Claudio Pizarro war die Schlüsselfigur einer ganzen Generation. Nun hat er aufgehört. Und wir trauern.
Um eine Idee davon zu bekommen, wie epochal eine Karriere ist, erinnert man gerne an parellele historische Ereignisse oder Eckpfeiler ihrer Anfangstage. Also: Pizarro machte sein erstes Profispiel 1996 für Alianza Lima. Damals war Helmut Kohl Bundeskanzler und im Radio liefen Songs von den Spice Girls und Blümchen. Aber vor allem eine Sache ist wichtig: Das Internet existierte noch nicht. Jedenfalls nicht so wie heute. Es war eine Sache für Nerds und Computerfreaks. Und so ist Claudio Pizarro im Grunde der letzte analoge Spieler. Eine rare Vinyl-Erstpressung in einer Welt voller Streams, Algorithmen und Playlisten.
Er schoss lässige Tore und erackerte sich mit der Kraft eines Pferdes im Strafraum Räume, von denen man gar nicht gewusst hatte, dass sie existieren. Er war ein Freiheitskämpfer im Körper eines Profisportlers. Manchmal unterliefen ihm auch Fehler, aber das machte sein Spiel so aufregend, denn er war eben keiner dieser Modellathleten, die aussahen, als hätte man sie anhand ihrer eigenen Computerspielfigur programmiert.
Allerdings, er war kein Schlitzohr, wie viele behaupteten. Er war ein Schlawiner. So hatte Uli Hoeneß ihn mal genannt, und das gefiel Pizarro. „Ein Schlawiner hat ein gutes Auge“, sagte er im Interview mit 11FREUNDE. „Er sieht alles! Überall! Auf dem Platz, neben dem Platz, sogar auf dem Oktoberfest. Und dann macht er das Beste aus der Situation.“
„Das ist ne Granate, hab ich ihm gesagt, den musst du dir anschauen“
In den Neunzigern musste man großes Glück haben, um Schlawiner wie ihn zu entdecken. Statt per E‑Mail kommunizierte die Manager von Fußballvereinen mit Fax und Festnetztelefon. Scouting beruhte oft auf Hörensagen und Hastenichtgesehen-Schwärmereien.
Jürgen L. Born, der Entdecker Pizarros und ehemalige Geschäftsführer von Werder, hat die Geschichte der ersten Begegnung einige Male erzählt. Er war in den Neunzigern Vorstand der Deutschen Bank in Paraguay, Uruguay und Brasilien. Ein ausgewiesener Südamerika-Experte und ein großer Fußballfan, der eines Tages, so sagte er dem „Weser Kurier“, beim Training von Alianza Lima vorbeischaute und dort Pizarro sah. Er war baff, so einen Spieler musste sein Freund Klaus Allofs holen. „Das ist ne Granate, hab ich ihm gesagt, den musst du dir anschauen.“
Sie reisten gemeinsam nach Lima, aber dort fand das Training hinter verschlossenen Türen statt. Also schauten sich Born und Allofs auf dem Trainingsgelände um, bis sie ein Loch im Zaun fanden, durch das sie den 20-jährigen Wunderstürmer beobachteten, der für Alianza in der Saison zuvor 18 Tore in 22 Spielen geschossen hatte.
Pizarro hat in Deutschland circa 387 Rekorde aufgestellt. Er ist Bundesliga-Rekordtorschütze von Werder Bremen. Er ist der Ausländer mit den meisten Bundesligaspielen. Er ist der Profi, der gegen die meisten Gegner in der Geschichte der Bundesliga gespielt hat. Er ist der einzige Spieler, der in 21 aufeinanderfolgenden Kalenderjahren mindestens ein Tor gemacht hat.
Aber das erscheint bei der Betrachtung von Pizarro fast nebensächlich, denn die Erzählung Pizarros lebt nicht vordergründung von Zahlen und Statistiken. Sie lebt, so kitschig das klingt, von der Liebe. Denn Pizarro ist vermutlich der Spieler, auf den sich die meisten deutschen Fußballfans einigen können.
Es heißt, im Fußball kann man nur einen Klub haben. Pizarro aber hatte zwei. Er spielte 319 Mal für Werder und 327 Mal für die Bayern (dazu ein paar Mal für Köln und Chelsea und in Lima). Trotzdem umgibt ihn die Aura eines One-Club-Man. Er ist einer wie Steven Gerrard oder Paolo Maldini. Einer, der immer da war, auch wenn er bei einem anderen Verein gespielt hat. Still loving Pizzaro!
In Bremen verstanden die Leute, dass er alle paar Jahre mal nach München ging, denn dort konnte er seine sportlichen Ziele erreichen, dort wurde er Meister, Pokalsieger, Champions-League-Sieger, Weltpokalsieger. Er war der Sohn, der seine Sachen packte und in die tobende See des großen Fußballs stach. Der Sohn, von dem sie immer wussten, dass er irgendwann, wenn ihm alles zu viel wurde, zurückkehren würde. Ins regnerische, übersichtliche Bremen. Seine Oase. Sein Halt. Und wenn er heimkam, wurde er am Flughafen empfangen wie ein Popstar. „Ich dachte, da muss ja wohl noch jemand mit mir im Flieger gesessen haben“, sagte er, als er das vierte Mal zurückgekehrt war. „Justin Bieber vielleicht. Oder der Papst.“ Und dann standen sie da: Erzähl von deinen Abenteuern! Und mach uns froh mit deinen Toren!
Wie würde es sein, wenn er nicht mehr spielt? Wenn er nicht mehr heimkehrt? Man stellte sich vor, wie ihn Zehntausende, ach was, Hundertausende auf Schultern durch die Stadt tragen bis ins Weserstadion, wo er dann seine Mannschaft ein letztes Mal zu einem großen Sieg führte. Zur Meisterschaft. Oder wenigstens zum Klassenerhalt.
„Wir müssen cool bleiben. Wir werden cool bleiben. Ich bin cool.“
Aber alles ist anders gerade. Claudio Pizarro, der letzte große Mittelstürmer, der eine ganze Generation und Ära geprägt hat, hat seine Karriere leise beendet. Ohne in dem Spiel, das sein letztes war, auch nur eine Sekunde auf dem Platz gestanden zu haben. Dafür durfte er mit Werder immerhin den Klassenerhalt feiern. Damals, im Interview mit 11FREUNDE, stand Werder auch ziemlich weit unten in der Tabelle. Wir fragten ihn, wie Werder den Klassenerhalt schaffe. Pizarro sagte: „Wir müssen cool bleiben. Wir werden cool bleiben. Ich bin cool.“
Pizarro ist auch gestern cool geblieben. Als sein letzter Trainer, der vier Jahre jüngere Florian Kohfeldt, sich nach dem Spiel bei ihm entschuldigte, dafür, dass er ihn nicht mehr eingewechselt hatte, da grinste Pizarro nur. Und sagte: „Scheißegal, Hauptsache, wir sind drin.“ Man hätte die Szene gerne durch ein Loch im Stadion beobachtet. Zusammen mit Jürgen L. Born und Klaus Allofs.