Eintracht Frankfurt stürmt in Richtung Champions League. Besonders einer macht dabei mächtig Lärm: André Silva. Bloß: Kaum jemand scheint diesen Lärm zu hören.
Man sagt ja gerne: „Zahlen lügen nicht“. Nun können Zahlen auch nicht zwangsläufig alles erklären, doch sie können dazu beitragen zu verstehen. Und im Falle der Torjägerliste der Bundesliga ist die Sache ganz einfach. Wir verstehen unmittelbar: Der Beste steht oben. Von dieser Position grüßt natürlich auch in dieser Saison mal wieder Robert Lewandowski (25 Tore). Das ist genauso beeindruckend wie langweilig. Auf Platz Zwei wiederum wird es beeindruckend und spannend. Frankfurt-Stürmer André Silva hat 18 Treffer auf dem Konto – und ist im Begriff, Rekorde zu brechen. Bloß: Um seine Person ist es weiterhin recht still.
Für die Adler hält in diesem Jahrtausend Vereinslegende Alex Meier alias „Fußballgott“ den Rekord mit 19 Treffern in einer Saison. „Als ich bei meiner Ankunft in Frankfurt zum ersten Mal seinen Namen hörte, wurde mir direkt geraten, bloß nicht seine Rückennummer zu übernehmen. Mir wurde erklärt, dass diese ihm gehört und nicht mehr vergeben wird. Und dass die Fans ihn so lieben“, so André Silva in einem Interview mit dem Wiesbadener Kurier. Mit der 33 ist der Portugiese zahlenmäßig weit entfernt von Meiers legendären Nummer 14, doch aktuell umso näher an dessen Rekord.
Noch keinem Spieler in der Vereinsgeschichte von Eintracht Frankfurt gelangen 18 Treffern nach gerade einmal 21 Bundesliga-Partien. Rekord. Nicht einmal Bernd Hölzenbein. Dieser hält bis zum heutigen Tag den Vereinsrekord mit insgesamt 26 Bundesliga-Toren in einer Saison. Torschützenkönig wurde er dennoch nicht. Am Ende der Spielzeit 1976/77 holte sich Dieter Müller mit 34 Treffer die begehrte Torjägerkanone. André Silva könnte ähnliches ereilen, was ihn derzeit dennoch nicht daran hindert, in der Mainmetropole zu einer großen Figur in der Vereinsgeschichte zu werden. Auch wenn nicht immer alles darauf hindeutete.
Die Erwartungen, die sich an André Silva richteten, waren von Anbeginn seiner Karriere hoch. Der Stürmer mit den augenfälligen Augenbrauen durchlief alle Stationen in der Jugendabteilung des FC Porto. Früh spielte er bereits bei den älteren Jahrgängen mit. Als ihn die Trainer fragten, wer sein Vorbild sei, antwortete er immer: „Cristiano Ronaldo. Aber dann hieß es immer, wir haben hier schon so viele Ronaldos. Ich habe daraufhin gesagt: Okay, dann möchte ich wie Deco sein“, so Silva in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau.
Nicht geringer wurden die Erwartungen an „Mini-Deco“-André Silva, als kein geringerer als Portugals Volksheld und mehrmaliger Weltfußballer Cristiano Ronaldo in der Gazzetta dello Sport über seinen Landsmann sagte: „Wenn ich zurücktrete, wird Portugal in guten Händen sein, denn das Team hat bereits einen tollen Stürmer gefunden: André Silva.“ Damals stand der 21-jährige Silva kurz vor dem 38-Millionen-schweren Wechsel vom FC Porto zum AC Mailand und das Getose um Portugals neue Sturmhoffnung wurde immer lauter.
Doch beim Klub aus Italiens Modestadt konnte Portugals André Silva nicht den gewünschten nächsten Schritt gehen. Im Gegenteil: Der Wechsel warf ihn zurück. Zwar erwies er sich in der Europe League als zuverlässiger Torjäger, doch in der Serie A kam er nie über die Rolle des Back-Up-Stürmers hinaus. Auch das Leihgeschäft zum FC Sevilla in der darauffolgenden Saison brachte nicht den erhofften Durchbruch. Schnell wurde es wieder still um Silva, dem es nach einem neuen Umfeld, nach Vertrauen und Wertschätzung verlangte. Dies bekam er schließlich von Frankfurt zugesichert, wie der Portugiese in einem Interview der Frankfurter Rundschau mitteilte.
Zu Beginn der Saison 2019/20 stand Eintracht-Trainer Adi Hütter vor der Herausforderung, die Büffelherde aus der Vorsaison vergessen zu machen. Anstelle von Jovic, Haller und Rebic traten Paciência, Dost und Silva auf den Plan. Das System mit einer Doppeltspitze – unabhängig von seiner Besetzung – fruchtete zu keinem Zeitpunkt. Die Eintracht stand bis zur Pandemie-bedingten Pause im vergangenen März im tabellarischen Mittelfeld und André Silva war ein wenig beachteter Bundesliga-Stürmer. Dabei brachte er den Ball nur allzu selten im gegnerischen Gehäuse unter: Vier Treffer nach 15 Bundesliga-Spielen standen beim Portugiesen zu Buche. Auf das Brechen von Rekorden deutete noch wenig hin.
Mit dem Restart begann die Eintracht, langsam wieder in die Spur zu finden – und mit ihr auch André Silva. Der Portugiese erzielte in den zehn verbliebenen Bundesliga-Partien acht Tore. Die Krönung war das Tor des Montas Juni. Beim Spiel gegen Hertha BSC dribbelte sich Daichi Kamada elegant bis zur Grundlinie vor und spielte den Ball schließlich zu Kollege André Silva, der kunstvoll mit der Hacke vollendete. Erst zum sechsten Mal in der Geschichte wurde der Preis an zwei Spieler vergeben.
Ungeachtet des mauen Saisonstarts der Eintracht mit acht Unentschieden nach zwölf Partien setzte André Silva seine Torserie aus der Vorsaison fort. Er würde lediglich die Arbeit seines Teams zu Ende führen, so Silva nach dem jüngsten Spiel gegen Köln. Diese Einschätzung ist nur allzu bescheiden. Nicht von ungefähr steht André Silva gemeinsam mit Ilkay Gündogan mit neun Toren auf Platz eins der gefährlichsten Torjäger der Top-Ligen in diesem Kalenderjahr.
Im Dezember stellte Adi Hütter endgültige auf ein System mit zwei Zehnern um. Vor allem das Zusammenspiel zwischen Silva und seinem japanischen Kollegen Daichi Kamada ist ein wichtiger Faktor in Frankfurts Offensivspiel. Dabei kommunizieren die beiden eher telepathisch denn sprachlich, was Kamada jüngst so beschrieb: „Sprachlich nur in schlechtem Englisch und schlechtem Deutsch. Auf dem Platz wird nicht viel geredet. Aber es ist so: Wenn ich vorne einen Raum sehe, in den ich spielen und wo es gefährlich werden könnte, ist André schon hingelaufen. Er bewegt sich sehr gut. Wir haben da denselben Instinkt.“
Neben Kamada glänzt Amin Younes als weiterer variabler Zehner hinter Silva. Während der Japaner vermehrt als Balllverteiler agiert, überzeugt Younes durch seine technische Raffinesse und Dribbelstärke. Und dann wäre da noch Filip Kostic, der seit der Rückkehr von Luka Jovic auf dem linken Flügel mächtig Dampf macht. Dem serbischen Flügelflitzer gelangen in den vergangenen acht Spielen zehn Torbeteiligungen. Luka Jovic muss sich derzeit mit der Rolle des Edel-Jokers begnügen, die für Adi Hütter einen luxuriösen Trumpf darstellt. Frankfurt hat in dieser Saison keine Büffelherde – aber dafür ein wildes, sich ergänzendes Konglomerat unterschiedlicher Spielertypen, das die Eintracht inzwischen auf den dritten Tabellenplatz gehievt hat.
Seit einem Dreivierteljahr also schießt André Silva in Ruhe die Bundesliga weg. Vielleicht ist die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit auf seinen Spielstil zurückzuführen. Auch wenn Silva durch seine überragende Technik besticht, zeichnet er sich im Ganzen durch seine Ausgewogenheit aus. Der Portugiese trifft ebenso sicher mit links wie mit rechts, ist gleichermaßen kopfballstark und sicher vom Punkt. Silva verwandelte alle seine sechs Elfmeter. Genauso viele wie Bayerns Robert Lewandowski. Der Weltfußballer ist außerdem der einzige Spieler in der Bundesliga, der häufiger auf das gegnerische Tor geschossen hat als André Silva.
Wenn die Bayern am Samstag zu Gast in Frankfurt sind, dann treffen die Mannschaften mit den meisten Toren aufeinander. Zudem: Erster gegen Dritter, die formstärkste Mannschaft der Bundesliga gegen den frischgekürten Klub-Weltmeister aus Katar bzw. München und natürlich das Duell der derzeit besten Torjäger in Deutschlands höchster Spielklasse: Robert Lewandowski gegen André Silva. Nun droht Silva für das Spitzenspiel auszufallen. Ein herber Rückschlag für die SGE, falls es dazu kommen sollte. Schließlich wäre das Spiel gegen den Meister die perfekte Gelegenheit für den Portugiesen, auch auf der großen Bühne für ein bisschen Lärm zu sorgen.