wenig Auslandserfahrung zu sammeln, schlug HSV-Mann Seeler einst ein prächtig dotiertes Angebot von Inter Mailand aus, was heute noch als heimlicher Höhepunkt der Hamburger Stadtgeschichte verklärt wird. Die Kriterien sind inzwischen notgedrungen ein wenig gelockert, heute gilt bereits eine Vereinszugehörigkeit von mehr als zwei Jahren als Ausweis besonderer Charakterfestigkeit. Wer dann auch noch einem zünftigen Tackling von hinten in die Beine des Gegners nicht abgeneigt war und sich beim Friseur beharrlich für einen unspektakulären Fassonschnitt entschied, konnte sich vor der Zuneigung des Publikums kaum retten.
Das führte etwa dazu, dass in Dortmund zwei, nun ja, semitalentierte Kicker wie Norbert Dickel und Jürgen Kohler zu Volkshelden avancierten. Dickel gilt bis heute als menschgewordene Opferbereitschaft, seit er im Pokalfinale auflief, zwei Tore schoss und sich anschließend bereitwillig in die Sportinvalidität verabschiedete. Und Jürgen Kohler verstand sich eben doch auf nichts so gut wie auf die eingesprungene Fluggrätsche. Der brave Jürgen beendete dann seine Karriere auch ganz klassisch mit einer Roten Karte, nachdem er im UEFA-Cup-Endspiel gegen Rotterdam einen Gegenspieler im Strafraum mitleidlos umgesenst hatte. Der Dortmunder Fanblock verabschiedete den Kokser mit donnerndem Applaus.
Dank Wampe zum Liebling der Massen
Zwei bis fünf Niveaustufen tiefer avancierte derweil in Düsseldorf der eher unbeholfene Fußsoldat „Karlo“ Werner zum Liebling der Massen. Mit Tränen der Rührung in den Augen skandierten die Fortuna-Anhänger „Karlo Werner Fußballgott“ und einige Spassekenmacher errangen mit der DKP („Deutsche Karlo Partei“) sogar einen Sitz im örtlichen Studentenparlament. Ähnliche Verehrung genoss Exilschwabe Günther Schäfer in Bielefeld für seine rustikale Spielweise, die im Wesentlichen darin bestand, meterweise Anlauf für furchterregende Grätschen zu nehmen. Wobei die Bielefelder in den Jahren zuvor nie besonders wählerisch in ihrer Gunst gewesen waren. Gehuldigt worden war Spielern wie dem Landesligaakteur Andre Neustädter, einem storchartigen Stürmer, dem bei Kopfbällen stets knapp die Eier aus der Hose lugten, und dem Neuzugang Thorsten Köppe, der die Massen dadurch für sich gewann, dass er nach seinem allerersten Tor beseelt auf den Fanblock zurannte, sein Trikot hochriss, worauf darunter eine ansehnliche Wampe zum Vorschein kam.
Da schwang dann schon immer ein wenig verzweifelte Ironie mit, wie auch beim FC St. Pauli, dessen Anhänger nach der Verpflichtung von Leonardo Manzi zunächst entsetzt feststellten, dass der Klub offenbar den einzig hüftsteifen Brasilianer weltweit unter Vertrag genommen hatten, dann aber den auf und neben dem Platz sichtlich überforderten Leo in ihr Herz schlossen.
Wo Liebe ist, ist natürlich auch Hass und davon reichlich. Kaum ein Publikum, das nicht diverse Intimfeindschaften zu auswärtigen Akteuren pflegt. Viele zerrüttete Beziehungen sind über Jahre gewachsen. Wenn etwa Mannheim früher in Kaiserslautern spielte, musste Waldhof-Spieler Karl-Heinz Bührer nur die Nasenspitze aus der Kabine stecken, schon erlitten Lauterer Rentner reihenweise Herzinfarkte. Einer wie Stefan Effenberg polarisierte schon deshalb, weil er ja gern auswärtige Stadien mit einer derart hochmütigen Miene betrat, als besichtige ein Herzog seine heruntergekommenen Latifundien.
Kirsten brauchte den Hass
Teamkamerad Oliver Kahn badete gar genüsslich in der Abneigung, die ihm von der Tribüne entgegenschwappte, wie andere in Eselsmilch. Stürmer Fatmir Vata wiederum schaffte es binnen Minuten von ganzen Stadien gehasst zu werden, in dem er sich selbst bei ganz offensichtlich ausgebliebenem Feindkontakt stets so schmerzverzerrt im Strafraum zu Boden warf, als habe ihm gerade ein MG ein Sieb in den Hintern geschossen. Und Ulf Kirsten fühlte sich regelrecht demotiviert, wenn dem Fanblock bei seinem Anblick nicht das Halskabel schwoll. Sein Bonmot „Wenn bei einem Auswärtsspiel keiner ruft ‚Kirsten, du Arschloch‘, dann weiß ich genau, dass ich schlecht bin“, hätten auch Kahn und Effenberg unbesehen signiert.
Andere fühlten sich gänzlich unschuldig in Not gebracht, bloß weil sie kurzfristig den Arbeitsplatz gewechselt hatten. Andi Möller etwa konnte überhaupt nicht verstehen, warum ihm sowohl auf Schalke als auch in Dortmund sein Wechsel nach Gelsenkirchen übelgenommen wurde. Damit hatte es sich Möller, auch das eine Kunst, wirklich mit allen Anhängern bundesweit verdorben, in den anderen Stadien war er schon zuvor gellend ausgepfiffen worden. Überhaupt scheint heute nichts mehr so die Massen zu erregen wie unbotmäßige Vereinswechsel, vorwiegend zum FC Bayern.
Vielleicht hilft Gomez eine neue Frisur?
Manuel Neuer, von dem sie auf Schalke gedacht hatten, dass sie ihn mit 65 Jahren mit Zinnteller in den Ruhestand verabschieden würden, kann ebenso ein Lied davon singen wie Mario Götze, der wenig überraschend dem Kollegen Gomez beisprang. Schließlich wird Götze selbst, der verlorene Sohn der Borussia, bei Gastspielen des FC Bayern in Dortmund so entschlossen ausgebuht, dass Borussia-Boss Watzke beschwichtigend eingreifen musste.
Eine innige Liebesbeziehung wird also nicht mehr entstehen zwischen Mario Gomez und dem Publikum der Nationalelf. Es sei denn, Gomez korrigiert sich, schießt gegen Gibraltar das entscheidende 4:0, lässt sich anschließend beim elegischen Angeln fotografieren und bittet beim nächsten Friseurbesuch um einen schlichten Fassonschnitt. Dann könnte es ganz eventuell doch noch was werden.