Jan-Philipp Kalla spielt seit 2003 beim FC St. Pauli. Nicht mal ein Angebot aus der Bundesliga würde ihn aus seiner Heimatstadt Hamburg weglocken. Warum eigentlich nicht?
Jan-Philipp Kalla, der FC St. Pauli hat die letzten drei Spiele gewonnen und muss am letzten Spieltag ausgerechnet in Darmstadt antreten. Ist Fußball ein undankbares Geschäft?
Nein, es gibt ja noch 17 andere Mannschaften in unserer Liga, und unsere Konkurrenten haben in den vergangenen Wochen auch ordentlich gepunktet – und sich das auch verdient. Daher ist das nicht ungerecht, sondern es bedeutet, dass wir noch einmal die Chance haben, alles rauszuhauen.
Kein Zähneknirschen, als Sie von den anderen Ergebnissen hörten?
Das ist halt so. Vor dem Kaiserslautern-Spiel am vorletzten Spieltag haben wir natürlich die Ergebnisse der Konkurrenten am Freitag gesehen und mussten am Samstag nachlegen. Ich glaube, es waren eher die anderen Mannschaften, die zähneknirschend dagesessen haben, weil die dachten, dass sie schon längst an uns vorbei gezogen sind. Wir haben uns bislang noch nicht groß über die anderen Ergebnisse geärgert, sondern waren froh und stolz, wie wir die vergangenen Wochen aufgetreten sind.
Ergreift ein Trainerfuchs wie Ewald Lienen jetzt vor dem Saisonfinale besondere psychologische Tricks?
Die Video-Analysen dauern nicht länger als gewohnt. Aber man merkt schon, dass er über sehr, sehr viel Erfahrung verfügt. Wenn er tatsächlich in den letzten Tagen und Wochen etwas verändert hat, dann hat er das sehr schlau gemacht, denn mir ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Wir trainieren ganz normal, haben geregelte Abläufe – und das ist auch ganz gut so.
Huub Stevens hat in der vergangenen Woche mit seiner „Ihr seid Affen“-Kritik bei den Spielern besondere Kräfte freigelegt. Das Team gewann gegen den HSV mit 2:1.
So etwas gab es unter Ewald Lienen noch nicht. Aber wenn sich daraus eine schöne Geschichte für euch Journalisten ergibt, dann kann er das von mir aus gerne machen.
Ihr ehemaliger Mitspieler Daniel Ginzcek, der jetzt beim VfB ist, sagte, so etwas hätte er noch nie erlebt. Gab es einen Moment in Ihrer Karriere, wo Sie der Trainer sprachlos gemacht hat?
Ich hatte auch schon mal den einen oder anderen, der mal so etwas Ähnliches gesagt hat, aber eigentlich war das stets eher aus dem Spaß heraus gemeint. Auf dem Fußballplatz darf man so etwas auch schon mal raushauen, um die Spieler zu kitzeln. Und oft ist es gar nicht so einfach, einen Spieler richtig zu packen. Am Anfang ist man vielleicht etwas perplex und denkt, man hört nicht richtig, aber mit etwas Abstand kann man schon einordnen, was der Trainer da von einem wollte. Und kann vielleicht auch darüber schmunzeln.
Sie haben in Ihrer Jugend auch beim HSV gespielt, der am Wochenende ebenfalls um die Existenz kämpft. Fiebern Sie noch mit dem Lokalrivalen mit?
Als gebürtiger Hamburger wünsche ich mir natürlich, dass die Stadt auch einen Erstligisten hat. Von daher kann man schon sagen, dass ein bisschen Rest-von-was-auch-immer noch da ist. Kein Restgefühl, auch keine übriggebliebene Leidenschaft. Hamburg sollte aber einfach einen Klub in Liga Eins haben.
Würden Sie sich nicht über ein Derby in der kommenden Saison freuen?
Das letzte Derby haben wir ja gewonnen. Davor ist es wie lange nicht passiert? 30 Jahre? Das kann also gerne noch mal 30 Jahre dauern, bis der HSV gegen uns gewinnt.
Sie haben sich unlängst dazu bereit erklärt, dass Sie auch bei einem Abstieg in der 3. Liga bleiben würden. Warum?
Der Verein überzeugt mich einfach. Hamburg ist meine Heimatstadt, ich habe hier meine Familie, Freunde und mein gewohntes Umfeld. Seit zwölf Jahren spiele ich hier. So einen Verein verlässt man nicht einfach so.
Sie sind 28 Jahre alt. Können Sie sich überhaupt vorstellen, bei einem anderen Klub zu spielen?
Klar, man muss sich immer damit auseinandersetzen, was passiert, wenn der Verein keine Gespräche für eine Vertragsverlängerung anbietet. Zu ernsthaften Gedanken, geschweige denn anderen Angeboten ist es aber nie gekommen. Ich habe jetzt einen Dreijahresvertrag unterschrieben. Wenn der ausläuft, bin ich fast 32. Ich weiß nicht, ob man dann unbedingt noch einmal den Verein wechseln muss.
Und wenn ein Erstligist mal anklopft?
Dann würde ich mich bestimmt darüber freuen, aber so einfach könnte ich den FC St. Pauli nicht mehr verlassen. Allen Erstligisten muss ich hiermit leider eine Abfuhr erteilen!
Sie spielen seit 2003 im Verein – was hat sich seitdem verändert?
Das St. Pauli-Feeling ist immer noch dasselbe. Es ist natürlich so, dass der Verein wächst und sich dadurch was ändert. Wenn ich an den Brummerskamp denke, wo ich angefangen habe zu trainieren, da stehen mittlerweile auch ein paar mehr Gebäude und Container als noch 2003. Die Anlage an der Kollaustraße war eine marode Hütte, jetzt haben wir hier ein modernes Trainingsgelände. Ab nächster Saison bin ich der einzige St. Pauli-Spieler, der sowohl im alten, als auch im neuen Stadion gespielt hat. Wir haben jetzt mehr Plätze im Stadion, einige darunter sind teurer geworden, dadurch verändert sich auch die Stimmung bei den Spielen. Es gibt mittlerweile auch mehr Leute im Verein, die mitreden wollen, aber das bringt den Klub nicht aus der Bahn. Kurzum: Das alte Gefühl bleibt, nur drum herum verändert sich ein bisschen was.
Vermissen Sie etwas?
Ich fände es eigentlich ganz cool, wenn man immer noch durchs Klubheim in die Kabinen gehen würde. Das ist heutzutage im Profifußball wohl leider nicht mehr realisierbar.
Ex-St.Pauli-Kapitän Fabian Boll hat ebenfalls vom Gang durchs Klubheim geschwärmt. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ich habe dieses Szenario leider nicht so oft miterleben dürfen. Ich kam von der A‑Jugend gerade in den Amateurbereich und war ein, zweimal die Saison bei den Profis mit im Kader. Für mich war es damals komplettes Neuland. Ich spielte sonst vor 150 Zuschauern. Die gleiche Anzahl Leute saß dann bei Spielen der ersten Mannschaft im Klubheim, um zu feiern oder die gegnerische Mannschaft zu bepöbeln. Für mich war es nicht unbedingt ein Kulturschock, aber ich konnte mich gut in die gegnerischen Spieler hineinversetzen, die dann vielleicht erstmal eingeschüchtert waren. Und ich weiß von Erzählungen, dass da von Fan-Seite auch Einiges unternommen wurde.
Vermissen Sie alte Mitspieler?
Ja, klar. Aber das ist leider im heutigen Fußball so, dass vielleicht nicht alle so gestrickt sind wie ich, die gerne und lange bei einem Verein bleiben wollen, wo sie sich wohlfühlen. Natürlich gibt es den einen oder anderen, mit dem ich noch gerne länger zusammengespielt hätte, aber man trifft sich zum Glück früher oder später auf einem Fußballplatz in Deutschland wieder. Das ist das Schöne am Fußball: Man ist nie ganz aus der Welt.
Blicken wir zurück: Am 12. Mai 2006 feierten Sie Ihren ersten Einsatz in der ersten Mannschaft. Im Regionalligaspiel gegen Köln wurden Sie eingewechselt. Wie gut erinnern Sie sich?
Wir haben 3:1 gewonnen. Und ich weiß, dass ich irgendwann mal einen Flugball geschlagen habe, aber ansonsten erinnere ich mich an nicht sehr viel. Es ging um nichts mehr, es gab viele verletzte oder angeschlagene Spieler, daher waren wir vier oder fünf Amateure auf der Auswechselbank. Ich war einer der Glücklichen, der am Millerntor sein Profi-Debüt feiern durfte. Ich glaube, es gibt Schlimmeres, aber natürlich war ich aufgeregt.
Wie kann man sich die Nervosität vorstellen? Wie beim ersten Date mit der neuen Freundin?
Da bist du ja alleine für dich verantwortlich. Wenn du auf dem Platz stehst und Mist baust, dann ziehst du deine zehn Kollegen mit rein, hast aber auch die Möglichkeit, dass die dir unter die Arme greifen und helfen. Aber klar: Man ist angespannt.
Es dauerte dann kurioserweise fast auf den Tag noch einmal zwei Jahre, bevor Sie wieder im Team zum Einsatz kamen. Zweite Liga, gegen Kaiserslautern, von Beginn an.
Ein paar Tage vorher spielte ich noch mit der U23 und wurde kurz nach der Halbzeit ausgewechselt. Darüber war ich anfangs noch total sauer, doch mein Trainer Joachim Philipkowski erzählte mir dann: Du fährst in zwei Tagen mit der Profimannschaft nach Kaiserslautern, also beruhig’ dich mal wieder! Im Teamhotel habe ich erfahren, dass ich von Beginn an in der Innenverteidigung spielen würde. Ich dachte nur: wow.
Am Betzenberg aufzulaufen war wahrscheinlich auch ein Härtetest für Ihr Nervenkostüm.
Zum Glück ging es auch in diesem Spiel für uns um nichts mehr. Lautern dagegen hing richtig im Abstiegskampf drin und musste unbedingt gewinnen. Volle Hütte, das war beeindruckend! Leider haben wir 0:2 verloren, aber ich glaube, ich habe mich ganz gut geschlagen in dem Spiel.
Wir müssen zum Schluss natürlich noch über Ihren Spitznamen sprechen: Jürgen Wegmann war die „Kobra“, Ralf Zumdick die „Katze“, Lionel Messi ist der „Floh“ und Sie sind die „Schnecke“. Wer hat Ihnen den Spitznamen gegeben?
Ach, das ist ganz unspektakulär. Angeblich hat das was mit meiner Schlafposition zu tun, als ich zwei Wochen alt war. Ich habe mich da irgendwie immer so eingerollt. Eltern halt! Immerhin: Der Spitzname hat jetzt fast 29 Jahre lang gehalten.