Die SSC Neapel eilt von Sieg zu Sieg und peilt den Serie A‑Startrekord an. Das schürt am Vesuv Hoffnungen auf den ersten Meistertitel seit über 30 Jahren. Was macht die „Partenopei“ so stark?
Lange Zeit schien es, als könne der FC Turin tatsächlich zu dem Stolperstein werden, den sich die Konkurrenz seit Wochen für die SSC Neapel wünscht. 80 Minuten hatte „Il Toro“ im Stadio Diego Armando Maradona das 0:0 gehalten, den Hausherren gingen langsam die Ideen aus. Dann jedoch kam die 81. Minute, dann kam Victor Osimhen: Der 22-jährige Angreifer peilte einen Querschläger an, der im hohen Bogen durch den Turiner Strafraum segelte, schraubte sich in Cristiano-Ronaldo-Manier hoch, schien einige Augenblicke in der Luft zu stehen – und köpfte die Kugel dann wuchtig in die Maschen. Turin fand keine Antwort mehr, Neapels Siegesserie nicht ihr Ende.
Den Dreier vom Sonntag eingerechnet, verbesserten die „Partenopei“ ihre makellose Bilanz auf acht Siege aus den ersten acht Spielen – bis zum Allzeit-Startrekord der Roma aus der Saison 2013/14 sind es nur noch zwei weitere. Zahlen, die eines beweisen: Napoli ist gerade das Maß der Dinge im italienischen Calcio. Obwohl der Klub nun schon seit Jahren im Dunstkreis der Ligaspitze mitschwimmt, kommt die Leistungsexplosion doch überraschend. Immerhin hatte die Vereinsführung um Eigentümer Aurelio di Laurentiis im Sommer keinesfalls zur Transferoffensive geblasen. Vielmehr ging die SSC mit nahezu unverändertem Personal in das neue Spieljahr – Personal, das letzte Saison nur auf Platz fünf und in der Europa statt in der Champions League gelandet war. Was also ist plötzlich anders in Neapel?
Zunächst einmal wäre da der Torschütze vom Sonntag. Der Rekordeinkauf (80 Millionen!) spielt zwar schon seit einem Jahr in Neapel, hatte in seiner ersten Saison aber mit mehreren Verletzungen zu kämpfen. Für zehn Treffer, die am Saisonende zu Buche standen, musste sich Osimhen nicht schämen – doch nimmt er in diesem Jahr Kurs auf ganz andere Statistiken. In neun Pflichtspielen netzte der Nigerianer nun schon achtmal. Es zeigt sich: Ist Osimhen fit, verleiht er der Napoli-Offensive eine ganz andere Wucht. „Genau dieser Spielertyp nährt die Träume der Fußballbegeisterten. Und Neapel ist eine Stadt der großen Leidenschaften“, schrieb das Fachmagazin „Gazzetta dello Sport“ noch am Sonntag über den Angreifer.
Ein anderer wichtiger Profi, der die Leidenschaften der kampanischen Metropole ebenfalls bestens kennen dürfte, ist Lorenzo Insigne. Der gebürtige Neapolitaner führt die Mannschaft seit Jahren an. In der abgelaufenen Saison war Insigne mit 26 Torbeteiligungen nicht weniger als die Lebensversicherung der „Gli Azzuri“. Problematisch wurde es folglich immer dann, wenn der quirlige Linksaußen einen schwächeren Tag erwischt hatte. Diese Unausgewogenheit scheint nun jedoch behoben. Dem Team gelingt es sogar, die Elfmeterfehlschüsse ihres Kapitäns auszugleichen – bevor Osimhen gegen Torino traf, hatte Insigne gerade den dritten von fünf Strafstößen in der laufenden Spielzeit verschossen.
Den starken Start Napolis einzig an Osimhens Leistungssteigerung und deren Folgeerscheinungen festzumachen, griffe allerdings zu kurz. So wird der Höhenflug zugleich von vielen richtigen Entscheidungen am Taktikboard begleitet. Der neue Trainer Luciano Spalletti, seit Juli im Amt, versteht es, seiner Mannschaft immer wieder die optimale Grundordnung zu verpassen. Allein im Verlaufe des Heimspiels gegen Torino setzte der 62-Jährige auf drei verschiedene taktische Ausrichtungen. Gebot dabei: die Abwehr muss stehen. Konsequenz: nur drei Gegentore in acht Spielen. Doch auch abseits taktischer Kniffe scheint Spalletti der richtige Mann am richtigen Ort zu sein. Der erfahrene Übungsleiter – zuvor unter anderem bei Inter und der Roma – tut dem Klub gut. Vorgänger Gattuso hatte zwar ebenfalls den ein oder anderen Erfolg feiern dürfen, war mit seinem hitzköpfigen Gemüt jedoch auch regelmäßig angeeckt. In Florenz, wo die frühere Milan-Ikone nach dem Abschied aus Neapel anheuerte, bestätigte sich das. Nur 23 Tage dauerte die Gattuso-Ära an, dann trennte man sich wieder. Der Trainer hatte sich schlichtweg an der Transferpolitik bei der finanziell wiedererstarkten Fiorentina gestört.
Auch Spalletti ist nicht unbedingt als Leisetreter bekannt, in Sachen Leidenschaft kann er durchaus mit seinem Vorgänger – und den Neapolitanern – mithalten. Doch könnte ihm seine Erfahrung dabei helfen, auf Dauer besser im emotionalen Napoli-Umfeld zurechtkommen als der fast 20 Jahre jüngere Gattuso. Apropos Umfeld: Die zu beobachtende Einheit zwischen Mannschaft und Fans darf bei der Suche nach einer Napoli-Erfolgsformel nicht vernachlässigt werden – und ist zu Teilen ebenfalls auf Spalletti zurückzuführen. „Sarò con te … e tu non devi mollare“, „ich werde bei dir sein und du darfst nicht aufgeben“, war zu Saisonbeginn auf den Trainingsleibchen der Blauen zu lesen. Laut „Gazzetta dello Sport“ hatte der Chefcoach selbst die entsprechende Beflockung in Auftrag gegeben, um den Fans zu beweisen, dass die Mannschaft bereit sei, die enttäuschende letzte Spielzeit wiedergutzumachen. Die Zeilen sind Teil eines Gesangs, den die Anhänger im Jahr 2017 etablierten – zu Zeiten, in denen Napoli ernsthaft um den Scudetto mitspielte. Weiter heißt es: „Wir haben einen Traum in unseren Herzen: Neapel ist wieder Meister.“