Sollte der Hamburger SV tatsächlich noch die Relegation und damit den Klassenerhalt schaffen, wäre das eine wunderbare Geschichte. Und zugleich ganz furchtbar.
Dass der Mensch ein stimmungsgeleitetes Wesen ist, hat Vor- und Nachteile. Würde man nichts Unüberlegtes mehr tun, was wäre die Welt für ein traurigerer Ort? Viel zu viele Erfindungen, Kunstwerke und Anekdoten beruhen auf Impulsen und Stimmungen, denen man gefühlsnüchtern wohl eher kaum eine Erfolgschance eingeräumt hätte.
Andererseits: Fast 80 Prozent aller Tötungsdelikte sind Beziehungstaten und mithin irrationalen Impulsen und Gefühlsorkanen geschuldet.
Dem HSV den Klassenerhalt gönnen?
Und auch der Fußball, dieses perfekte Spiegelbild aller menschlicher Regungen, hängt von Stimmungen ab. Und das ist gut so!
Sonst wäre Mario Gomez noch immer der wundliegende Trottel, der diese dämliche Chance der Europameisterschaft 2008 versemmelt hätte. Und kein abgeklärter Goalgetter, dem man dank seiner Freude am Spiel jedes und noch immer ein Tor mehr gönnt. Sonst wäre Franz Beckenbauer noch immer der strahlende „Kaiser“ und nicht auch — ach, lassen wir das.
Wundersame Rettung? Furchtbar ungerecht
Andererseits: Dass der Hamburger SV unter Trainer Christian Titz wieder so etwas wie Spaß macht, dass man bald schon wieder dazu neigt, oder längst schon, dem Verein den abermaligen, wundersamen Klassenerhalt zu gönnen — auch das ist einem irrationalen Impuls geschuldet.
Wundersame Rettungen sind Erzählungen aus Gefühlsgold. Sie bilden das Fundament für Hollywood-Dramen, Rockstar-Biographien und Fußballmärchen. Und trotzdem sind wundersame Rettungen manchmal auch furchtbar ungerecht. Weil sie auf Kosten anderer erfolgen müssten. In diesem Fall, vielleicht, wenn es denn ganz furchtbar blöde läuft: auf Kosten des SC Freiburg oder von Holstein Kiel.
Ein gehöriger Stimmungskiller
Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass der HSV noch die Relegation erreicht. Und dann? Rettet er sich, klar. Denn wenn der HSV etwas kann, dann Relegation. Und sollte der VfL Wolfsburg in die Relegation ziehen, so ist schwer davon auszugehen – Formschwäche hin, Formschwäche her -, dass auch er dem Fußballmärchen Holstein Kiel als übermächtiger Favorit entgegentritt. Einfach weil die von millionenschweren Gönnern verhätschelten Klubs aus dem Norden dann eben doch über individuelle Klasse verfügen, auf die ein aufstrebender Zweitligist wie Kiel keine Antwort hat.
Und es ist ja nicht ausgeschlossen, dass der SC Freiburg doch noch auf den Relegationsplatz rutscht. Ein Klub, der mit Zweitliga-Mitteln erstklassig arbeitet. Und gegen besagtes Holstein Kiel ganz sicher nicht so favorisiert wäre, wie der HSV oder Wolfsburg. Wenn überhaupt.
Ohnehin: So oder so würde es dann also Kiel oder Freiburg erwischen. Angesichts der Unfähigkeit, mit der seit Jahren in Hamburg und Wolfsburg hantiert wird, wäre das nichts weiter als Mord an der Fußball-Gerechtigkeit. Und ein gehöriger Stimmungskiller. So wundersam und anmutend die Erzählung einer abermaligen HSV-Rettung auch wäre.