Die Verantwortlichen des FC St. Pauli haben nach den Vorkommnissen im Stadtderby ein Law & Order-Maßnahmenpaket beschlossen. Damit geben sie dem öffentlichen Druck nach und stellen das höchste Gut des Klubs in Frage.
Zweieinhalb Wochen haben sie sich Zeit gelassen in den Führungsgremien des FC St. Pauli. Zweieinhalb Wochen, die laut eigenen Angaben für einen „breit angelegten Dialog“ genutzt wurden, um die Vorkommnisse beim Derby aufzuarbeiten, um mit Behörden, Gremien und der Fanszene zu sprechen. Zweieinhalb Wochen, an deren Ende ein Maßnahmenpaket steht, das den Klub ordentlich durchschütteln dürfte.
Klar ist, dass die Verantwortlichen in irgendeiner Form reagieren mussten. Presse und Sponsoren verlangten danach. Doch das Endprodukt, die Maßnahmen, sind kein bloßes Ruhigstellen. Im Gegenteil. Sie gehen auf diejenigen Kritiker ein, die nach dem Derby Bodyscanner forderten und von traumatisierten Kindern berichteten. Also diejenigen, die vielleicht ohnehin nicht ganz nach St. Pauli passten. Bodyscanner wird es vermutlich trotzdem nicht geben, doch die Verantwortlichen kündigen eine „quantitative Aufstockung des Sicherheitspersonals“ an, „Umbauten im Eingangsbereich der Südkurve“ und „intensivere Kontrollen beim Zugang“ zur selben. Des Weiteren sollen „Fangruppierungen der Südkurve“ an den Kosten für brandschützende Maßnahmen beteiligt werden. Zu guter Letzt kommt es zu einer „Verringerung des von Fangruppen in der Südkurve selbstbestimmt verwalteten Kartenkontingents für die Südkurve. Diese Karten gehen in den freien Verkauf.“ Damit kann eigentlich nur Ultrá Sankt Pauli (USP) gemeint sein.
Es sind Kollektivstrafen des Vereins für die eigenen Fans, die mehrheitlich ebenfalls Opfer und nicht Täter der Aktionen waren. Deren letztes Ansinnen es ist, ihrem Klub Schaden zuzufügen.
Die Machtdemonstration des Privilegienentzugs
Zweimal hat St. Pauli zuletzt 0:4 verloren. Den Ultras und der überwältigenden Mehrheit auf der Südtribüne, die jetzt bestraft werden, ist das nicht egal. Im Gegenteil, ihnen tun die Niederlagen wahrscheinlich am meisten weh, weil der Verein für sie alles bedeutet. Trotzdem stehen sie Spieltag für Spieltag, Wochenende für Wochenende an ihrem Platz und schreien sich 90 Minuten lang für ihren Klub die Seele aus dem Leib. Bislang jedenfalls. Denn vielleicht bekommen sie jetzt keine Karten mehr. Und mehr noch: Mit den angekündigten Maßnahmen stellt sich das, worauf sie ihre Liebe projizierten, gegen sie. Bislang beruhte diese Liebe auf Gegenseitigkeit. Die Maßnahmen hingegen kündigen sie einseitig auf. In guten wie in schlechten Zeiten bleibt von Vereinsseite ein uneingelöstes Versprechen.
Die Karten neu zu vergeben, ist der gravierendste Schritt, der in dem angekündigten Maßnahmenpaket enthalten ist. Aus mehreren Gründen. Erstens stellt er den ultimativen Vertrauensentzug dar. Der Verein traut USP nicht mehr zu, die Südtribüne zu regulieren und bestraft sie durch die Machtdemonstration des Privilegienentzugs. Zweitens stellt der offene Verkauf des zusätzlichen Kontingents die Struktur und Zusammensetzung in Frage, die den Charakter und den Support der Tribüne ausgemacht haben. Potentiell stehen dort in Zukunft jene Leute, die 85 von 90 Minuten die Klappe halten und beim ersten Rauchtopf rufen „Ihr seid Scheiße, wie der HSV“. Fußballtouristen, die wegen des Images ans Millerntor kommen und das Selbstverständnis doch nicht begriffen haben. Jene, die solche Maßnahmen forderten, die jetzt eingeführt werden. Die Gegengeradisierung der Südtribüne hat begonnen. Drittens, und das könnte sich als Boomerang erweisen, der die Verantwortlichen mit voller Wucht am Hintertotenkopf trifft, arbeitet der Verein dadurch aktiv an der Zersetzung seines wertvollsten Guts – der Fanszene, die den Mythos St. Pauli geschaffen hat.
Sportlich hat die Mannschaft, das haben nicht erst die beiden jüngsten Niederlagen bewiesen, nicht allzu viel zu bieten; sie stagniert, wenngleich auf höherem Niveau als in den letzten Jahren. Aber St. Pauli war und ist Kult, Freibeutermentalität, Magie. Ein Fetzen Utopie in der sich selbst zunehmend entzaubernden Fußballwelt. Das hatte der Verein auch begriffen, als er 2009 seine Leitlinien verabschiedete. Darin heißt es: „Die aktive […] Fanszene bildet das Fundament für die Emotionalisierung des Fußballsports, welche wiederum die Grundlage der Vermarktungsfähigkeit des FC St. Pauli darstellt.“ Im jüngsten Statement ist dieses Bekenntnis zu einem mageren „Der FC St. Pauli wird den Weg des Dialogs mit der Fanszene nicht aufgeben, auch wenn das vom Verein entgegengebrachte Vertrauen während des Derbys von Teilen der Fanszene in der Südkurve missachtet worden ist“, zusammengeschrumpft. Wir sind enttäuscht, soll das heißen. Aber es heißt auch: Wir haben hier das Sagen. Autoritäres Machtgebaren wo Toleranz und Respekt in den Leitlinien stehen.
Süd sehen und sterben
Das Fundament scheint obsolet geworden. Anders ist es nicht zu erklären, dass es jetzt mit dem Presslufthammer aufgebrochen wird. Doch ein Image erhält sich nicht selbst, es ist kein passives Gut. Im Gegenteil bedarf es eines aktiven Prozesses, der Imagepflege. Die hat in der Vergangenheit die aktive Fanszene übernommen. Sie durch die angekündigten Maßnahmen zu zersetzen und auf Konfrontationskurs mit ihr zu gehen, wird diesen Prozess empfindlich stören. Wer nachrückt, genießt das Image lediglich; Flaneure, die sich im widerständigen Glanz von St. Pauli sonnen – und ihm dadurch die Strahlkraft nehmen.
Natürlich ist ein Klub, der nur sein Image hat, auf Dauer auch nur als Marketingvehikel erfolgreich. Doch den Nachrückern wird es egal sein, solange sie die „wahre“ St.-Pauli-Experience bekommen. Süd sehen und sterben. Die aktiven Fans sind es, denen beides am Herzen liegt. Die ihre Mannschaft siegen sehen wollen und mit ihrer Unterstützung alles daran setzen, ihr dabei zu helfen. Die den Kult geschaffen haben und ihn weiter befeuern. Weil sie den Klub lieben und nicht nur sein Image.
Über die sportliche Talfahrt, die nicht vorhandene Entwicklung der Mannschaft und die negative Tordifferenz haben die Verantwortlichen in den letzten Wochen kaum ein Wort verloren. Wenn es das ist, was sie mit ihrem Maßnahmenpaket erreichen wollen, dann sind sie kurzfristig auf einem guten Weg. Langfristig sägen sie an dem Ast, auf dem nicht nur sie selbst sitzen, sondern ein ganzer Fußballklub.