Claudio Pizarro war die Schlüsselfigur einer ganzen Generation. Nun hat er aufgehört. Und wir trauern.
Den Fußball, den wir mal kannten, gibt es nicht mehr. Wir nannten ihn modernen Fußball, und seine Zeit begann vor ungefähr 20 Jahren. Damals bauten die Bundesligaklubs neue Multiplexarenen, die alle gleich aussahen. Spieler wechselten erstmals für zweistellige Millionenbeträge die Vereine. Bezahlsender und Sponsoren pumpten immer höhere Summen in den Fußball, und einige Ältere verloren langsam den Überblick. „Trapattoni fühlt sich fremd in der modernen Fußballwelt“, schrieb der „Spiegel“ 1999.
Dieses Jahr erleben wir die fußballerische Postmoderne. Es ist eine Dystopie, denn so in etwa stellten sich Kulturpessimisten um die Jahrtausendwende die Zukunft des Fußballs vor. Die Multiplexarenen sind leer. Es herrscht eine Stille, die so beklemmend und laut ist, dass man den Fernseher stumm schalten muss. Die Spieler jubeln nach Toren wie ferngesteuerte Spielzeugautos. An der Seitenlinie stehen Fieldreporter mit Schutzmasken und halten Trainern mit Schutzmasken Teleskopmikrofone hin.
Und dann stand der 1. FC Heidenheim auch noch kurz vor seinem ersten Bundesligaaufstieg, während Werder Bremen nach 40 Jahren beinahe in die Zweite Liga abgestiegen wäre.
„Dann gehe ich woanders hin und spiele dort weiter, ganz einfach“
Das Schlimmste aber: Claudio Pizarro, 41 Jahre jung, hört auf mit dem Fußball. Der Kronzeuge der vergangenen 20 Jahren. Der Mann, der den ganz alten Fußball in seinem Ende noch miterlebt hat, dann den Turbokapitalismus, die Perfektionierung des Spiels auf dem Platz, die Gier hinter den Kulissen.
Er war dabei, als große Karrieren begannen und wieder zu Ende gingen. Er spielte mit Dieter Eilts oder Julio Cesar zusammen, Fußballer, die kurz nach dem Wunder von Bern geboren wurden. Als Miroslav Klose sein Profidebüt für Kaiserslautern gab, war Pizarro schon ein Jahr in der Bundesliga. Als Klose seine Karriere beendete, wurde Pizarro wieder mal zum Hoffnungsträger in Bremen. Er war damals schon 37 Jahre alt, und so fragten wir in einem Interview, wer ihm befehlen darf, dass er aufhören soll: „Das darf nur ich selbst“, antwortete Pizarro. Und wenn der Trainer es vor ihm tue? „Dann gehe ich woanders hin und spiele dort weiter, ganz einfach“.
Es ist unvorstellbar, dass er dieses Mal nicht woanders hingeht. Es ist so, als würden die Rolling Stones vom Rock ‚n‘ Roll zurücktreten.
Selten hat mich das Karriereende eines Fußballspielers so wehmütig gemacht. Dabei spielte Pizarro nicht mal für meinen Lieblingsverein, den Hamburger SV. Im Gegenteil. Er lief für den sogenannten Nordrivalen und für den Südrivalen auf. Und er traf fast immer gegen den HSV. Mit Werder schoss er Hamburg mal aus dem Uefa-Cup, und als Bayern 9:2 gegen den HSV gewann, machte er vier Tore. „Ich habe lange nicht gespielt. Heute vier Tore – wunderbar“, sagte er danach, während noch mal seine Treffer, einer mit der Hacke, na klar, über den Bildschirm flimmerten. Andere Spieler hätte ich am Fernseher beschimpft und verflucht, aber in diesem Moment dachte ich nur, tja, irgendwie wirklich wunderbar. Und Pizarro grinste in die Kamera, als würde er gerade über einen eigenen Schelmenroman nachdenken. Er war 34 Jahre alt, schon damals ein älterer Herr im Fußballgeschäft. Eigentlich.
Vielleicht werde ich melancholisch, weil mich Pizarro an mein eigenes Alter erinnert. Ich bin Jahrgang 1977. Zeit meines Fanlebens war ich jünger als die meisten Fußballprofis oder zumindest gleich alt. Ich weiß noch, als ich mit Freunden darüber scherzte, dass nun die ersten Achtzigerjahrgänge in den Kadern der Klubs auftauchten, irgendwann Ende der Neunziger war das. Als neulich Spieler die Bundesligabühne betraten, die nach 2000 geboren wurden, bekam ich einen Schreck. Fiete Arp, Joshua Zirkzee, Jadon Sancho. Sie kennen die WM 1990, ein Schlüsselereignis meiner Generation, nur als Schwarzweiß-Erzählung ihrer Eltern und Großeltern. Der eine Opa erzählt vom Krieg, der andere von Lothar Brehme. Oder wie hieß der Typ noch mal? Ach, egal.
Ich war uralt geworden. Ein Greis beinahe. Ich saß nun in Interviews mit Jungprofis, die angesagte Frisuren trugen und moderne Ausdrücke kannten und machte mir Gedanken darüber, ob ich auf sie wirke wie damals Heribert Faßbender oder Ernst Huberty auf mich. Männer, die in meiner Vorstellung nie jung gewesen und mit Klappscheitel und mittelmäßig sitzenden Anzügen zur Welt gekommen waren.
Aber dann dachte ich schnell an Claudio Pizarro. Der war ja auch noch da. Jahrgang 1978. Nur ein Jahr jünger als ich. So lange er durch die Strafräume fegte, lebte ich mit der Illusion, dass ich jung und fit und irgendwie auf dem neuesten Stand sei. Rein theoretisch könnte ich sogar noch Fußballprofi sein.