Romario galt als Genie des Strafraums, aber auch als unausstehlicher Egomane. Bis zur Geburt seiner Tochter. Eine Würdigung zum 50. Geburtstag.
Wie wollen wir sein, wenn wir mal 50 sind?
Weise. Erfahren. Abgeklärt. Klüger als wir es mit 30 waren. Wir wollen aus Fehlern gelernt haben. Aus den großen Lebenskrisen gestärkt hervorgegangen sein. Wollen auf ein bewegtes Leben zurückschauen, unseren jugendlichen Leichtsinn belächeln und bewundern. Uns vielleicht über Fehltritte ärgern, aber nicht mehr schämen. Dieses warme Gefühl verspüren, wenn man vielleicht nicht immer alles richtig gemacht hat, aber doch vieles. Und dabei denken: Schön war es bis hierher. Aufregend. Selten langweilig. Aber jetzt geht das Leben erst so richtig los.
Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an Romario de Souza Faria nehmen.
Der wird heute 50 Jahre alt. Und blickt auf ein Leben zurück, dass für 50 andere gereicht hätte. Als Fußballer ein Genie, ein Jahrhunderttalent. 1000-Tore-Stürmer und Weltmeister. Aber auch unberechenbare Diva, der seine Trainer in den Wahnsinn trieb und Kollegen beschimpfte. Ein Egomane vor dem Herrn. Und als Mensch viele Jahre eine gespaltene Persönlichkeit, die den Rausch brauchte, um sich lebendig zu fühlen. Auf dem Fußballplatz, auf der Tanzfläche, an der Theke, vor der Kamera. Wenn andere ein Leben auf der Überholspur führten, dann war Romario der komplett Irre, der mit seinem verchromten Sportwagen auf dem Seitenstreifen vorbeizog.
Er hatte so viel Talent, er konnte alles auf die leichte Schulter nehmen
Dann, im Frühjahr 2005, wurde Romario mal wieder Vater. Es war Kind Nummer sechs von Frau Nummer vier. Die kleine Ivy kam mit dem Down-Syndrom zur Welt. Und Romario, der Mann, dem der liebe Gott so viel Talent in die Wiege gelegt hatte, dass er alles auf die leichte Schulter hatte nehmen können – knüppelharte Gegenspieler, den Profifußball, ein Leben am Limit – war plötzlich mit einem Problem konfrontiert, dass er nicht einfach so ausdribbeln konnte. Das Problem war nicht Ivy. Sondern wie man als Elternteil damit umgeht, wenn das eigene Kind mit Trisomie 21 geboren wird.
Romario hätte es so machen können wie bei der Geburt seines Erstgeborenen. Als seine damalige Frau Monica in Barcelona mit Romarinho in den Wehen lag, befand sich Romario auf Heimaturlaub in Brasilien. Und dachte gar nicht daran, den vorzeitig abzubrechen. Es war Romarios Sturmpartner Hristo Stoitchkov, der sich mit seiner Gattin um die hochschwangere Monica kümmerte. Als der nur 1,69 Meter große Romario Tage später endlich in Barcelona einflog, begrüßte ihn Stoitchkov am Flughafen: „Dein Sohn ist jetzt schon größer als du.“
Am 27. April 2005, einen Monat nach der Geburt von Tochter Ivy, machte Romario sein letztes Spiel für die brasilianische Nationalmannschaft. Beim 3:0 gegen Guatemala gelang ihm ein Tor. Per Kopf. Anschließend zog er sein Trikot über den Kopf und streckte die Finger in den Himmel. Nicht wie damals bei der WM 1994, als er Brasilien mit fünf Treffern zum Titel schoss und seine Tore mit erhobenen Zeigefinger bejubelte. Eine Geste, die durstige Kunden an der Theke imitieren sollte und von einer Brauerei bezahlt wurde. Nein, 2005 stand auf Romarios T‑Shirt eine Botschaft an den Rest der Welt: „Ich hab ein kleines Mädchen, das hat Down-Syndrom und ist eine Prinzessin.“ Anschließend sagte er: „Mir wurde ein wunderbares kleines Mädchen geschenkt, das mir vor Augen geführt hat, wie dumm und arrogant ich war, ein echter Egomane. Es ging immer nur um mich. Ivy hat das alles geändert, sie hat mir die Augen geöffnet.“
Vielleicht war es das erste Mal, dass Romario wirklich etwas mitzuteilen hatte, was nicht von seinen Füßen produziert worden war.
Vor Ivy war Romario der vielleicht beste Stürmer seiner Zeit gewesen. Er wusste das, die anderen wussten das. Er sagte Sätze wie: „Als ich geboren wurde, hat der große Mann im Himmel auf mich gezeigt und gesagt: ›Hier, das ist der Typ‹.“ Und andere, wie Johan Cruyff, bestätigten ihn darin. Er sei ein „Genie des Strafraums“, ein Geschenk Gottes. Das Gute an der Sache: So spielte er auch. Fünf Jahre lang dominierte er beim PSV Eindhoven, schoss insgesamt 174 Tore, wechselte 1993 zum FC Barcelona, wurde Torschützenkönig und stieg zum besten Fußballer der Welt auf.
Das Problem an der Sache: Romario war sich seiner Ausnahmebegabung nur zu sehr bewusst. Spätestens nach seinem Abschied aus Barcelona 1995 (natürlich im Streit), als er den Zenit seiner Schaffenskraft bereits überschritten hatte, suhlte sich der kleine Mann mit den Säbelbeinen im Matsch des Enfant terribles. Er verkrachte sich häufiger mit seinen Trainern und Klubpräsidenten als Carsten Jancker Tore für Deutschland schoss. Bezeichnete Trainingseinheiten launig als „Kalorienverschwendung“. Konterte leise Kritik an seiner, nun ja, eher weniger professionellen Einstellung zu seinem Job mit prahlhansigen Worten aus der Kategorie „Höchst unangenehm“ („Meine Mitspieler können mich mal. Die Nacht war schon immer meine Freundin“). Verprügelte vorlaute Fans, spuckte große Töne und raste weiter auf dem Seitenstreifen des Lebens durch die Jahre. Mit verspiegelter Sonnenbrille und Stinkefinger für jeden anderen Verkehrsteilnehmer.
Er schoss noch immer wunderbare Tore, die aber nur noch für Klubs aus Brasilien und nicht mehr in den großen Ligen Europas oder auf der Bühne Weltmeisterschaft. 1998 sortierte ihn das Trainerduo Mario Zagallo und Zico verletzungsbedingt kurz vor Turnierbeginn aus, was Romario dazu veranlasste, Nationalheld Zico mit schweinischen Schmierereien auf den Toilettenwänden seiner Sportsbar zu verunglimpfen. Und seine Nichtberücksichtigung für die Weltmeisterschaft 2002 motivierte ihn zu einer bizarren Pressekonferenz, bei der er dreimal in Tränen ausbrach.
Ehe Romario 2005 Vater der kleinen Ivy wurde, muss er ein ziemlicher Stinkstiefel gewesen sein.
Seine Tochter und ihr Handicap erfanden den egozentrischen Super-Fußballer neu. Plötzlich sagte er Sätze wie: „Es ist wichtig, Dinge zu geben, ohne zu erwarten, dass man etwas zurückbekommt. Ich habe früher sehr viel falsch gemacht.“ Er engagierte sich für seine Tochter, und lernte viel über Familien, die sich mit dem Down-Syndrom auseinanderzusetzen hatten. Er gehörte ja jetzt selbst dazu. Seine sportliche Karriere ging so zu Ende, wie sich das für einen Spieler mit seiner Genie-und-Wahnsinn-Attitüde gehörte: Im Mai 2007 schoss er sein 1000. Tor, im Oktober wurde er auf die verbotene Substanz Finasterid getestet, die sich offenbar in einem Pflegemittel gegen Haarausfall befunden hatte. Im Frühjahr 2008 gab Romario das Ende seiner Laufbahn bekannt. Ein Jahr später lief er noch einmal für den Unterklassen-Klub Amerika FC auf. Aber nicht für den schnöden Mammon. Sondern um seinem Vater, Fan des Vereins, einen Traum zu erfüllen. Das war schon ein ganz anderer Romario.
Seit 2009 ist der frühere Dribbelkünstler und Strafraumgeist in der Politik. Natürlich wurde sein Engagement zu Beginn belächelt. Ihm, dem Jungen aus der Favela, dem Fußball-Großmaul, trauten die meisten nicht zu, sich in der von Korruption verseuchten nationalen Politik durchzubeißen. Doch wenn es wirklich stimmt, dass Camus alles, was er über Moral und Verpflichtung wusste, dem Fußball zu verdanken hatte, dann hatte Romario gelernt, mit Volldampf in seine Gegenspieler zu stürmen und den Abschluss zu suchen. 2010 wählten ihn 146.000 Bürger von Rio de Janeiro in den Kongress, so viele Stimmen hatte kein anderer in seiner Partido Socialista Brasileiro erhalten. Ein halbes Jahr später brachte er ein Gesetz auf den Weg, das seitdem Eltern von Kindern mit Down-Syndrom eine bezahlte Elternzeit garantiert.
Einer seiner größten Erfolge. Sagt Romario, der Weltmeister.