Seit über zwanzig Jahren pilgert eine Gruppe Norweger regelmäßig nach Schottland, um den Stenhousemuir FC zu unterstützen. Einen Drittligisten in der Provinz! Warum zum Teufel machen die das?
Bevor Terje Eriksen sich an diesem Freitag von Oslo aus auf den Weg zum letzten Heimspiel seines Klubs macht, streift er sich den blutroten Glückspullover über. Dann legt er den Schal um den Hals, steckt sich den Button an seine Jacke, drückt seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und lässt die Tür ins Schloss fallen. In der Hand hält er ein Stück Kuchen. Gestern hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert. Im kleinen Kreis. Ganz sachte. Denn heute geht es zu Stenny.
Dralle Dorfbeautys
Knapp drei Stunden später steht er in einem Pub mitten im schottischen Nirgendwo, knapp 1000 Kilometer von seinem Haus, seiner Frau, seinem Leben entfernt. Um ihn herum starren stiernackige Glatzköpfe auf einen Fernseher über der Tür, am Tresen präsentieren ein paar dralle Dorfbeautys ihre Steißbeintätowierungen. Aus den Boxen knarzt Großraumdiscopop. „I don’t care“, schrillt eine Frauenstimme: „I love it“. Willkommen in „The Station“. Wer hier ein alkoholfreies Getränk ordert, stellt die Bardame vor eine unlösbare Aufgabe. Terje nippt an einem Pint. Seit über 20 Jahren macht er sich nun schon auf die Reise zu Stenny. Jedes Mal ist dieser Pub fünfzig Kilometer nördlich von Edinburgh sein erster Anlaufpunkt.
Die Tür geht auf. Ein Mann betritt den Pub, guckt grimmig durch die Sitzbänke und erkennt schließlich Terje. „Hello Mr. President“, schreit der Schotte durch den Raum und zeigt seine Zahnlücken. Beide fallen sich in die Arme.
Verdammte künstliche Hüften
„Ich will tanzen“, sagt Terje und schiebt seine Hüften mechanisch von links nach rechts. Sein Gesicht, in dem offenbar die schottischen Highlands aus Haut und Falten nachgebildet wurden, verzieht sich. Verdammte künstliche Hüften. Er lehnt sich lieber an die Jukebox in der Ecke, spült den Schmerz mit einem großen Schluck McEwan’s herunter und erzählt von einem Neujahrsmorgen im Jahr 1992. Dem Grund dafür, dass er überhaupt hier steht.
An jenem Morgen standen sein Kumpel Rolf Erik Wulff und dessen Bruder Christian in ihrer Küche in Oslo. In der Pfanne brutzelten Eier und Würstchen, auf dem Tisch stand Whiskey. Ein letzter Drink, ein paar schmutzige Witze, das große Finale einer weiteren durchzechten Nacht. Zwei Single Malts später sanken die beiden Brüder in die Couch, fabulierten über Ole Gunnar Solskjaer und die Atmosphäre an der Stamford Bridge. Dann drückte Christian auf die Fernbedienung und schaltete den BBC-Videotext an. Wie hat Arsenal gespielt?
Schnelle einen Doppelten
Und was ist mit Celtic? Irgendwann sind sie beim dritten Glas angekommen, schließlich auch in der vierten schottischen Liga, als ihnen ein Name ins Auge fällt: Stenhousemuir FC! „Ich weiß nicht, was die Zwei so fasziniert hat. Aber es reichte aus, um eine Schnapsidee Realität werden zu lassen“, sagt Terje Eriksen heute. Zwei Pints sind genug für den Moment. Er ordert einen doppelten Wodka.
Die Idee war so schlicht wie bescheuert: Die Gründung eines norwegischen Supporters Clubs für den damaligen Viertligisten Stenhousemuir FC, der grauesten Maus im schottischen Fußball. Grandioser Unsinn. Christian kramte einen Zettel heraus: Wer ist verrückt genug, mitzumachen? Ragnar, der Postbote, ganz bestimmt. Terje, der Lederhändler, natürlich auch. Thore, Svein, Lars. Irgendwann hatten sie zwanzig Namen zusammen und griffen zum Telefonhörer. „Stenhousemuir FC, hier ist Margaret Kilpatrick“, sagte eine Stimme. „Hallo, ich würde gerne einen norwegischen Supporters Club für ihren Verein gründen. Was genau …“ Am anderen Ende machte es klick. Aufgelegt.
90 Minuten Party
In Schottland konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen, dass man sich im fernen Norwegen tatsächlich für ihren Verein interessieren würde. Bis zu jenem Samstag im August 1993, als plötzlich 25 Norweger am Ochilview Park auftauchten, sich einen ordentlichen Rausch antranken und anschließend 90 Minuten Party auf den Rängen machten.
Mittendrin: Terje.
Wenn er heute von jenen Anfangstagen erzählt, glüht sein ganzer Körper. Plötzlich sind die Hüften geschmeidig, die Falten geglättet, er ist wieder ein quietschfideler Mann in den besten Jahren. Er schwärmt von legendären Haggis-Wettessen, stundenlangen Gesängen in der Stadionbar, Purzelbaumwettbewerben im Kilt und von Björn, der zur Legende wurde, weil er bei einem Pokalspiel gegen die Glasgow Rangers nicht müde wurde, die umstehenden Rangers-Fans 90 Minuten auf Norwegisch zu beleidigen.
Weil er dabei die ganze Zeit breit grinste, versorgten die ahnungslosen Schotten den freundlichen Gästefan ihrerseits mit frischem Bier. Seither reist Terje mit den anderen Mitgliedern der „Norwegian Supporters“ mindestens zwei Mal jährlich von Norwegen zu Spielen des Stenhousemuir FC. Seit über 21 Jahren besuchen sie also einen Klub, dessen größter Erfolg der Gewinn des drittklassigen Challenge Cup 1994 ist und der ein Stadion besitzt, das allenfalls Zugluftfanatiker in Erregung versetzt.
Was aus einer Schnapsidee passieren kann
Warum tut man sich das an? „Hier geht es nicht nur um Fußball, sondern um die Gemeinschaft, die sich entwickelt hat“, erklärt Terje. Und tatsächlich, im Laufe der Jahre hat sich aus der Schnapsidee von einst eine Symbiose zwischen dem Klub und seinen skandinavischen Anhängern entwickelt. Die beiden Gründungsbrüder sind nicht mehr dabei, doch zwanzig Leute kommen für jede Reise irgendwie immer zusammen. Seit Jahrzehnten sponsern die Skandinavier den Klub mit bis zu 10 000 Euro jährlich.
Das Geld dafür sammeln sie bei den Tombolas auf zwei Feiern im Jahr: dem Weihnachtsmarkt und der sommerlichen Dampferfahrt auf dem Oslofjord. Zum Dank für den warmen Geldregen hat der Klub seine einzige Sitzplatztribüne zum „Norwegian Stand“ ernannt. Im Gegenzug genießen die Gäste von der anderen Seite der Nordsee freie Kost und Logis bei Heimspielen im Ochilview Park.
„Wahrscheinlich zahlt der Verein am Ende sogar drauf“, sagt Terje. Und wer Norwegern auf Reisen schon mal beim Trinken und Essen zugesehen hat, weiß, dass das kein Scherz gewesen sein muss.
Der Fanclub hat Anteile am Klub
Zum zehnjährigen Jubiläum der „Norwegian Supporters“ überschrieb der Verein gar fünf Prozent seiner Anteile auf den Fanclub. Die haben heute jedoch lediglich symbolischen Wert, seit der Klub im Jahr 2009 zu einem Community- Club umgewandelt wurde. Die Jugendmannschaften von Stenny werden regelmäßig auf Kosten der Norweger zu einem Turnier nach Oslo eingeladen, laufen auch schon mal bei Erstligaspielen in Norwegen an der Hand der Profis ins Stadion ein. Heute hat der Verein eine erstaunlich internationale Fangemeinde, es gibt Fanklubs in Dänemark, England, Irland, den Niederlanden und Australien.
Die Gründe dafür kann niemand erklären.
Eines wissen aber alle: Die Norweger waren die Vorreiter. Vor Jahren wurde Terje Eriksen schließlich zum Ehrenpräsident des Stenhousemuir FC ernannt.
Dank bester Kontakte aus seiner Vergangenheit als erfolgreicher Lederexporteur hat er im Laufe der Zeit viele Türen für beide Seiten öffnen können. Seither ist er als Fanklub-Außenminister im Dienst der internationalen Verständigung unterwegs. Auch in „The Station“ schüttelt er viele Hände, lässt sich auf die Schulter klopfen, plauscht mit den Ians, Dennys und Collins wie mit alten Freunde. „Stenny ist meine zweite Heimat“, sagt er.
Georg, kahlrasiert, Rahmenbrille, seit knapp 15 Jahren dabei
Samstagmorgen. Zwanzig Norweger stehen in der Toolboth Street, der kleinsten Straße Großbritanniens, an deren Ende ein sichtlich angeschlagener Kerl im Kuhkostüm Passanten anpöbelt und auf den Handys seiner Kumpels verewigt wird. Als die Bedienung des Pubs pünktlich um 11 Uhr die Jalousien hochrollt, sieht sie Georg Mathisen. „Ist es schon wieder so weit?“, fragt sie lächelnd. Man kennt die Skandinavier hier mittlerweile. Georg, kahlrasiert, Rahmenbrille, seit knapp 15 Jahren dabei, nickt. Tradition ist Tradition. Und wenn man Terje Eriksen die Rolle als Diplomaten zuordnet, ist er der Innenminister der „Norwegian Supporters“. Er sorgt sich um das Seelenwohl der Gruppe, hat das Tagesprogramm fest im Blick. Wie selbstverständlich marschiert er in die Kneipe, schnappt sich einen Staubsauger und beginnt zertretene Nussschalen des Vorabends vom Teppich zu saugen. „Ich arbeite hart für meine Drinks“, sagt er und bellt ein Lachen in die 15-Quadratmeter- Kulisse aus Holzvertäfelung, Zapfhähnen und Daddelautomaten. Dann wird Lager geordert, dazu Cider, Wodka und Gin-Tonic gereicht. Innerhalb von fünf Minuten ist aus einem leeren Pub Klein-Oslo geworden. Wenig später kleben auch die ersten einheimischen Tresenfliegen am Brett und murmeln sich an.
„Früher wurde auf Tischen getanzt“
Georg Mathisen steht in der Mitte und reißt Witze am laufenden Band. Doch an der Gruppe sind die vergangenen zwei Jahrzehnte nicht spurlos vorübergegangen. Einige Mitglieder sind verstorben, andere schlichtweg gealtert, mittlerweile kommen auch ihre Frauen mit auf Reisen. Georg hat seine Tochter mitgebracht, der Sonntag ist seit einigen Jahren zum festen Shoppingtag auserkoren worden. „Natürlich hat sich die Art unserer Reise im Laufe der Jahre verändert“, sagt er nachdenklich. „Früher wurde lieber auf den Tischen getanzt, heute stehen wir in der Mall“, raunt Terje, der am Tresen lehnt und mit dem Wirt über das anstehende Spiel fachsimpelt. Sein Blick sagt: Früher war alles irgendwie besser.
Endlich im Ochilview Park angekommen. „Wir sind zwar harte Jungs, aber wenn wir sehen, wie viele von euch jedes Mal den weiten Weg zu uns nach Schottland auf sich nehmen, geht uns das Herz auf“, sagt Vereinsvorstand Robert Beagley zur Eröffnung des Begrüßungslunchs im Inneren des Stadions.
Dann betritt Margaret Kilpatrick den Raum. Die gute Seele des Vereins hat vor 22 Jahren den Anruf von Christian Wulff abgewürgt. Heute hat sie eine Geburtstagstorte für Terje in der Hand, einen Marzipanfußball. Wie auf Knopfdruck schmettern alle Anwesenden „Happy Birthday“, dann wird Salat in Nierenschalen gereicht, dazu Pastete, Chicken Highlander, Steak Pie, viel Bier, und so langsam beginnt man sich zu fragen, wie viel Alkohol ein einzelner Mensch eigentlich vertragen kann.
Auch die Mannschaft spielt nicht so, als ginge es für sie tatsächlich um den Aufstieg in die zweite Liga, sondern als wären sie seit dem ersten Pint des Tages dabei gewesen. Der Ball kullert am Ende zum 2:1‑Sieg für die Gäste aus Airdrie über die Linie. Doch Georg, Terje und die anderen haben die 90 Minuten ohnehin als Ausnüchterungseinheit an der frischen Luft genutzt. Ein bisschen singen, ein bisschen schimpfen, ein bisschen dösen, nur Amateure verschwenden ihre Energie bereits so früh am Tag.
Denn am Abend steht noch der „Players of the Year“-Ball auf dem Programm. Im „Broomage Social Club“ stützen sich bereits kurz nach Beginn die heimischen Bauchfleischfrauen und die Zahnlückenmänner gegenseitig. Die Bar ist von einem Gitterkäfig umgeben, am Buffet gibt es Frittiertes in allen erdenklichen Spielarten. Die Norweger verleihen wie jedes Jahr einen Fairplay-Preis und zeichnen den „Spieler des Jahres“ aus.
Georg Mathisen hält zur Eröffnung eine Rede, erzählt von Terjes 60. Geburtstag, von der Toolboth Tavern, von Freundschaft, die sich nicht über die Anzahl der Besuche definiert, sondern über das Gefühl, willkommen zu sein. Als Georg fertig ist, klopft ihm ein sichtlich gerührter Schotte auf die Schulter und sagt: „Tolle Rede!“ Terje lächelt und sagt:
„Du hast genuschelt. Ich habe kein Wort verstanden.“ Im weiteren Verlauf des Abends verschwimmen die Grenzen zwischen norwegischem und schottischem Geschnodder irgendwann zu einem einzigen Vokal, mit dem sich alle im Raum unterhalten. Ein langgezogenes Ö.
Nach all den Reden, all den Pints, den doppelten Wodkas, dem Schulterklopfen, Händeschütteln, Geschichten erzählen und dem verkorksten Fußballspiel erhebt sich Terje gegen Mitternacht von seinem Stuhl. Er zieht sich seine Krawatte zurecht, rafft den Hosenbund und schreitet auf die Tanzfläche. „Today was a good, good day“, trällert es aus den Boxen. Terje reißt die Arme hoch, nähert sich pendelnd Margaret Kilpatrick, zwinkert Georg zu. Endlich ist er am Ziel, endlich kann er tanzen. Doch dann verzieht er sein Gesicht und sinkt zurück in den Stuhl. Er nimmt einen Schluck Wodka. Es war ein guter Tag. Aber diese verdammten Hüften.