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I
Ein Quilt aus Erin­ne­rungen
Mein Vater ist mein Vater, ich bin sein Sohn. Viele sagen, wenn sie Bilder von ihm als jün­gerem Mann sehen: Du siehst aus wie er. Der Mund. Die Augen. Etwas scheu blickt er an der Kamera vorbei. Würde man ein Foto von mir dar­über legen, sie würden sich zu einem fügen. Mein Groß­vater sprach mich manchmal mit dem Vor­namen meines Vaters an, er hatte sich in der Gene­ra­tion, nicht aber im Gesicht vertan. Auch unsere Wesen ähneln ein­ander, je älter ich werde, desto mehr. Aber haben wir wirk­lich gemeinsam, was wir gemeinsam zu haben glauben? 

Uns trennen viele Jahre, und manche Wörter trennen uns auch. Wenn mein Vater von früher erzählt, von seinem Früher, ver­suche ich zu ver­stehen, wie es war, als die Tante mit gebro­chenem Bein end­lich das Kran­ken­haus ver­ließ und ein tröst­li­cher Brief ein­traf von Ver­wandten aus Ame­rika. Aber die Sprache hat sich ver­än­dert seither, manche Wörter sind unklar geworden. Was ist tröst­lich? Was ist ein Brief? Was ist Ame­rika?

Die Furcht, die Hoff­nung, die Freude, die Trauer

Nur in einem, glaube ich, waren wir je ein Herz und eine Seele: wenn wir zusammen ein Fuß­ball­ball­spiel anschauten. Dann war jeder unserer Gedanken, jedes Gefühl so gleich­förmig aus­ge­richtet wie Metall­späne zu einem Magneten: die Furcht, die Hoff­nung, die Freude, die Trauer. Wie lang ist es her, dass mein Vater und ich zusammen ein Spiel anschauten, in dem es für uns beide um ein und das­selbe ging: um alles?

Es mag viel Zeit ver­gangen sein. Aber nur, wenn man die Zeit in Jahren misst. Ich erin­nere mich an alles, als wäre es nur wenige Tage her, als wäre es sogar nie­mals ver­gangen. Ich fühle es noch, als würde ich mit der Hand langsam über einen Quilt hin­strei­chen, der hier vor mir liegt. 

II
Ankunft des Zuges
In der guten Stube meines Eltern­hauses stand damals wie heute eine Schrank­wand, groß und dunkel wie ein Opfer­altar. Wein­brände werden darin gela­gert, die mit uner­mess­li­cher Lang­sam­keit ver­dunsten, aber nie getrunken werden, Eli­xieren gleich, deren Wir­kung nie­mand mehr kennt. Gerahmte Por­träts von Ver­stor­benen, ein Globus mit längst ver­scho­benen Grenzen, eine Uhr, eine Matroschka, ver­hut­zelte Talis­mane aus dem Schwarz­wald. Bücher, die mir, als ich klein war, vor­kamen wie mit­tel­al­ter­liche Palim­pseste, so rät­sel­haft waren ihre Titel, so ver­staubt ihre Ein­bände. Das Por­zellan, das nur her­vor­ge­holt wird, wenn hoher Besuch kommt. Einmal, als mein Groß­vater achtzig wurde, beehrte ihn der Dorf­pastor Schwarz. Ihm wurde Kuchen ange­boten auf dem edlen Ser­vice. Er lehnte dan­kend ab, er hatte schon zwei runde Geburts­tage hinter sich an diesem Tag. Der große, dunkle Schrank ist voller Gaben, von unschätz­barem Wert und doch wertlos. Sie stehen dort noch immer und warten darauf, geop­fert zu werden.

Sie sind nicht alt geworden, es wird nur alt das Neue. Wenn ich ver­suche zu ver­stehen, wie lange es her ist, dass ich ehr­furchts­voll vor diesem Schrank stand, vor­sichtig die Talis­mane berührte, als wären sie Reli­quien, die Por­träts meiner Urahnen betrach­tete, heim­lich die Fla­schen auf­schraubte und an den Wein­bränden roch, wenn ich ver­suche zu ver­stehen, was die dreißig Jahre bedeuten, die seither ver­gangen sind, denke ich an den Fern­seher, der in dem Schrank stand. Er war ganz neu damals. Nagelneu“, wie mein Vater zu sagen pflegte.