Nie sind sich Vater und Sohn so nah, wie wenn sie gemeinsam Fußball schauen. Unser Autor spürte das vor allem im Sommer 1986, als Hans-Peter Briegel vergeblich versuchte, Jorge Burrachaga einzuholen. Eine Chronik der Gefühle.
Es heißt, Niederlagen machten einen Menschen stärker. Es heißt, die Anhänger des SV Werder wüssten mehr vom Leben als die des FC Bayern. Das ist ein schwacher Trost, ein Trost, der an sich schon traurig ist. Und stimmt er denn überhaupt? Ich fühle mich zur Tragik hingezogen, zu den gebrochenen Helden, und glaube, es liegt an 1986, als wäre es der Anfang meiner Lebensgeschichte, die jemand absichtsvoll geschrieben hätte. Dabei war es wohl nur Zufall. „Ich habe versucht, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken“, heißt es in „No Country For Old Men“ von Cormac McCarthy, „aber manchmal ist man ihnen einfach zu nahe. Sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist, dauert ein Leben lang, und selbst da kann man sich noch täuschen.“
Ich weiß nicht, wer ich heute wäre, hätte Kutzop getroffen und Briegel Burruchaga eingeholt. Aber ich weiß: Wenn ich an meinen Vater denke, dann denke ich daran, wie wir zusammen vor dem Fernseher saßen. Wie wir litten, wie wir erlöst wurden und manchmal auch nicht.
VIIl
Der falsche Diamant
Nostalgie ist die Sehnsucht nach einer Zeit, in der man auch schon nichts zu lachen hatte. Und ich sehne mich zurück, nach gestern, nach 1986. Nach dem grünen, dennoch seltsam warmen Licht, das unsere gute Stube erfüllte. Nach unseren schönen, schrecklichen Fußballtagen. Nach unserem Pakt, unserem stillen Geheimnis: Wir halten durch, weil wir den Fußball haben. Er hatte die Kraft, uns über alles hinwegzuhelfen. Sogar über sich selbst. Der SV Werder Bremen wurde 1988 Deutscher Meister, Deutschland zwei Jahre später Weltmeister. Es waren meine ersten Titel. „Siehst du“, sagte mein Vater, „so fühlt sich das an.“
Ich liebe den Fußball noch immer. Doch sein Licht ist schwächer geworden, obwohl es inzwischen von überall leuchtet, rund um die Uhr. Es ist ein kaltes, künstliches Licht, wie das von Leuchtstoffröhren in Wettbüros, von Flachbildschirmen und Computerscreens. Lichtverschmutzung, nennen das die Astrologen: Ich blicke zum Himmel, aber sehe die Sterne nicht mehr. Der Fußball überstrahlt sich selbst.
Die spröden Männer mit den spröden Namen, die gestrengen Justitiare der Mondlandung, die damals die Übertragungen moderierten, sind durch aufgekratzte Marktschreier ersetzt worden. Sie preisen Massenware an. Was einmal kostbar war, liegt jetzt im Schaufenster wie ein falscher Diamant. Oder war er schon immer falsch? Bin ich nicht mehr Kind genug, um an die Illusion zu glauben?
Als wären wir dem Fußball abhanden gekommen
Unlängst telefonierte ich mit meinem Vater, er fragte: „Hast du gestern Abend das Spiel gesehen?“ Ich sagte: „Nicht ganz. Ich bin eingeschlafen.“ Dann sagte er: „Da hast du auch nichts verpasst.“ Es war eines der traurigsten Gespräche, die wir jemals geführt haben. Es war, als wären wir beide dem Fußball abhanden gekommen.
Und doch sucht mein Vater noch immer Hans Schäfer, so scheint mir, überall, in der deutschen, auch in der spanischen, italienischen, englischen Liga. Er schaut fast jedes Spiel, drei, vier am Tag, er hat ein Abo, er schaut sogar den österreichischen Pokalwettbewerb und Wiederholungen, die dann zum zweiten Mal torlos enden. Aber er weiß doch, dass er Hänschen nicht mehr finden wird. Unter denen, die ihr Haar tragen wie Kronen, ist längst kein einziger Friseur mehr. Niemand, von dem man sagen könnte, er sei einer von uns.
Seinem neuen, allzu neuen Fernseher misstraut mein Vater. Er passt nicht mehr ins Tabernakel. Selbstherrlich steht er mitten in der guten Stube und speit sein kaltes Licht aus. Er sagt, er werde den Fernseher demnächst abschaffen. Er sagt es, als wollte er ihn für das bestrafen, was er überträgt: einen hysterischen Zirkus der Moderne. Aber ihm ist noch nichts eingefallen, was er stattdessen machen könnte, ohne diesen Sport, der immer schon sein Leben bestimmt hat, der es aufgehellt hat und zuweilen verdunkelt, aber immer in erträgliche Abschnitte unterteilt, zwischen den Alltagen. Nun ist der Fußball selbst Alltag geworden, ein in allen Farben schillernder, doch seltsam grauer Alltag.
Wie lang ist es her, dass jeder unserer Gedanken, jedes Gefühl so gleichförmig ausgerichtet war wie Metallspäne zu einem Magneten? Dass der Fußball alles für uns war? Manchmal kommt es mir so vor, als wäre seit gestern doch eine Ewigkeit vergangen.
IX
Irgendwann
Ich erinnere mich, wie ich am Morgen nach dem Endspiel der Weltmeisterschaft 1986 in der Badewanne saß und im Radio die Meldung hörte, dass Hans-Peter Briegel aus der Nationalmannschaft zurückgetreten sei. Das kam mir vor wie eine Sportinvalidität aufgrund von gebrochenem Herzen.
Ich erinnere mich aber auch, wie Briegel einmal, in einem Interview viele Jahre später, gefragt wurde, ob er noch immer an das Laufduell mit Jorge Burruchaga denke. „Ja““, sagte Briegel. „Aber irgendwann hole ich ihn ein.“
Ich hoffe, dass mein Vater und ich das noch gemeinsam erleben. Dass wir das grüne Licht wieder sehen. Dass es um alles geht und wir gemeinsam Kinder sind. Für diesen Tag kaufe ich einen neuen, alten Fernseher, der in die Schrankwand passt.