Vor dem Spitzenspiel gegen RB Leipzig träumt der Anhang des 1. FC Kaiserslautern schon wieder von der 1. Bundesliga. Dabei ist der einst so glorreiche Klub längst ein stinknormaler Zweitligist.
Dieser Artikel ist Anfang September 2014 im „11FREUNDE Spezial: Zweite Liga“ veröffentlicht worden und erscheint hier in unveränderter Fassung erstmals online.
Deutschland ist Weltmeister, und in der Saison danach wird der FCK Deutscher Meister. Ein Szenario, das sich so nicht wiederholen wird, schon klar.
Denn was 1990/91 bereits eine Sensation war, ist 24 Jahre später nicht mal mehr eine theoretische Möglichkeit. Die Welt ist eine andere, der Fußball sowieso. Und der 1. FC Kaiserslautern im Jahr des dritten deutschen Weltmeistertitels nach Fritz Walter nur noch ein ziemlich gewöhnlicher Zweitligaklub.
Dieser Satz erschreckt nach wie vor viele, nicht nur Lauternfans. Aber wie soll man einen Verein nennen, der sieben der letzten neun Jahre in der Zweiten Liga gespielt hat? Der seit vier Spielzeiten beständig weniger Zuschauer anzieht? Der sein berühmtes Stadion vergangenes Jahr nicht ein einziges Mal ausverkaufen konnte? Der aktuell einen Angstgegner namens Sandhausen kultiviert? Die Fakten sprechen für sich, eigentlich. Das Problem ist nur, das Gedächtnis ist träge und das Herz vergisst am langsamsten.
Rückblende, 1996. Der erste Abstieg und Andi Brehme weinte, als wäre es sein letzter Tag auf Erden. Es schien tatsächlich: The end of the world as we knew it. Was seit den Sechzigern immer wieder gedroht hatte und immer wieder abgewendet werden konnte, das war nun, nach 33 Jahren, doch eingetreten: der FCK zweitklassig. Echt?
„Die Lichter wären komplett ausgegangen“
„Wenn wir einmal abgestiegen wären“, so sagte es mal Wolfgang Schnarr, Lauterns Keeper in der Bundesliga-Frühzeit, „nur einmal, dann wären die Lichter komplett ausgegangen.“ Es sei ja nichts dagewesen außer einem Stadion mit klappriger Holztribüne und Gemeinschaftsdusche für beide Teams, und an der Bande warben Getränke-Koch und Pfaff Nähmaschinen. Ein enormer Druck, die schon damals unwahrscheinliche Geschichte weiterzuschreiben, dem Mythos Fritz Walter gerecht zu werden. Ein Druck, unter dem Schnarr schließlich zurücktrat. Die Nerven.
Wenn der FCK absteigt, dann stirbt die Region. Kein Satz, der öfter beschworen worden wäre. Von Mannheim bis Trier, vom Saarland bis in den Hunsrück kommen sie alle zwei Wochen in das Städtchen im Pfälzer Wald, um die Roten Teufel zu sehen. Und nun? Stellte sich heraus, dass alles halb so wild war. Beim ersten Mal jedenfalls.
Zwei Jahre später war Lautern wieder da und wie! Ein Meister wie aus dem Märchen, wer könnte es je vergessen. 2006 sollte die eigentliche Zäsur werden, aber letztlich waren es auch das Jahr 1996 und die Folgen, die den Klub dahin geführt haben, wo er jetzt ist. Die Hybris von Atze Friedrich, Otto Rehhagel & Co., vom Triumph und sich selbst berauscht, mit dem Gefühl, dass es von nun an keine Grenzen mehr gibt. Die Bayern herausfordern! Sie dachten, sie würden mit all dem durchkommen. All das, was ab der Jahrtausendwende passiert ist – die Mauscheleien, die Protzigkeit, der Stadionumbau für die WM, der Ausverkauf –, ist hinlänglich analysiert worden. Bloß dieser Gedanke noch: Vielleicht kein Zufall, dass der Niedergang in dem Moment begann, als die Region keine mehr sein wollte. Als vom kleinen Betzenberg aus die Welt erobert werden sollte.
Obwohl die Trainer immer häufiger wechselten, die Spieler nach Miro Kloses Abschied immer beliebiger wurden, entstand in den Nuller-Krisenjahren vorübergehend ein neuer Unsterblichkeitsmythos. Irgendwie gelang es dem zerrissenen Team wieder und wieder, dem Teufel von der Schippe zu springen und in der Bundesliga zu bleiben. Und selbst als es schiefging, 2006 im Abstiegsendspiel beim VfL Wolfsburg, fehlte ja nur ein Tor, so konnten sich die stolzen Pfälzer einreden. Natürlich fehlte viel mehr, schon all die Jahre zuvor. Doch der Ergebnissport Fußball lädt eben zur Verklärung ein, gerade wenn du vor drei Jahren noch im Pokalfinale warst und vor acht Jahren Meister.
Nur ein Tor also. Kommt einem bekannt vor. Daher jetzt ein weiter Satz bis in den Mai 2013 – als der FCK in zwei Relegationsspielen um den Wiederaufstieg kämpfte. Es ging um alles, mal wieder. Lautern musste unbedingt zurück nach oben, wegen des Geldes und überhaupt.
Also Hoffenheim. Die klassische urpfälzische Konstellation, „wir da unten gegen die da oben“. Ein Kampf der Systeme, der die Leute mobilisierte: geballte Tradition hier, einer dieser seelenlosen Retortenklubs dort. Damals Wolfsburg, nun Hoffenheim. Die echte Provinz gegen die falsche. Und wieder fehlte nur ein Tor, oder? Gut, beim 1:3 in Hoffenheim waren sie ohne Chance, aber hätte Mo Idrissou bei seinem vermeintlichen Treffer zum 2:1 im Rückspiel nicht im Abseits gestanden, dann, ja dann … Nein. Der 1. FC Kaiserslautern hat in zwei Spielen mit insgesamt 2:5 verloren, und zwar verdient. Hoffenheim war mit einem Plan angereist, einem Trainer mit einer Idee und einem jungen Team, das diese Idee verstand und mutig umsetzte. Der FCK war vor allem mit einem Credo angetreten: Es ist Flutlicht, es ist Betze, da ist alles möglich.
Ob Mo Idrissou weiß, wer Fritz Walter ist?
Spätestens hier muss die Frage erlaubt sein, ob alle Beteiligten – Verantwortliche wie Fans – mit ihrer reflexhaften Rückwärtsgewandtheit nicht eigentlich mehr hemmen als antreiben. Mit der Beschwörung von Tradition und sogenannter Tugenden, mit denen allein du heute keinen Blumentopf mehr gewinnst. Ob Mo Idrissou weiß, wer Fritz Walter ist? Muss er das überhaupt wissen?
Zuletzt berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über Unregelmäßigkeiten beim Rückkauf des Nachwuchsleistungszentrums und konstatierte ein „Finanz-Harakiri“. Zuletzt hat es die Mannschaft nicht mal mehr auf den Relegationsplatz geschafft, obwohl es so leicht gewesen wäre wie nie. Das ist die Realität. Wo aber ist die Idee, die Vision? Wo ist der Matchplan, auf dem Platz und außerhalb? Jetzt, wo es nicht mehr anders geht, soll auf den eigenen Nachwuchs gesetzt werden. Jetzt ist ein Sportdirektor verpflichtet worden, Markus Schupp; einer mit jenem Stallgeruch, der angeblich so wichtig ist, warum auch immer. Mal sehen, was draus wird.
Einstweilen steht eine Zahl, die Angst macht: 72. Oder in Worten: Amedick, Bilek, Lakic, Dzaka, Damjanovic, Fuchs, Sam, Abel, Dick, Reghecampf, Husejinovic, Paljic, Müller, Hesse, Rodnei, Nemec, Schulz, Steinhöfer, De Wit, Mandjeck, Ilicevic, Pavlovic, Simunek, Rivic, Jessen, Micanski, Hoffer, Moravek, Walch, Kirch, Tiffert, Amri, Hlousek, Petsos, Schechter, Vermouth, Borysiuk, Swierczok, Wagner, Sukuta-Pasu, Fortounis, Kouemaha, Yahia, Sahan, Jörgensen, Löwe, Idrissou, Drazan, Köhler, Karl, Weiser, Nsor, Hajri, Baumjohann, Torrejon, Alushi, Azaouagh, Bunjaku, Riedel, Occean, Ring, Jenssen, Zoller, Gaus, Matmour, Stöger, Ede, Hofmann, Heubach, Mugosa, Fomitschow, Schulze.
Das sind die Neuzugänge der letzten sechs Jahre, die Hoffnungsträger der Ära Kuntz. Es sind, wie man sieht, nicht wenige. FCK-Fans können anhand dieser Liste auch die Achterbahnfahrt ihrer eigenen Emotionen verfolgen. Jeder Name ein Versprechen, die meisten sind genau das geblieben. Auf zwei Jahre der begründeten Euphorie – 2009 bis 2011, Aufstieg und Klassenerhalt mit dem Duo Kuntz und Kurz – folgte die schlechteste Saison der Vereinsgeschichte und die Entlassung von Marco Kurz, als schon alles zu spät war.
Seitdem scheint der FCK den Anschluss endgültig verloren zu haben, finanziell und sportlich, auch in der oft beschworenen Region. Und so kommt, wenn man sich umhört unter denen, die den Verein im Herzen tragen, immer wieder ein Beispiel, das nicht ohne eine gewisse Zerknirschtheit vorgetragen wird: Mainz 05. Dort sieht der Lauterer vor der eigenen Haustür, was in der Provinz auch möglich sein kann, trotz allem. Der Rivale, der nie einer war, weil er immer ein bis zwei Ligen tiefer spielte, ist seit der Jahrtausendwende vorbeigezogen, und zwar deutlich. Sieben Jahre Klopp, fünf Jahre Tuchel, das ist Kontinuität.
Vielleicht gibt es aber auch noch eine andere Entwicklung, die das Grundprinzip 1. FC Kaiserslautern in den letzten anderthalb Jahrzehnten ins Wanken gebracht hat. Die vielzitierte Provinzialität, sie war ja eine echte und eine der großen Stärken. Das ganze Jahr über, so erzählte es einmal Klaus Toppmöller, der FCK-Held der Siebziger, habe sich kaum mal ein Journalist beim Training blicken lassen. Höchstens mal vor den Derbys und natürlich vorm jährlichen Heimspiel gegen die Bayern. Das sei damals die wahre Kraftquelle der Mannschaft gewesen, diese Ruhe mitten im Pfälzer Wald und die Ignoranz der anderen. „Und dann haben wir es allen gezeigt!“ Von wegen Provinz. Die Bayern-Weltmeister kommen? 7:4!
Es gibt, so gesehen, auch keine Provinz mehr
Nun gibt es in Zeiten des medialen Dauerfeuers, mit 24-Stunden-Beschallung über Sky Sport News HD und öffentlichem Echtzeit-Stammtisch auf der-betze-brennt.de leider überhaupt keine Ruhe mehr. Es gibt, so gesehen, auch keine Provinz mehr. Kaiserslautern ist nicht länger ein Dorf mit 90 000 Einwohnern, denn jedes Dorf in Deutschland hat Breitband. Die Region als solche ist tatsächlich tot. Alle stehen im Mittelpunkt, ständig, und wenn ein Spieler in den Puff fährt, dann steht das schon in der gleichen Nacht auf bild.de. Und wenn der Trainer drei Spiele verliert, diskutiert halb Deutschland mit.
Für die Kleinen gelten längst die Regeln der Großen. Es geht nicht mehr nur um Sport, es geht um Wirtschaft. Bauchgefühl allein hilft nichts, es braucht analytische Fähigkeiten. Einen Plan. Eine Nische. Dortmund war pleite und ist doch zurückgekommen – aber nicht, weil die Fans so treu und laut waren, sondern weil dort ein paar Leute seit Jahren exzellente Arbeit leisten. Eine solche Ruhe und Stabilität wünschte man sich für Kaiserslautern, anderswo geht es ja auch. Dafür wäre aber erst mal ein Wechsel der Blickrichtung nötig, weg von der glorreichen Vergangenheit, der Zukunft zugewandt. Am schwersten wird das den Fans fallen.
Und dann kam das Auftaktspiel der Zweitligasaison gegen 1860 München. 3:2‑Sieg nach 0:2‑Rückstand. Unglaublich. Unerklärlich. Betze, Flutlicht, alles möglich. Die Leute schwärmten und merkten, wie sie feuchte Augen bekamen. Standen sie da unten nicht alle wieder auf dem Rasen, Kuntz und Ehrmann, Toppi und Briegel – und sogar Fritz, Ottmar und Eckel, der Windhund? Was aber, wenn sie einfach nur ein umkämpftes Zweitligaspiel im Jahr 2014 gesehen haben, mit einem etwas glücklichen Ausgang zugunsten der Heimmannschaft?