Wegen der Coronakrise verpasst Robin Gosens sein Debüt in der Nationalmannschaft. Das ist tragisch, denn dieser Mann würde dem DFB so gut tun.
Das mal vorab: Robin Gosens gehört in die Nationalmannschaft. Wer das nicht versteht, hat a) keine Ahnung von Fußball oder b) kein Herz.
Um zu verstehen, wie verrückt diese Feststellung ist: Als die deutsche Nationalmannschaft vor sechs Jahren in Rio Weltmeister wurde, da stand Robin Gosens vor einem Leihgeschäft zum niederländischen Zweitligisten FC Dordrecht. Und fühlte sich in diesem Moment wie in einem Traum. Die lokale Presse jedenfalls feierte ihn, den Linksverteidiger, als „Königstransfer”. „Die hatten ja keine Ahnung, dass ich in meinem ganzen Leben genau eine Partie auf dieser Position gemacht hatte!”, sagt Gosens heute.
Er ist einer, dem niemand mehr eine Profikarriere zugetraut hätte. Und trotzdem sagte Bundestrainer Joachim Löw diese Woche dem kicker: „Wir hatten die Überlegung, Robin Gosens im März zu den Länderspielen einzuladen. Gerne hätten wir ihn persönlich kennengelernt.”
Die Geschichte von Robin Gosens ist so unglaublich, dass sie an dieser Stelle nicht in der epischen Breite erzählt werden kann, die sie eigentlich verdient hätte. Vielleicht wird sie Gosens später einmal selbst erzählen können, wenn er nachts wieder im „Blues” steht. Einer Dorfdisco im nordwestfälischen Rhede, in der Gosens die Wochenenden seiner Jugend verbracht hatte. Gerade erst hatte er ein Probetraining beim BVB in den Sand gesetzt, keine Chance gegen die Internatsschüler der Borussia. Und nur der Zufall und ein fleißiger Scout sorgten dafür, dass er es doch noch in die Jugendmannschaft von Vitesse Arnheim schaffen sollte.
„Ich habe vom Anstoß an die Sterne vom Himmel gespielt”, sagt Gosens über das Spiel, das der Scout in Rhede sah, und ihn deshalb den Niederländern empfahl. Dann begann der wahnsinnige Aufstieg: A‑Jugend in Arnheim, zweite Mannschaft, Leihgeschäft zu Dordrecht, Heracles Almelo, Weiterverkauf an Atalanta Bergamo. Serie A. Und seit dieser Saison: Champions League.
Bitte nicht falsch verstehen: Gosens’ Geschichte ist unglaublich und doch für jeden so leicht nachzuvollziehen, der bis spät ins Erwachsenenalter davon und heimlich geträumt hat, noch Profifußballer zu werden. Zufällig ist diese Geschichte aber nicht. Und erst recht nicht unverdient. Denn Gosens hat viel für seinen Erfolg getan. Und spielt deshalb aktuell die wahrscheinlich beste Saison seines Lebens.
Im 3−5−2 von Atalanta Bergamo wetzt der 25-Jährige die linke Seite entlang. Verteidigt und greift an. Sieben Tore und fünf Vorlagen sind ihm in dieser Spielzeit schon gelungen, darunter ein Treffer zum 1:1‑Ausgleich gegen Inter Mailand. Und mit Bergamo spielt er aktuell das, was Gosens selbst wohl als „Sterne vom Himmel” bezeichnen würde. Sie sind Tabellenvierter und stehen im Champions-League-Viertelfinale. Und der Typ, der vor ein paar Jahren noch plante, Polizist zu werden, gehört nun zu den besten Spielern Europas.
Aber das zählt aktuell nicht mehr.
Denn Bergamo ist jene Stadt in der Lombardei, die am stärksten vom Coronavirus betroffen ist. Etwa 2.000 Menschen starben schon. Es sei nach einer neuen Studie, die im Auftrag der lokalen Tageszeitung entstanden ist, davon auszugehen, dass sich diese Zahl noch verdoppeln werde. Gosens und seine Teamkollegen hielten sich in den vergangenen zwei Wochen daheim in Quarantäne auf. Durch die Stadt fuhren Militärfahrzeuge, die die Leichen aus der Stadt transportierten. Wer soll da noch an Fußball denken?
Einer, der davon lebt, der sein ganzes Leben darauf ausgerichtet hat, dem wäre das nicht zu verdenken. Bundestrainer Löw sagte in diesen Tagen, dass der DFB Gosens für die Testspiele gegen Italien und Spanien Ende März nominiert hätte. Sofern sie nicht abgesagt worden wären. Dann wäre einer Teil der besten Mannschaft des Landes geworden, der über sich selbst sagt: „Ich war lange Teil einer Kumpeltruppe. Ich war ein ganz normaler Bauer.”
Als die Nationalmannschaft zum letzten Mal zusammenkam, im November 2019, da war die Welt noch in Ordnung. Bei den Qualifikationsspielen in Mönchengladbach und Frankfurt machte sich trotzdem eine seltsame Stimmung in den Stadien breit. Aseptisch. Der DFB hatte Blaskapellen eingeladen, die vor und in den Stadien für Stimmung sorgen sollte. Die Mannschaft, so scheint es, hat innerhalb von sechs Jahren, als sie Weltmeister in Rio wurde, die Verbindung zu vielen Fans verloren. Die Spieler wirken unnahbar, der Wirklichkeit entrückt, nur in den wenigsten Fällen als Identifikationsfiguren tauglich.
Und dann ist da Gosens. Einer, der mal, wie er sagt, ein ganz normaler Bauer war. Der jetzt noch an der Fernuniversität Psychologie studiert, weil er sagt, dass er nach dem Training ja noch einen halben Tag Zeit habe, und: „Warum sollte ich mich vor die Xbox hocken und bis Mitternacht zocken?” Einer, der selbst noch manches Mal geschockt vom Geschäft des Profizirkus ist. Und der sich auch auf der Bank sitzend bei einem Sieg denkt: „Geil, drei Punkte!”
Gosens könnte das Bindeglied sein, dass der DFB so dringend braucht. Auf ihn ließe sich viel projizieren. Das aber ist jetzt überhaupt nicht wichtig, wenn in Bergamo, in der Stadt, in der Gosens versucht, sich zuhause fit zu halten, noch immer jeden Tag Menschen an einem Virus sterben.
Trotzdem darf die Frage erlaubt sein, was passieren wird, wenn ein Stück Normalität zurückkehrt. Kann Gosens nach wochenlanger Isolation an seine Form anknüpfen? Wird er noch einmal nominiert werden von Joachim Löw, der in der letzten Saison Linksverteidiger Philipp Max so lange sensationell ignoriert hatte, bis dessen Leistungskurve einbrach?
Immerhin: Die Zeit drängt nicht. Die Europameisterschaft wurde ja gerade erst um ein Jahr verschoben. Wäre doch eine schöne Gelegenheit, um einen ganz normalen Bauern mal wieder die Sterne vom Himmel spielen zu lassen.