Nie sind sich Vater und Sohn so nah, wie wenn sie gemeinsam Fußball schauen. Unser Autor spürte das vor allem im Sommer 1986, als Hans-Peter Briegel vergeblich versuchte, Jorge Burrachaga einzuholen. Eine Chronik der Gefühle.
I
Ein Quilt aus Erinnerungen
Mein Vater ist mein Vater, ich bin sein Sohn. Viele sagen, wenn sie Bilder von ihm als jüngerem Mann sehen: Du siehst aus wie er. Der Mund. Die Augen. Etwas scheu blickt er an der Kamera vorbei. Würde man ein Foto von mir darüber legen, sie würden sich zu einem fügen. Mein Großvater sprach mich manchmal mit dem Vornamen meines Vaters an, er hatte sich in der Generation, nicht aber im Gesicht vertan. Auch unsere Wesen ähneln einander, je älter ich werde, desto mehr. Aber haben wir wirklich gemeinsam, was wir gemeinsam zu haben glauben?
Uns trennen viele Jahre, und manche Wörter trennen uns auch. Wenn mein Vater von früher erzählt, von seinem Früher, versuche ich zu verstehen, wie es war, als die Tante mit gebrochenem Bein endlich das Krankenhaus verließ und ein tröstlicher Brief eintraf von Verwandten aus Amerika. Aber die Sprache hat sich verändert seither, manche Wörter sind unklar geworden. Was ist tröstlich? Was ist ein Brief? Was ist Amerika?
Die Furcht, die Hoffnung, die Freude, die Trauer
Nur in einem, glaube ich, waren wir je ein Herz und eine Seele: wenn wir zusammen ein Fußballballspiel anschauten. Dann war jeder unserer Gedanken, jedes Gefühl so gleichförmig ausgerichtet wie Metallspäne zu einem Magneten: die Furcht, die Hoffnung, die Freude, die Trauer. Wie lang ist es her, dass mein Vater und ich zusammen ein Spiel anschauten, in dem es für uns beide um ein und dasselbe ging: um alles?
Es mag viel Zeit vergangen sein. Aber nur, wenn man die Zeit in Jahren misst. Ich erinnere mich an alles, als wäre es nur wenige Tage her, als wäre es sogar niemals vergangen. Ich fühle es noch, als würde ich mit der Hand langsam über einen Quilt hinstreichen, der hier vor mir liegt.
II
Ankunft des Zuges
In der guten Stube meines Elternhauses stand damals wie heute eine Schrankwand, groß und dunkel wie ein Opferaltar. Weinbrände werden darin gelagert, die mit unermesslicher Langsamkeit verdunsten, aber nie getrunken werden, Elixieren gleich, deren Wirkung niemand mehr kennt. Gerahmte Porträts von Verstorbenen, ein Globus mit längst verschobenen Grenzen, eine Uhr, eine Matroschka, verhutzelte Talismane aus dem Schwarzwald. Bücher, die mir, als ich klein war, vorkamen wie mittelalterliche Palimpseste, so rätselhaft waren ihre Titel, so verstaubt ihre Einbände. Das Porzellan, das nur hervorgeholt wird, wenn hoher Besuch kommt. Einmal, als mein Großvater achtzig wurde, beehrte ihn der Dorfpastor Schwarz. Ihm wurde Kuchen angeboten auf dem edlen Service. Er lehnte dankend ab, er hatte schon zwei runde Geburtstage hinter sich an diesem Tag. Der große, dunkle Schrank ist voller Gaben, von unschätzbarem Wert und doch wertlos. Sie stehen dort noch immer und warten darauf, geopfert zu werden.
Sie sind nicht alt geworden, es wird nur alt das Neue. Wenn ich versuche zu verstehen, wie lange es her ist, dass ich ehrfurchtsvoll vor diesem Schrank stand, vorsichtig die Talismane berührte, als wären sie Reliquien, die Porträts meiner Urahnen betrachtete, heimlich die Flaschen aufschraubte und an den Weinbränden roch, wenn ich versuche zu verstehen, was die dreißig Jahre bedeuten, die seither vergangen sind, denke ich an den Fernseher, der in dem Schrank stand. Er war ganz neu damals. „Nagelneu“, wie mein Vater zu sagen pflegte.