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Seite 2: „Was glaubst du, gewinnen wir morgen?“

Nagelneu“ nannte er alles, was er für teures Geld gekauft hatte, nie­mals alt werden durfte und es umso schneller wurde. Heute ist dieser Fern­seher längst Schrott, der selbst schon nicht mehr exis­tiert. Als wollte mein Vater sich gegen die Ver­gäng­lich­keit stemmen, polierte er die Matt­scheibe jeden Tag mit einem Tuch, wie ein Wärter in einem Museum der Gegen­wart. Der Fern­seher sollte so neu bleiben, wie er war, als er ihn gekauft, ja mehr noch: ange­schafft hatte. Der Fern­seher war, neben dem Auto, das Teu­erste und Hei­ligste, das wir besaßen.

Und ganz neu war auch, was der Fern­seher uns brachte: die bewegten Bilder. Wir waren den Leuten noch nah, die sich fein machten, als gingen sie in die Oper, bevor sie das Gerät ein­schal­teten, weil sie dachten, die Mode­ra­toren könnten sie sehen. Wir waren sogar noch denen nah, die am 28. Dezember 1895 in einem Pariser Café dem ersten Kino­film der Geschichte bei­wohnten, Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ von den Gebrü­dern Lumière. Es wird behauptet, sie hätten sich zu Boden geworfen, als die Loko­mo­tive von der Lein­wand auf sie zu raste, aber das stimmt wohl nicht. Was das Publikum erlebte“, schrieb der His­to­riker Tom Gun­ning, war nicht die Furcht vor einem realen Zug, son­dern der Schre­cken ange­sichts eines offen­sicht­lich irrealen und zugleich doch erstaun­lich rea­lis­ti­schen Abbilds.“

Was glaubst du, gewinnen wir morgen?“ 

So lange ist das her, das sind dreißig Jahre: Auch wir erschraken, wenn sich die Ath­leten plötz­lich bewegten, die eben noch regungslos waren wie römi­sche Sta­tuen. Wir kannten sie aus den Illus­trierten, von den Sam­mel­bild­chen und den Pos­tern, zu denen wir auf­blickten, wenn mein Vater sich am Abend für einen Moment auf meine Bett­kante setzte. Er befragte mich, als sei ich ein Experte: Was glaubst du, gewinnen wir morgen?“

Ein großer Ernst fuhr in mich, und ich sagte, als hinge das Schicksal nur von meiner Weis­sa­gung ab: Ich denke ja.“ 

III
Der Komet Halley
Es war in der Tat offen­sicht­lich irreal und erstaun­lich rea­lis­tisch“: Die Helden des Sports waren der Phan­tasie ent­stiegen und zum Leben erweckt worden. Boris Becker hech­tete, Steffi Graf retour­nierte, Michael Groß, der Alba­tros, schwamm übers Wasser. Der Rake­ten­mann flog über Los Angeles, bei der Eröff­nungs­feier der Olym­pi­schen Spiele 1984, das ist meine erste Erin­ne­rung an ein bewegtes Bild über­haupt. Die Crews der Hoch­see­yachten preschten beim America’s Cup durch den Atlantik, wie Eroberer des Nutz­losen. Box­cham­pions, Zehn­kampf­kö­nige, Eis­prin­zes­sinnen, sie alle waren wach­ge­küsst vom neuen Zauber der Elek­tri­zität in unserer guten Stube. Sport im Fern­sehen: Das war ein leben­diger Mythos.

Auch Fuß­ball war Sport, war ein großes, uner­hörtes Mär­chen, das Leben als Gleichnis, und doch war er viel mehr als das: Er war alles. Das Hochamt, nach dem wir unser Leben aus­rich­teten, das es ein­teilte in Spiel­tage und die Tage dazwi­schen. In Hoff­nung und Furcht, Freude und Trauer.

Die Russen zapfen“

Die ganze Woche lief auf den Fuß­ball zu, auf die unaus­weich­liche Stunde der Wahr­heit. Die Über­tra­gungen jener Zeit wurden mode­riert von spröden Män­nern mit spröden Namen wie Heri­bert Faß­bender, Adi Furler, Werner Zimmer. Sie wachten, gestrengen Jus­ti­tiaren gleich, über Resul­tate und Tabellen. Kein Enthu­si­asmus lag in ihren Stimmen, nichts spie­gelte das Spek­takel wider, dem wir ent­ge­gen­fie­berten. Wir war­teten auf den Anstoß wie auf die erste Mond­lan­dung.

Die gute Stube wurde ver­dun­kelt, die Sonne weg­ge­sperrt hinter Jalou­sien, weil sie störte. Ich öff­nete die Türen des Schranks, als wäre er ein Taber­nakel, dahinter lau­erte der Fern­seher wie ein nur halb gezähmtes Tier. Die Bild­röhre knis­terte, von fern flüs­terten Stimmen, dann zeigte es sich in seiner bizarren Schön­heit und begann im Dun­keln zu leuchten. Mein Vater tarierte die Antenne auf einem bestimmten Punkt ganz oben auf dem Schrank aus, nur dort war der Emp­fang stabil. Wenn er doch einmal zusam­men­brach, wenn sich der Schnee über das Bild legte, sagte mein Groß­vater, der sel­tene, stille Gast im Fern­seh­zimmer, manchmal: Die Russen zapfen.“