Saudi-Arabien lässt Kritiker exekutieren und beschießt das benachbarte Jemen mit Raketen. Queere Menschen werden verfolgt und müssen mit der Todesstrafe rechnen. Frauenaktivisten, die Twitter nutzen, bekommen langjährige Gefängnisstrafen, Demonstranten ebenso. Vor einem Jahr kaufte dieser Staat den englischen Traditionsverein Newcastle United. Die Fans waren außer sich – vor Freude. Wie konnte es so weit kommen? Und was hat das mit Katar zu tun? Für unsere WM-Ausgabe (jetzt im Handel oder bei uns im Shop) sind wir nach Newcastle gereist, haben mit Befürwortern und Kritikern der Übernahme gesprochen, mit Aktivisten, Verfolgten und Politikern. Und wir haben Nahostexperte Dr. Sebastian Sons gefragt: Ist das alles erst der Anfang?
Dr. Sebastian Sons, seit dem 7. Oktober 2021 gehört Newcastle United dem saudi-arabischen Staatsfond, de facto also dem Staat Saudi-Arabien. Die Fans empfingen den neuen Eigner euphorisch. Haben Sie damit gerechnet?
Im englischen Fußball ist die Toleranzschwelle wesentlich höher als bei uns. Das dortige Publikum ist Investoren gewöhnt, auch aus dem persischen Golf. Außerdem war der Vorbesitzer Mike Ashley bei den Newcastle-Fans nicht sonderlich beliebt. Vermutlich hätten sie bei jedem neuen Eigentümer gejubelt.
Die Fans verkleideten sich als saudische Scheichs oder trugen Masken des Kronprinzen Mohammed bin Salman, dem Chef des saudischen Staatsfond und De-facto-Besitzer von Newcastle United.
Auf solche Bilder hatten sie in Saudi-Arabien natürlich gehofft, denn das Land wurde in den vergangenen Jahren international viel kritischer gesehen als etwa Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate.
Zu Recht?
Das Land hat eine der höchsten Rate an Todestrafen weltweit. Es führt Krieg gegen seinen Nachbarn Jemen. Und der Journalist Jamal Khashoggi wurde ermordet. Diese drei Themen werden im Westen diskutiert, wenn es um Saudi-Arabien geht. Meine saudischen Bekannten entgegnen dann: Ihr müsst auch mal die positiven Entwicklungen sehen. Zum Beispiel ist die Position der Frau gestärkt worden. Wirtschaftlich und gesellschaftlich öffnet sich das Land. Es gibt Investitionen in den Breitensport, in Schulen, in Kultur und Tourismus. Ja, das stimmt alles, Saudi-Arabien macht gerade einen historischen Transformationsprozess durch. Trotzdem gibt es viele Dinge, die man kritisieren muss.
Saudi-Arabien lässt Kritiker exekutieren und beschießt sein Nachbarland mit Raketen. Vor einem Jahr kaufte der Staat den Traditionsverein Newcastle United. Die Fans waren außer sich – vor Freude. Wie konnte es so weit kommen?
Die internationale Presse berichtete 2018 ausführlich über das aufgehobene Fahrverbot für Frauen. Es las sich fast wie eine PR-Aktion.
Es war ein kluger Schritt von Mohammed bin Salman, denn er konnte mit diesem kleinen Zugeständnis internationale Aufmerksamkeit erzielen. Aber die Fahrerlaubnis für Frauen war nicht nur eine PR-Maßnahme, sie ist tatsächlich wichtig. Saudi-Arabien ist ein bevölkerungsreiches Land mit einer heterogenen Bevölkerungsstruktur. Ganz anders als in Katar gibt es in Saudi-Arabien Armut, gerade in den ländlichen Regionen. Deswegen werden Frauen immer wichtiger. Sie sollen mitarbeiten, produktiv werden. Das können sie aber nur, wenn sie mobil sind.
Mohammed bin Salman gilt als der mutmaßliche Auftraggeber für den Mord an dem kritischen Journalisten Jamal Khashoggi. Gleichzeitig gilt MBS, wie er genannt wird, als progressiver und moderner Lenker. Wie passt das zusammen?
Bisher genossen die Herrscher in Saudi-Arabien aufgrund ihres Alters über großen Respekt bei der Bevölkerung, gerade in traditionellen Familien und Unternehmen. MBS hingegen wurde schon mit 32 Jahren Kronprinz. Er musste sich also den Respekt erarbeiten, und das machte er über eine Politik für jüngere Menschen und über eine wirtschaftliche Liberalisierung, die Saudi-Arabien modern und interessant für ausländische Investoren erscheinen lässt. MBS will Saudi-Arabien auf der Weltkarte als das neue Dubai platzieren. Nur besser, größer, attraktiver. Andererseits ist er auch ein Machtpolitiker, der keine Kritik an seiner Politik und seinen Plänen duldet. Sein Motto lautet: Wenn ihr mir folgt, dann gebe ich euch gewisse Freiheiten, die ihr vorher nicht hattet. Aber verwechselt das bloß nicht mit politischen Freiheiten, denn die wird es nicht geben.
Also verhaftet er munter weiter?
Sie müssen mal sehen, welche Frauen in den vergangenen Wochen festgenommen wurden. Twitterinnen ohne Reichweite, eine hatte kaum mehr als 2000 Follower. Damit kannst du keine Revolution anzetteln. Trotzdem muss sie über 30 Jahre ins Gefängnis. MBS will mit solchen Maßnahmen Zeichen setzen und seine Macht demonstrieren. Er präsentiert sich als unumstrittener Anführer in der saudischen Gesellschaft, aber auch in der Region. Diese Strategie ist sehr gut durchdacht. Er weiß nämlich, dass er aus dem Westen kaum etwas befürchten muss. Es gibt kaum Kritik. Joe Biden machte mit ihm den freundschaftlichen Faustgruß, neulich war Olaf Scholz vor Ort.
Was ist die „Vision 2030“?
Es ist im Grunde das Baby von MBS. Das Land will bis 2030 unabhängig vom Öl werden, deshalb öffnet es sich. Und deshalb holt es auch Premium-Events ins Land: Formel1, Boxen und vor allem Fußball. Mehrmals fand bereits der spanische Supercup in Riad statt. Außerdem erwägt Saudi-Arabien gemeinsam mit Ägypten und Griechenland eine Bewerbung für die Fußball-WM 2030. Ein Jahr zuvor werden die asiatischen Winterspiele in Saudi-Arabien stattfinden, so absurd das klingt. In diesem Kontext, „Vision 2030“, muss man auch die Übernahme von Newcastle United verstehen.
Es ist demnach nicht nur Sportswashing, also die Strategie, durch positive Fußballbilder das eigene Image zu verbessern.
Sportswashing ist der Kern. Aber es geht um mehr. Saudi-Arabien versucht gerade das nachzuholen, was die Nachbarn vor zehn, fünfzehn Jahren begonnen haben. Katar hat PSG zu einem der größten Vereine weltweit gemacht. Auch Manchester City ist von einer grauen Maus zu einer schillernden Marke geworden. Außerdem hat die saudische Führung gesehen, dass man sich durch große internationale Events unersetzlich machen kann. Als sie Katar zwischen 2017 und 2021 isoliert hat, gab es international niemanden, der sich gegen Katar stellte. Die WM wirkte wie ein großer Schutz vor externer Bedrohung. Katar wusste, wir sind zu wichtig, uns kann man nicht fallen lassen.
Die WM in Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate bei ManCity, Saudi-Arabien in Newcastle – ist das eigentlich ein Wettrennen am Golf?
Absolut. Alle Aktivitäten im Sport muss man im Kontext des regionalen Wettbewerbs sehen. Die Länder konkurrieren im Tourismus, in der Wirtschaft, im Sport, in der Kultur. Es ist ein Kampf um Geld, aber vor allem um Prestige und Anerkennung. Und am Ende will Saudi-Arabien den Vereinigten Arabischen Emiraten auch zeigen, dass man besser ist. Auch wenn man das nie offen sagen würde.