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Seite 6: Der Fußball überstrahlt sich selbst

Es heißt, Nie­der­lagen machten einen Men­schen stärker. Es heißt, die Anhänger des SV Werder wüssten mehr vom Leben als die des FC Bayern. Das ist ein schwa­cher Trost, ein Trost, der an sich schon traurig ist. Und stimmt er denn über­haupt? Ich fühle mich zur Tragik hin­ge­zogen, zu den gebro­chenen Helden, und glaube, es liegt an 1986, als wäre es der Anfang meiner Lebens­ge­schichte, die jemand absichts­voll geschrieben hätte. Dabei war es wohl nur Zufall. Ich habe ver­sucht, die Dinge in die rich­tige Per­spek­tive zu rücken“, heißt es in No Country For Old Men“ von Cormac McCarthy, aber manchmal ist man ihnen ein­fach zu nahe. Sich selbst so zu sehen, wie man wirk­lich ist, dauert ein Leben lang, und selbst da kann man sich noch täu­schen.“

Ich weiß nicht, wer ich heute wäre, hätte Kutzop getroffen und Briegel Bur­ruchaga ein­ge­holt. Aber ich weiß: Wenn ich an meinen Vater denke, dann denke ich daran, wie wir zusammen vor dem Fern­seher saßen. Wie wir litten, wie wir erlöst wurden und manchmal auch nicht.

VIIl
Der fal­sche Dia­mant
Nost­algie ist die Sehn­sucht nach einer Zeit, in der man auch schon nichts zu lachen hatte. Und ich sehne mich zurück, nach ges­tern, nach 1986. Nach dem grünen, den­noch seltsam warmen Licht, das unsere gute Stube erfüllte. Nach unseren schönen, schreck­li­chen Fuß­ball­tagen. Nach unserem Pakt, unserem stillen Geheimnis: Wir halten durch, weil wir den Fuß­ball haben. Er hatte die Kraft, uns über alles hin­weg­zu­helfen. Sogar über sich selbst. Der SV Werder Bremen wurde 1988 Deut­scher Meister, Deutsch­land zwei Jahre später Welt­meister. Es waren meine ersten Titel. Siehst du“, sagte mein Vater, so fühlt sich das an.“ 

Ich liebe den Fuß­ball noch immer. Doch sein Licht ist schwä­cher geworden, obwohl es inzwi­schen von überall leuchtet, rund um die Uhr. Es ist ein kaltes, künst­li­ches Licht, wie das von Leucht­stoff­röhren in Wett­büros, von Flach­bild­schirmen und Com­pu­ter­screens. Licht­ver­schmut­zung, nennen das die Astro­logen: Ich blicke zum Himmel, aber sehe die Sterne nicht mehr. Der Fuß­ball über­strahlt sich selbst. 

Die spröden Männer mit den spröden Namen, die gestrengen Jus­ti­tiare der Mond­lan­dung, die damals die Über­tra­gungen mode­rierten, sind durch auf­ge­kratzte Markt­schreier ersetzt worden. Sie preisen Mas­sen­ware an. Was einmal kostbar war, liegt jetzt im Schau­fenster wie ein fal­scher Dia­mant. Oder war er schon immer falsch? Bin ich nicht mehr Kind genug, um an die Illu­sion zu glauben?

Als wären wir dem Fuß­ball abhanden gekommen

Unlängst tele­fo­nierte ich mit meinem Vater, er fragte: Hast du ges­tern Abend das Spiel gesehen?“ Ich sagte: Nicht ganz. Ich bin ein­ge­schlafen.“ Dann sagte er: Da hast du auch nichts ver­passt.“ Es war eines der trau­rigsten Gespräche, die wir jemals geführt haben. Es war, als wären wir beide dem Fuß­ball abhanden gekommen.

Und doch sucht mein Vater noch immer Hans Schäfer, so scheint mir, überall, in der deut­schen, auch in der spa­ni­schen, ita­lie­ni­schen, eng­li­schen Liga. Er schaut fast jedes Spiel, drei, vier am Tag, er hat ein Abo, er schaut sogar den öster­rei­chi­schen Pokal­wett­be­werb und Wie­der­ho­lungen, die dann zum zweiten Mal torlos enden. Aber er weiß doch, dass er Häns­chen nicht mehr finden wird. Unter denen, die ihr Haar tragen wie Kronen, ist längst kein ein­ziger Fri­seur mehr. Nie­mand, von dem man sagen könnte, er sei einer von uns. 

Seinem neuen, allzu neuen Fern­seher miss­traut mein Vater. Er passt nicht mehr ins Taber­nakel. Selbst­herr­lich steht er mitten in der guten Stube und speit sein kaltes Licht aus. Er sagt, er werde den Fern­seher dem­nächst abschaffen. Er sagt es, als wollte er ihn für das bestrafen, was er über­trägt: einen hys­te­ri­schen Zirkus der Moderne. Aber ihm ist noch nichts ein­ge­fallen, was er statt­dessen machen könnte, ohne diesen Sport, der immer schon sein Leben bestimmt hat, der es auf­ge­hellt hat und zuweilen ver­dun­kelt, aber immer in erträg­liche Abschnitte unter­teilt, zwi­schen den All­tagen. Nun ist der Fuß­ball selbst Alltag geworden, ein in allen Farben schil­lernder, doch seltsam grauer Alltag. 

Wie lang ist es her, dass jeder unserer Gedanken, jedes Gefühl so gleich­förmig aus­ge­richtet war wie Metall­späne zu einem Magneten? Dass der Fuß­ball alles für uns war? Manchmal kommt es mir so vor, als wäre seit ges­tern doch eine Ewig­keit ver­gangen.

IX
Irgend­wann
Ich erin­nere mich, wie ich am Morgen nach dem End­spiel der Welt­meis­ter­schaft 1986 in der Bade­wanne saß und im Radio die Mel­dung hörte, dass Hans-Peter Briegel aus der Natio­nal­mann­schaft zurück­ge­treten sei. Das kam mir vor wie eine Sport­in­va­li­dität auf­grund von gebro­chenem Herzen.

Ich erin­nere mich aber auch, wie Briegel einmal, in einem Inter­view viele Jahre später, gefragt wurde, ob er noch immer an das Lauf­duell mit Jorge Bur­ruchaga denke. Ja““, sagte Briegel. Aber irgend­wann hole ich ihn ein.“

Ich hoffe, dass mein Vater und ich das noch gemeinsam erleben. Dass wir das grüne Licht wieder sehen. Dass es um alles geht und wir gemeinsam Kinder sind. Für diesen Tag kaufe ich einen neuen, alten Fern­seher, der in die Schrank­wand passt.