Nie sind sich Vater und Sohn so nah, wie wenn sie gemeinsam Fußball schauen. Unser Autor spürte das vor allem im Sommer 1986, als Hans-Peter Briegel vergeblich versuchte, Jorge Burrachaga einzuholen. Eine Chronik der Gefühle.
„Nagelneu“ nannte er alles, was er für teures Geld gekauft hatte, niemals alt werden durfte und es umso schneller wurde. Heute ist dieser Fernseher längst Schrott, der selbst schon nicht mehr existiert. Als wollte mein Vater sich gegen die Vergänglichkeit stemmen, polierte er die Mattscheibe jeden Tag mit einem Tuch, wie ein Wärter in einem Museum der Gegenwart. Der Fernseher sollte so neu bleiben, wie er war, als er ihn gekauft, ja mehr noch: angeschafft hatte. Der Fernseher war, neben dem Auto, das Teuerste und Heiligste, das wir besaßen.
Und ganz neu war auch, was der Fernseher uns brachte: die bewegten Bilder. Wir waren den Leuten noch nah, die sich fein machten, als gingen sie in die Oper, bevor sie das Gerät einschalteten, weil sie dachten, die Moderatoren könnten sie sehen. Wir waren sogar noch denen nah, die am 28. Dezember 1895 in einem Pariser Café dem ersten Kinofilm der Geschichte beiwohnten, „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ von den Gebrüdern Lumière. Es wird behauptet, sie hätten sich zu Boden geworfen, als die Lokomotive von der Leinwand auf sie zu raste, aber das stimmt wohl nicht. „Was das Publikum erlebte“, schrieb der Historiker Tom Gunning, „war nicht die Furcht vor einem realen Zug, sondern der Schrecken angesichts eines offensichtlich irrealen und zugleich doch erstaunlich realistischen Abbilds.“
„Was glaubst du, gewinnen wir morgen?“
So lange ist das her, das sind dreißig Jahre: Auch wir erschraken, wenn sich die Athleten plötzlich bewegten, die eben noch regungslos waren wie römische Statuen. Wir kannten sie aus den Illustrierten, von den Sammelbildchen und den Postern, zu denen wir aufblickten, wenn mein Vater sich am Abend für einen Moment auf meine Bettkante setzte. Er befragte mich, als sei ich ein Experte: „Was glaubst du, gewinnen wir morgen?“
Ein großer Ernst fuhr in mich, und ich sagte, als hinge das Schicksal nur von meiner Weissagung ab: „Ich denke ja.“
III
Der Komet Halley
Es war in der Tat „offensichtlich irreal und erstaunlich realistisch“: Die Helden des Sports waren der Phantasie entstiegen und zum Leben erweckt worden. Boris Becker hechtete, Steffi Graf retournierte, Michael Groß, der Albatros, schwamm übers Wasser. Der Raketenmann flog über Los Angeles, bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984, das ist meine erste Erinnerung an ein bewegtes Bild überhaupt. Die Crews der Hochseeyachten preschten beim America’s Cup durch den Atlantik, wie Eroberer des Nutzlosen. Boxchampions, Zehnkampfkönige, Eisprinzessinnen, sie alle waren wachgeküsst vom neuen Zauber der Elektrizität in unserer guten Stube. Sport im Fernsehen: Das war ein lebendiger Mythos.
Auch Fußball war Sport, war ein großes, unerhörtes Märchen, das Leben als Gleichnis, und doch war er viel mehr als das: Er war alles. Das Hochamt, nach dem wir unser Leben ausrichteten, das es einteilte in Spieltage und die Tage dazwischen. In Hoffnung und Furcht, Freude und Trauer.
„Die Russen zapfen“
Die ganze Woche lief auf den Fußball zu, auf die unausweichliche Stunde der Wahrheit. Die Übertragungen jener Zeit wurden moderiert von spröden Männern mit spröden Namen wie Heribert Faßbender, Adi Furler, Werner Zimmer. Sie wachten, gestrengen Justitiaren gleich, über Resultate und Tabellen. Kein Enthusiasmus lag in ihren Stimmen, nichts spiegelte das Spektakel wider, dem wir entgegenfieberten. Wir warteten auf den Anstoß wie auf die erste Mondlandung.
Die gute Stube wurde verdunkelt, die Sonne weggesperrt hinter Jalousien, weil sie störte. Ich öffnete die Türen des Schranks, als wäre er ein Tabernakel, dahinter lauerte der Fernseher wie ein nur halb gezähmtes Tier. Die Bildröhre knisterte, von fern flüsterten Stimmen, dann zeigte es sich in seiner bizarren Schönheit und begann im Dunkeln zu leuchten. Mein Vater tarierte die Antenne auf einem bestimmten Punkt ganz oben auf dem Schrank aus, nur dort war der Empfang stabil. Wenn er doch einmal zusammenbrach, wenn sich der Schnee über das Bild legte, sagte mein Großvater, der seltene, stille Gast im Fernsehzimmer, manchmal: „Die Russen zapfen.“