Shootingstar, Wunderkind, nächster Bayern-Coach! Niemand wird so gelobt wie der Trainer der TSG Hoffenheim. Aber was ist dran am jüngsten Coach der Liga? Eine Trainingswoche mit Julian Nagelsmann.
Dienstag vor dem Spiel ist es eiskalt im Kraichgau, minus acht Grad. Der Platzwart fährt über den Trainingsplatz der TSG Hoffenheim, um eine dünne Lage Schnee abzufegen. Als die Spieler um Zehn zum Training aus der Kabine kommen, tragen fast alle Mützen. Auch Julian Nagelsmann hat eine mit Vereinswappen auf und eine dünne Daunenjacke übergezogen. Während der Übungen greift er nur gelegentlich ein, erklärt kurz und korrigiert.
Training, das nicht nur körperlich fordert
Die Arbeitswoche des jüngsten Trainers der Bundesligageschichte, der als eines der größten Talente seines Berufs in Europa und sogar schon als Nachfolger von Carlo Ancelotti beim FC Bayern gehandelt wird, beginnt mit Stangen und Hütchen. Nagelsmann hat unterschiedliche Stationen aufgebaut. An einer von ihnen werden die mehr als zwanzig Spieler auf einer Fläche zusammengepfercht, die so lang wie eine Spielfeldhälfte ist, aber nur gut 15 Meter breit. Die Enge zwingt die Spieler ständig in Zweikämpfe. In einer anderen Übung sollen sie den ersten Ball immer zuerst nach außen spielen. Immer wieder. Und zum Ende des Vormittagstrainings stehen plötzlich vier Tore auf dem Platz, zwei Fußballtore und zwei so groß beim Eishockey. Einem kleinen steht auf der anderen Seite des Spielfelds ein großes Tor gegenüber, weshalb der Platz wie ein Parallelogramm mit ständigen weiten Flügelwechseln bespielt wird.
Wie auf allen Trainingsplätzen der Welt verfluchen auch die Hoffenheimer Spieler ihre Fehlschüsse, bejubeln Tore oder feuern ihre Mitspieler an. Aber weniger Gequassel ist zu hören. Die Spieler sind zu sehr damit beschäftigt, sich auf die komplizierten Vorgaben zu konzentrieren. Einige Übungen sehen nicht nur seltsam aus, oft gibt es auch sonderliche Zusatzregeln, wann die Spieler wohin passen müssen oder wann sie aufs Tor schießen dürfen. Verteidiger Benjamin Hübner, der im Sommer vom FC Ingolstadt kam, erzählt später, dass er einige Wochen brauchte, bis er das alles so richtig begriffen hatte. Als die Spieler vom Platz gehen, spürt man, dass sie dieses Training nicht nur körperlich gefordert hat.
Die Schlange
Die TSG Hoffenheim war nach der Hinrunde nicht nur Dritter und als einziger Bundesligist noch ungeschlagen, Nagelsmanns Team spielte auch schönen Fußball. Jedenfalls, wenn das bedeutet, dass die Mannschaft nicht nur Fehler der Gegner ausnutzen will, wie das inzwischen fast alle versuchen. Einfach erkauft ist diese Schönheit auch nicht, zehn Klubs in der Bundesliga geben mehr fürs Personal aus. „Ich bin stolz darauf, wie wir spielen: Dass wir nicht nur wie das Mäuschen vor der Schlange rumtänzeln, sondern auch selber mal die Schlange sein wollen“, sagt Nagelsmann.
Als er die Mannschaft übernahm, fand er dort ziemlich arme Mäuschen vor. Im Februar 2016 stand sie auf dem vorletzten Tabellenplatz; der Neue, damals 28 Jahre alt, rettete die TSG Hoffenheim ziemlich souverän vor dem Abstieg. Anschließend nahm der Klub durch Transfers zwölf Millionen mehr ein, als er ausgab, und stellt nun trotzdem ein Team, das nächstes Jahr erstmals europäisch spielen könnte. Ist Nagelsmann also ein Wunderkind, wie viele Zeitungen schreiben?
Im Gespräch mit ihm wirkt diese Frage schon nach wenigen Minuten absurd. Dann ist Julian Nagelsmann nämlich der älteste 29-Jährige der Welt. In Trainingsklamotten sitzt er im Besprechungsraum und spricht in einer Klarheit über Fußball, als würde er sich schon seit Jahrzehnten damit beschäftigen. Dabei ist er erst seit knapp zehn Jahren Fußballtrainer – oder vielmehr: schon seit zehn Jahren.
Als er mit knapp zwanzig Jahren seine Karriere wegen einer Fülle von Verletzungen beendete – er war Kapitän in der Jugend von 1860 München – machte Thomas Tuchel ihn zum Spielbeobachter. Bei der U19 des FC Augsburg war das, nebenbei studierte Nagelsmann BWL. Mit 22 Jahren wurde er zum Cheftrainer der U17 in Hoffenheim und mit 25 Jahren der U19, die 2014 unter ihm Deutscher Meister wurde. Ein Jahr später hätten sie ihn schon zum Profitrainer gemacht, aber er musste noch den Lehrgang zum Fußballlehrer absolvieren.
Tempovorsprung
Nagelsmann ist durch die Jahre gerast, doch die Zeit hat gereicht, um ein eigenes fußballerisches Weltbild zu entwickeln. Es basiert auf genau 31 Prinzipien, die sich im Laufe der Zeit aus der praktischen Arbeit entwickelt haben. „Die Spieler könnten vermutlich nicht alle aufzählen. Aber wenn ich das Training anhalte und frage, worum es geht, können sie das jeweilige Prinzip benennen“, sagt Nagelsmann. Die 31 Prinzipien sind sein Betriebsgeheimnis, doch ein paar davon hat er in den letzten Monaten öffentlich gemacht. So will Nagelsmann den Gegner lieber zum Fehlpass zwingen als den Ball im direkten Zweikampf zu gewinnen. Zweikämpfe sind ihm mit zu vielen Zufälligkeiten verbunden. „Unser Ziel ist es immer, eine Balleroberung zu nutzen, um einen Tempovorsprung gegen einen oft aufgefächerten, breiten Gegner zu haben“, sagt Nagelsmann. Oder anders gesagt: Er will einen Gegner so erwischen, wie das bei dem wunderbaren Angriff in Leipzig gelingt.
Der Trainer fordert zudem, dass Pässe eher diagonal gespielt werden als quer oder steil. Das gibt mehr Winkel und mehr Tiefe, als Basis für den Zickzack-Kurs in Leipzig. Seine Spieler sollen den Ball nicht direkt weiterspielen, weil das die Gefahr eines Fehlpasses vergrößert. So wie in dem Moment, als Demirbay den Ball mit dem ersten Kontakt so kontrolliert, dass er einen präzisen Pass auf Amiri spielen kann. Aber im entscheidenden Moment gibt es die Freiheiten, Prinzipien über den Haufen zu werfen, wie Amiri und Kramaric es tun, als sie sich auf den letzten Stationen vor dem Tor den Ball direkt zuspielen.
Fußball aus dem Baukasten
Diese Prinzipien sind keine Neuerfindung des Fußballs, trotzdem verblüffte Nagelsmann damit selbst einen so erfahrenen Profi wie Sandro Wagner, als der im vergangenen Sommer nach Hoffenheim wechselte. „Neu für mich war, dass er Fußball wie ein Baukastensystem anlegt“, sagt der Stürmer. „Er nimmt das an sich komplizierte Spiel, zerlegt es in unterschiedliche Passagen, übt sie und setzt sie nach und nach zusammen.“ Nagelsmann ist zudem einer der wenigen Bundesligatrainer, der während der Partie die Taktik wirklich verändert, teilweise mehrfach Formationen umstellt und Spieler verschiebt. Werden die Profis gefragt, ob das schwer ist, zucken sie die Achseln. „Nee, wir haben es schließlich geübt“, sagt Wagner lakonisch.
In Nagelsmanns Arbeitszimmer verbietet es sich, ihn als nerdigen Laptoptrainer einzusortieren. Es gibt zwar einen Laptop, aber überall liegen Zettel herum. Er macht sich darauf gerne Notizen und heftet Trainingspläne in altertümlich wuchtigen Aktenordnern ab. Nagelsmann mag Theoretiker und passionierter Taktiker sein, aber er sagt: „Fußball ist ein players game und kein coaches game.“ Für ihn sind seine Spieler keine Figuren, die er samstags beim Taktikschach auf dem Rasen hin- und herschiebt. Er ist wie ein Spielertrainer, der nicht mehr mitspielt, aber das gerne würde und seinem Team nicht nur altersmäßig nah ist. „Fußball soll kein Taktik-Battle für Trainer sein“, sagt er entschieden.
Löst die TSG Hoffenheim also endlich das Versprechen ein, innovativ zu sein und von der Ausbildung eigener Talente zu leben, mit der der Klub mal angetreten war? „Die Frage würde ich eindeutig mit Ja beantworten“, sagt Hoffenheims Manager Alexander Rosen. Analog zu seinem Cheftrainer ist er mit 37 Jahren jüngster Manager der Bundesliga. „Die Ziele waren immer da, aber sie wurden nicht gelebt“, sagt er. Zwischendurch sah es mal so aus, als würde die Transferpolitik des Vereins im Büro eines Spielerberaters entschieden, dem das Ohr von Hopp gehörte. An die Stelle ist hausinterne Weitsicht getreten.
Die Trainingswoche
Inzwischen scheint der Klub sich sowieso leise vom Übervater zu emanzipieren und gar so etwas wie ein Eigenleben zu entwickeln. Es gibt sogar ganz normale regionale Sponsoren, Klempnerbetriebe oder Bestatter.
Donnerstags kommt endlich die Sonne raus und die Temperaturen steigen erstmals in der Woche auf über null Grad. Nagelsmanns Trainingswoche ist klar strukturiert. Am Montag soll weder das vergangene Spiel eine Rolle spielen noch das kommende, sondern alle einfach mal durchatmen. Den Dienstag nennt er „Ausbildungstag“, an dem unterschiedliche seiner Prinzipien vertieft werden. Mittwochs wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezielt auf den Gegner hin trainiert. Donnerstags gibt es morgens eine Videoschulung, nachmittags spielen Elf gegen Elf ebenfalls ohne Publikum über den ganzen Platz. Am Freitag wird die Belastung runtergefahren und es gibt nur noch Feinschliff.
Anders gegen Leipzig
Nagelsmann ist vor allem ein Lehrer des Fußballs. Er will seinen Spielern etwas beibringen, auch den älteren, und sie so auf die Bundesliga vorbereiten – ganz allgemein und für jedes einzelne Spiel. Er hat dazu ein Curriculum, in dem jeder Trainingstag und jede Übung einer Idee folgen. Am Vortag etwa hatte Nagelsmann eine Taktiktafel auf den Platz geschleppt und seinen Spielern gezeigt, wie man Leipzig erwischen könnte. Er will diesmal nämlich anders spielen als sonst, mehr über außen, mit mehr langen Bällen. Er muss ihnen also etwas beibringen, das teilweise konträr zu dem ist, was er sonst lehrt.
Im Prinzip arbeitet er wie Pep Guardiola, der jedes Spiel als ein auf die Schwächen des Gegners angepasstes Unikat angeht. Dazu passend werden die Übungen der Arbeitswoche ausgewählt. Die Spieler sollen lernen, intuitiv richtig zu handeln und nicht nachdenken müssen, was noch mal auf der Taktiktafel stand. „Das Entwickeln von Trainingsübungen auf einen Schwerpunkt hin ist eine sehr kreative Arbeit, die mir viel Spaß macht“, sagt Nagelsmann. Nie will er eine Übung zweimal machen, weshalb er inzwischen auf Hunderte Trainingsformen zurückgreifen kann. Wenn ihm was schönes Neues einfällt, kommt er morgens freudestrahlend ins Büro.
Systemabsturz
Doch als das donnerstägliche Trainingsspiel beginnt, gibt es einen Systemabsturz. Die A‑Elf, die gegen Leipzig ran soll, kommt mit 0:3 unter die Räder. Kaum etwas von dem, was Nagelsmann erarbeiten wollte, ist zu sehen. Als die Spieler in der Kabine verschwinden, bespricht er sich auf dem Rasen noch lange mit seinen Assistenten und geht dann wortlos rein. „Das war eines der schlechtesten Trainingsspiele, das ich gesehen habe, seit Julian hier Trainer ist“, sagt Alexander Rosen, der von seinem Büro in der ersten Etage aus zugeschaut hat. „Die meisten Trainer würden nach so einer Leistung draufhauen.“ Was der Manager ungesagt nachhallen lassen will: Nagelsmann wird nicht draufhauen.
Wichtig ist es Nagelsmann, seinen Spielern persönliche Freiräume zu geben. „Was man als Trainer zurückbekommt, ist dann viel größer, als wenn man die letzten Prozent auch noch kontrolliert.“ Das ist bei Sandro Wagner offenkundig, der sich am Wochenende immer völlig verausgabt, dafür im Training auch mal etwas weniger machen darf. Oder einen halben Tag länger in München bei seinen Kindern bleiben, weil er ein passionierter Familienmensch ist. „Julian behandelt alle fair und will einen Menschen nicht verändern. Das ist für mich neben seiner fachlichen Qualität seine größte Stärke“, sagt Wagner.
„Mir ist Beziehung extrem wichtig“
Schaut man auf die Typologie, mit der er arbeitet: Als was für eine Art von Persönlichkeit würde Nagelsmann sich selbst beschreiben? „Mir ist Beziehung extrem wichtig“, sagte er. „Wenn etwas zwischen einem Spieler und mir steht, versuche ich das sofort zu klären. Und die Gier nach Erfolg steckt in meinem Charakter.“ Ohne einen Riesenhunger auf Erfolg hätte er diese Karriere wohl auch nicht gemacht. Kein Wunder, dass die Bayern ihn im Blick haben, wichtige Männer im Klub sind hellauf begeistert von Nagelsmann. Er hat sich dazu inzwischen eine Pointe zurechtgelegt: „Ich bin im Austausch mit Ralph Hasenhüttl und Thomas Tuchel. Wir einigen uns gerade, wer Trainer und wer Co-Trainer wird.“ Aber in München wollen sie natürlich erst einmal sehen, wie das Supertalent mit einer Krise umgeht, die größer ist als vier Unentschieden wie zu Beginn dieser Saison.
Auch Hoffenheims Sportpsychologe Jan Mayer bezweifelt nicht, dass Nagelsmann als Bayern-Trainer geeignet wäre. Er bietet aber auch die Wette an, dass der Coach in zehn Jahren des Profifußballs überdrüssig ist und danach etwas ganz anderes machen wird. Und Nagelsmann sagt, dass er irgendwann gerne mal Bergtouren organisieren würde. Die Macht und deren Symbole, die der Profifußball mit sich bringt, interessieren ihn sowieso nicht. „Es gibt im ganzen Verein keinen, der sagt: In der Situation war er unfair oder hat sich wie ein Arschloch benommen“, sagt Mayer. „Bescheiden und bodenständig“ würde Nagelsmann auftreten, deshalb gebe es intern eine „Zustimmungswand“ für ihn.
Letzte Besprechung? Fünf Minuten!
Nach einem Jahr mit seiner Mannschaft hat Nagelsmann nur eine große Angst: Langeweile. „Langeweile ist einer der größten Killer von Beziehungen – auch zu Spielern“, sagt er. Deshalb achtet er sehr darauf, dass er nicht zu oft und zu lang zu seinen Spielern spricht. Deshalb hört man ihn auch am letzten Tag der Trainingswoche nur dosiert. „Meine Erfahrung als Spieler war es: Wenn der Trainer zu lange labert, ist das schnell nervtötend.“ Am Samstagmittag in Leipzig dauert seine letzte Mannschaftsbesprechung nur fünf Minuten. Sie findet in der Kabine im Stadion statt, und kurz vor Anpfiff schwört er seine Spieler noch mal kurz emotional ein.
Während eines der Gespräche im Laufe der Woche hatte Nagelsmann gesagt: „Es gibt schon Tore, die so passieren, wie man das vorbereitet hat. Denn selten zeigt der Gegner die Probleme am Spieltag nicht, die man vorbereitet hat.“ Das Tor von Nadiem Amiri in Leipzig ist so ein vorbereitetes Tor. Der Spielzug ist nicht so einstudiert, wie man das etwa aus dem Basketball kennt, aber in ihm stecken Videoanalysen und die vielen Trainingsstunden der Woche. Und natürlich die Prinzipien, die der Trainer seiner Mannschaft im Laufe des letzten Jahres beigebracht hat. Eigentlich ist alles, was Julian Nagelsmann sich in den letzten zehn Jahren erarbeitet hat, in dieses Tor eingeflossen.
Fußball ist nicht planbar
Doch so lang die Vorgeschichte des Tors auch sein mag, es reicht in Leipzig weder zum Sieg noch zum Unentschieden. Der Ausgleich fällt, nachdem Hoffenheim sich nicht richtig aus der Abwehr herausspielt. Beim Stand von 1:1 fliegt Sandro Wagner vom Platz, und in der Schlussphase schießt Marcel Sabitzer durch einen abgefälschten Ball den Siegtreffer für Leipzig. Nagelsmann hatte seinen Spielern gesagt, dass Sabitzer die meisten Tore aus dem Halbfeld geschossen hat und sie ihn dort besonders unter Druck setzen müssten. Nun trifft Sabitzer aus dem Halbfeld, Fußball ist kein planbares Spiel.
Der Mannschaftsbus von Hoffenheim steht in den Katakomben des Leipziger Stadions. Nagelsmann verschwindet darin als einer der ersten, in sich gekehrt. Am nächsten Tag ist frei. Montag ist der Tag zwischen den Spieltagen, Dienstag ist Ausbildungstag. Er wird sich neue Übungen ausdenken.