Unser Autor wollte es seinen alten Kollegen so richtig zeigen – und landete mit Anlauf auf der Schnauze. Eine Geschichte vom Scheitern.
Um das Knäuel an Peinlichkeiten zu erfassen, das sich in dieser Geschichte verheddert hat, müssen wir ins Jahr 2008 springen – in mein zweites Jahr A‑Jugend. In den tiefsten Süden der Hauptstadt, in einen Stadtteil namens Lankwitz. Der sich in erster Linie dadurch auszeichnet, dass dort 2008 vieles so war wie 1998 und dass dort 2018 noch vieles so sein wird wie 2008. Dass sich der Woolworth-Wühltisch also noch immer in knallig-pinke und etwas-blasser-pinke Plüschsocken aufteilt und dass sich die Jugendlichen auch 2065 noch helle Picaldi-Jeans in weiße Socken stecken werden, damit man die abgewetzten Nike Shox besser sieht.
Ich habe mir nie die Hosen in die Socken gesteckt und meine Mutter hat mir auch nie Nike Shox gekauft. Was wohl dazu beitrug, dass ich mich in Lankwitz immer ein bisschen fremd fühlte – auch in meiner Fußballmannschaft. Das war mit sechs Jahren so, als ich in den Verein eintrat, weil beim nobleren Bezirksnachbarn VfB Lichterfelde die Warteliste nicht kürzer wurde. Und das war mit 19 so, im zweiten Jahr A‑Jugend, als ich nach erfolgreichem Abitur mit Applaus in der Kabine empfangen wurde und Sprüche wie „wenigstens Einer hat’s geschafft“ durch die Dusche schwappten.
Zwei Viertel der Viererkette hatten in die Büsche gekotzt
Damit man das nicht falsch versteht: Die Truppe bestand nicht ausnahmslos aus Halbirren und ich habe mich mit den Jungs immer gut verstanden. Doch wir lebten in verschiedenen Welten. Ich bin nicht in der angrenzenden Hochhaussiedlung groß geworden, ich habe mich mit erreichter Volljährigkeit nicht direkt für Afghanistan verpflichtet und als ich das erste Mal ein Mädchen an den Busen fasste, waren ein paar meiner Teamkollegen längst Stammgast im Puff.
Wochenende für Wochenende standen wir gemeinsam auf den stumpfen Kunstrasenplätzen dieser Stadt, hörten wie Gegner die eigene Mutter beleidigten und beleidigten im Gegenzug die Schwestern der Gegner. Wir bekamen Sonntags in Reinickendorf zusammen auf die Nuss, weil schon vor dem Aufwärmen zwei Viertel der Viererkette in die Büsche gekotzt hatte. Und wir bejubelten Samstags in Traube Tore in Neukölln, Biesdorf oder Charlottenburg.
Ich war gerne umgeben von Typen wie Linksverteidiger Kurti, den ich einst in der Vorweihnachtszeit in einem Buchladen traf und den ich dann fragte, was er und seine Jungs dort denn machten und der dann achselzuckend auf einen seiner Jungs zeigte und sagte: „Weeß ick doch ooch nicht. Aber der Vogel hier willn’ Buch.“ Ich fand es interessant, wie mir Bankdrücker Wolle jeden Dienstag nach dem Training den immer gleiche Plot des vergangenen Wochenendes – vorsaufen, Disko, Klopperei – mit einem neuen Kniff präsentierte. Und ich zehre noch heute von der rhetorischen Verspieltheit, die die Nicht-Muttersprachler in die Mannschaft trugen. Spul mich die Ballone. Story McFlory. Diesdas.
So enden Geschichten über peinliche Erlebnisse nicht
Und so hätte es alles einfach enden können, nein, enden sollen, damals, im Sommer 2008, nach meinem zweiten Jahr A‑Jugend. Als die Jungs geschlossen Richtung Kaserne marschierten, während ich ausflog in die weite Welt, erst zum Zivi nach Frankreich und dann nach Süddeutschland zum Studieren. Ein paar schöne Erinnerungen. Für mich an eine ulkige Truppe mit ulkigen Typen, für sie an eine stinknormale Truppe mit dem vielleicht etwas wunderlichen, etwas distanzierten Max. No hard feelings. Doch so enden Geschichten über peinliche Erlebnisse nicht. Und deswegen müssen wir an dieser Stelle zurück in die Fast-Gegenwart springen, in den Sommer 2016.
Ich war nach Jahren im Exil zurückgekehrt nach Berlin, allerdings nicht ins eingestaubte Lankwitz, sondern, natürlich, mitten in die Stadt. Und sie, so geschlossen, wie sie damals auf Wodka-O-Saft-Mischen in PET-Flaschen schworen, hatten den kleinstmöglichen Schritt gewählt zum lankwitznahen Mariendorfer SV (II).
Was ich allerdings nicht weiß, als ich mit meiner neuen Truppe an diesem Sonntag im Sommer nach Mariendorf fahre, zum letzten Punktspiel der Saison 2015/2016, Kreisliga A, Staffel 4. Was ich dagegen weiß: Mariendorf ist bereits vor dem Spiel quasi aufgestiegen, meine Mannschaft, Blau-Weiß Friedrichshain, taumelt dagegen schon seit Wochen durchs tabellarische Nichts.
Und so erwarte ich von diesem Sonntag eigentlich nicht viel.
Obwohl ich schon auf dem Weg Richtung Kabine hätte wissen müssen, dass ich mit dieser Nicht-Erwartung nicht durchkommen würde. Als ich durch Milchglas einen Besprechungsraum erahne, in dem die gegnerische Mannschaft 90 Minuten vor Anpfiff hochkonzentriert zu sitzen scheint, mental und taktisch nichts dem Zufall überlassend. Während meine Teamkollegen ohne jegliche Spannung durch die Gänge spazieren, in Gedanken längst am See oder bei der nächsten Klausur. Dass das alles also übel enden würde.
Doch mit dem Gefühl vor Kreisligaspielen verhält es sich ja wie mit Calhanoglu-Vorverträgen: Kann man sich nicht drauf verlassen. Also lasse ich mich von der „is doch wuppe“-Stimmung anstecken und ziehe mich gutgläubig um. Selbst beim Aufwärmen – echter Rasenplatz, bestes Wetter – fallen sie mir nicht auf. Sie, die mir in ein paar Stunden die größte Schmach meiner „Karriere“ zugefügt haben werden.
Nein, noch bin ich ganz der Profi, nur auf mich und meine Männer konzentriert, ein bisschen anschwitzen, ein paar halbmotivierte Motivationssprüche, ein paar semi-ernste Sprints. Und so braucht es den Anpfiff, bis ich realisiere, dass es hier heute um nicht weniger als die eigene Ehre gehen wird.
Ich würde zufrieden in mein anderes Leben fahren
Denn ist das da drüben nicht Kurti, der Junge aus dem Buchladen, mit etwas mehr Bart? Und war das grade nicht Devid, der elegante Zehner von früher? Und das, ja klar, das ist doch Wolle, dem ich mal einen Kratzer in seinen Roller gefallen habe. Insgesamt sieben Ex-Kollegen auf dem Platz oder auf der Bank zähle ich, insgesamt sieben Gründe, warum ich mir hier heute verdammt noch mal den Arsch aufreißen muss. Und auf einmal bin ich heiß.
Die ersten Bälle kommen locker aus dem Fußgelenk gesprudelt, die ersten Zweikämpfe im Zentrum gehen an mich. Guten Tag, ich bin’s, Max, und das ist mein Stollenschuh, kennt ihr uns noch? Die Reaktion – eher gleichgültig. Also zaubern: Ich spiele tödliche Pässe wie seit Monaten nicht, ach, wie vielleicht noch nie, ich bin flink wie zuletzt mit 18, ich suche den Abschluss und ich renne mir die Lunge aus dem Leib. Spul mich die Ballone, los, SPUL MICH DIE BALLONE. Und: meine Truppe zieht mit. Zur Halbzeit ein respektables 0:0, mit den besseren Chancen für uns. Ja, die alten Kollegen sollen mich noch richtig kennenlernen.
Ich, der etwas wunderliche Junge, der lieber studieren ging statt Geld zu verdienen, ich würde ihnen jetzt zeigen, wie das mit dem Fußball richtig funktioniert. Ich würde dieses Spiel gewinnen, danach würde es ein paar hölzerne Gespräche geben, sie würden mir erzählen, dass sie mittlerweile zwei Kinder hätten und noch immer mit Jenny zusammen seien und ich würde dann antworten, dass ich studiert hätte und jetzt mal gucken müsse und sie würden es nicht so ganz verstehen. Und dann würde ich Ihnen erhobenen Hauptes die Hände schütteln und zufrieden in mein anderes Leben fahren, raus aus dem Randbezirk, rein in die Stadt.
Entwürdigt von den alten Kumpels
Beseelt von diesen Gedanken starte ich in die zweite Hälfte. Doch nach fünf Minuten der erste Dämpfer – Gegentor, 0:1. Scheißdreck. Im Kopf also umschalten auf angeknockter Boxer, Rocky-Mentalität, wer hinfällt, steht wieder auf und der ganze Kram. Will heißen: weiter, immer weiter. Zehn Minuten später, wir spielen uns über die linke Seite durch, ich werde in den Strafraum geschickt. Und wenn nicht heute einfach mal mit links abfackeln, wann dann? WANN DANN? Also mit links abfackeln, der Ball schlägt im kurzen Eck ein, 1:1, Ausgleich. Ich raste aus. Guckt alle her, ich hab’s gemacht! Ich! Würde mein Name auf dem Trikot stehen, ich würde rückwärts laufend auf ihn zeigen, mit allen Daumen, die mir an den Händen wachsen. Ich bin der König der Welt, ich bin der Größte.
Ich bin der größte Depp.
Siebzehn Minuten später steht es 1:8. Meine Mannschaft, nein, ich, ich ganz alleine habe mir von meinen alten Kollegen sieben Gegentore in 15 Minuten einschenken lassen (Wer es nicht glaubt – hier gibt’s den Beweis). Erst das 1:2 – ok, habe ich gedacht, hinnehmbar, nur ein weiterer Stolperstein auf dem Weg ins Glück. Dann nach (eigenem) Anstoß – ob der aus unerfindlichen Gründen schlagartig durchgeweichten Knie meiner Mannschaft – das 1:3. Und Schlag auf Schlag, Schuss auf Schuss haben Sie mir das Herz aus der Brust gerissen und sind darauf herumgetrampelt, nur um es in irgendeine ranzige Ecke zu feuern. Beim Stand von 1:4, sie haben grade drei Tore in vier Minuten geschossen, losen sie als letztes Saisonziel die 100-Tore-Marke aus. Sind ja nur noch drei. Beim 1:7, also drei Tore und zehn Minuten später, haben sie es erreicht. Und mich endgültig entwürdigt.
Nach dem Spiel trinken wir zusammen ein Bier. Sie erzählen mir von ihren zwei Kindern und der gemeinsamen Wohnung in Lankwitz. Es scheint ihnen prächtig zu gehen. Ich mag nichts von mir erzählen, sondern halte lieber die Klappe und fahre dann wieder in die Innenstadt. Nicht angeknackst. Nein, durchgeknackst.
Als ich später mit Freunden das erste Gruppenspiel der Deutschen gegen die Ukraine schaue, denke ich beim Tor von Schweinsteiger: „Guck mal einer an.“ Der Mann ist auch – genau wie du – durchs Feuer gegangen, hat dahoam den wichtigsten Elfer seines Lebens vergeigt und wurde dann trotzdem noch Weltmeister. Und jetzt sprintet dieses alte Schlachtross immer noch nach vorne und schiebt den Ball ein. Ich beschließe, mir ein Beispiel an Schweinsteiger zu nehmen. Ich würde wieder aufstehen. Come back stronger.
Zwei Wochen später jagt Schweini den nächsten Elfer ins Nichts, seine Truppe würgt sich trotzdem ins Halbfinale. Ein Spiel später köpft er den Ball mit der Hand im Strafraum und verschuldet den spielentscheidenden Elfmeter. Deutschland ist raus, Schweinsteiger auch. Ich beschließe, nie wieder gegen Mariendorf zu spielen.