Man fragt sich, wieso der SC Freiburg nicht schon früher auf die Idee kam, Christian Streich zum Cheftrainer zu machen. Ein Gespräch über Volker Finkes Erbe, goldene Schüsseln für junge Spieler und Wurstbrät.
Aus dem Freiburger Mannschaftshotel hängt ein Fan-Transparent, auf dem steht: „Es gibt nur einen Christian Streich!“ Dem Geehrten gefällt das nicht.
Was stört Sie daran? Dass das Transparent Sie zu sehr in den Vordergrund rückt?
Ich bin jetzt eine öffentliche Person. Das wollte ich nie sein, und deshalb wollte ich diesen Job ursprünglich nicht machen. Doch ich bin nicht naiv, und es ist, wie es ist. Ich werde dafür bezahlt und fertig.
Steht man als Trainer nicht immer unter Be obachtung? Egal, wo man trainiert?
Natürlich. Trotzdem gibt es Unterschiede. Wo ich jetzt auch hingehe, ich werde immer wieder erkannt. Egal, ob in Berlin im Museum oder in einer Kneipe.
Wurden Sie von den Dimensionen der Popu larität überrascht?
Es ist eher so: Wenn du nicht darin lebst, weißt du nicht, wie es sich anfühlt. Es gibt eine Ahnung davon, doch die und die Realität sind zwei paar Schuhe.
Für das, was Ihnen gerade widerfährt, gibt es zwei Gründe: zum einen die sehr erfolgreiche Rückrunde des SC Freiburg, zum anderen die Tatsache, dass alle Welt auf Sie als Typ abfährt. Ist es das, was eigentlich nervt?
Nö, das ist das Angenehme. Aber man hat oft das Gefühl, nur eine Reproduktionsfläche zu sein, eine Hülle. Nehmen wir zum Beispiel Gespräche mit Journalisten. Ich habe keine Lust, irgendwelchen Kram zu reden, also erzähle ich echte Geschichten. Als das erste Mal eine Seite Drei über mich erschien, war ich wahnsinnig geschmeichelt, doch mittlerweile weiß ich manchmal nicht, was ich noch erzählen soll. Ich erlebe ja außerhalb des Fußballs nichts mehr.
Irgendwann sind die Medien mit Ihnen durch, dann wird sich das wieder legen.
Stimmt, dann warten sie auf eine Negativserie und meinen Absturz.
Richten Sie Ihr Freizeitverhalten danach aus? Früher sollen Sie Stammgast eines Freiburger Musikclubs gewesen sein.
Es stand ja bereits in der Zeitung, dass ich dort hingehe. Darauf habe ich zum Besitzer gesagt: „Du findest das wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Aber vielleicht ziehst du da mit eine Klientel an, die dir nicht so gut gefällt. Und ich komme jetzt leider nicht mehr.“
Warum nicht?
Weil ich den ganzen Tag über Fußball rede. Das muss nicht auch noch sein, wenn ich in der Kneipe bei einem Bier sitze. Es ließe sich in der jetzigen Situation aber kaum vermeiden. Dabei bin ich noch der gleiche Mensch und Fußballtrainer wie vorher. Ich arbeite ja jetzt nicht anders.
Kann man eine Profimannschaft genauso trainieren wie ein Jugendteam?
Nicht, was die Übungen angeht. Aber was die Intensität und die Fußballidee betrifft, ganz bestimmt. Es wäre Wahnsinn, wenn ich jetzt viel mehr arbeiten würde. Dann hätte ich als Jugendtrainer etwas falsch gemacht.
Gibt es denn keine Unterschiede, etwa bei der allumfassenden Durchleuchtung des Spiels?
Das schon, wobei man da vorsichtig sein muss. Irgendwann ist es auch mal gut mit der Durchleuchtung. Es bringt nichts, wenn man sich die ganze Zeit nur Videos anschaut.
Der Nationalelf wurde vor jedem EM-Spiel ein 500-Seiten-Ordner mit Material über den kommenden Gegner übergeben. So was Ähnliches bekomme ich auch. Darin steht, dass der Oliver Sorg im letzten Spiel neun Zweikämpfe verloren und vier gewonnen hat. Also, ich lese das nicht! Mein Co-Trainer hat sich mal die Mühe gemacht, den genannten Fall zu analysieren. Es war in unserer Auswertung genau umgekehrt mit den Zweikämpfen.
Gibt es denn Daten, die Sie zwingend benötigen?
Nein. Zumindest können sie für mich nicht die Arbeit mit Menschen ersetzen. Eine Fußballmannschaft ist ein heterogenes System, die Spieler kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Kulturen. Ich finde es wichtig, wenn sie merken, dass ich mich für sie interessiere und nicht nur für ihre Ballannahme.
Ein ungewöhnlicher Ansatz.
Es gibt sicher tausend Wege, die Sache anzugehen. Aber ich habe mich schon immer für zwischenmenschliche Zusammenhänge interessiert, und das ist einer der Gründe dafür, dass ich Trainer geworden bin. Würde ich mich mehr für technische Abläufe begeistern, wäre ich vielleicht Automechaniker oder Computerspezialist geworden.
Haben Sie sich schon als Spieler für das Zwischenmenschliche interessiert?
Als ich 1988 zum FC Homburg kam, hatte der Trainer Slobodan Cendic gerade 21 neue Spieler geholt, darunter welche aus Polen und Argentinien. Ich bin auf die zugegangen und habe sie gefragt, wie es bei ihnen zu Hause ist. Auch mit Cendic habe ich viel gesprochen, er hat mir zum Beispiel von seiner Zeit als Medizinstudent erzählt.
Jimmy Hartwig, der gegen Ende seiner Karriere auch beim FC Homburg aktiv war, hat Cendic als „ahnungslosen Choleriker“ beschrieben.
Choleriker kommt hin, ahnungslos überhaupt nicht. Das war ein sehr interessanter Mensch, ein großer, schlanker Asket. Eines Tages hat er zu mir gesagt: „Geh nach Hause, studieren!“ Ich hab geantwortet: „Ich kann nicht studieren, ich hab kein Abitur.“ „Kannst du aber auch nicht Bundesliga spielen“, hat er gemeint. „Bist du zu langsam und hast dünne Beine. Geh nach Hause und mach anständigen Beruf!“
Das war brutal.
Das war offen.
Andere Spieler würden sagen: „Der Mann hat meine Karriere zerstört.“
Wenn ich zu langsam bin, kann er ja nichts dafür. Er hat einfach nur die Wahrheit gesagt.
Keine reflexartige Wut von Ihrer Seite?
Keine Wut, nur Enttäuschung. Er hat es halt auf den Punkt gebracht. Und er hat mich ja trotzdem kicken lassen. Einmal habe ich in Essen ein Tor geschossen, was nicht oft vorkam, da hat er gesagt: „Ist nicht normal, jetzt schießt Streich schon ein Tor! Müssen wir aufpassen, dass wir nicht aufsteigen.“ Das war durchaus anerkennend gemeint. Trotzdem muss man als Spieler solch eine Ehrlichkeit verkraften können. Vielleicht hat er gewusst, dass ich das verkraften kann.
Haben Sie damals schon daran gedacht, Trainer zu werden?
Nein. Ich wollte das Abi nachmachen, studieren und vielleicht Lehrer werden. Als Kind war ich nur auf der Hauptschule, weil ich immer kicken war und meine Noten nicht gut genug waren. Aber ich habe mir damals schon manches Mal gedacht, dass die vom Gymnasium auch nicht unbedingt intelligenter sind.
Ihre Eltern haben eine Metzgerei betrieben. Waren Sie als Nachfolger vorgesehen?
Das wäre nichts für mich gewesen. Richtig harte, körperliche Arbeit und jeden Morgen um vier Uhr aufstehen. Wissen Sie, wenn man in einem Familienbetrieb aufwächst, ist das hart. Da hat das Leben ein ungeheures Tempo und das hört nie auf.
Haben Sie aus dieser Zeit etwas für Ihre Trainerarbeit gelernt?
Für alles Mögliche kann man da etwas mitnehmen. Wir haben an der B3 gewohnt, der Bundesstraße von Lörrach nach Karlsruhe mit 8000 Autos am Tag. Ich war stets mit Menschen konfrontiert. Kunden, die etwas kaufen wollten. So eindeutig war das Verhältnis nicht immer. Wir waren ein offenes Haus und manches Mal saß ein fremder Mann bei uns am Küchentisch, weil meine Oma einen hungrigen Handelsvertreter aus Hamburg zum Abendessen eingeladen hat. Das war ein Prinzip aus der Nachkriegszeit: Du musst den Leuten etwas zu essen geben.
Lernt man dabei milieuübergreifendes Kommunizieren?
Absolut. Und man lernt alle Schichten kennen. Manchmal kamen Alkoholiker ohne Geld, die etwas zu trinken wollten. Zu denen hat meine Oma gesagt: „Hocken Sie sich hin, Sie kriegen gleich was zu trinken. Aber erst essen Sie was!“
Das hört sich fast romantisch an.
In der Erzählung vielleicht. Aber es war nicht romantisch. Nur unmittelbar, schnell und direkt, was mir heute als Trainer hilft. Doch für meine Eltern war es ein Glück, dass sie das Geschäft vor 21 Jahren verkauft haben. Danach war erst einmal Ruhe. Solange ein Geschäft im Haus ist, wo ausschließlich die Familie arbeitet, ist niemals Ruhe. Meine Mutter ist immer gerannt oder zumindest in sehr schnellem Schritt gegangen.
Mussten Sie mithelfen, wenn Sie aus der Schule kamen?
Erst gab es Mittagessen, dann mussten wir helfen, meine Schwester und ich. Gegen Nachmittag habe ich gesehen, dass ich über den Bach zum Kicken kam. Wenn ich dann immer noch helfen sollte, hat mein Vater über den Bach gerufen. Der hatte eine sehr laute Stimme.
Essen Sie Fleisch?
Ja, aber nicht sehr viel.
Weil Sie früher so viel essen mussten?
Überhaupt nicht. Meine Mutter hat bestimmt dreimal in der Woche kein Fleisch gemacht. Mein Vater wollte kein Fleisch mehr, wenn er den ganzen Tag gewurstet hat. Als Metzger musst du ständig Brät probieren. Wenn meine Mutter abends noch Bratwurst serviert hätte, wäre mein Vater weggelaufen.
Nachdem Sie Ihre aktive Karriere beim Freiburger FC und den Stuttgarter Kickers begonnen hatten, kamen Sie 1987 als Spieler zum SC Freiburg. Das war aber noch ein anderer Verein als der SC, den wir heute kennen, oder?
Es war unvorstellbar. Präsident Stocker hat damals seine Kaffeemaschine von zu Hause zum Spiel mitgebracht und für die zwei Leute, die darüber geschrieben haben, Kaffee gekocht. Danach hat er drei Stunden die Straße gekehrt und die Maschine wieder mitgenommen.
Sie haben nur ein Jahr beim SC Freiburg gespielt. Warum hat es Sie später wieder zu dem Klub zurückgezogen?
Ich habe meine Karriere beim Freiburger FC ausklingen lassen und parallel mein Abitur nachgemacht. Irgendwann hab ich den Herrn Stocker getroffen und gefragt: „Sagen Sie mal, Herr Stocker, haben Sie vielleicht was als Jugendtrainer für mich?“ Ein paar Tage später hat er angerufen und gesagt: „Wenn du willst, kannst du die C‑Jugend trainieren.“
Hatten Sie bereits die Idee, das zum Beruf zu machen?
Nein. Ich habe Geschichte, Deutsch und Sport auf Lehramt studiert, wobei mein Hauptinteresse auf Geschichte lag. Doch wenn ich an die Lehrpläne dachte und daran, dass ich den Schülern zwölf Mal etwas über die Französische Revolution erzählen sollte, wurde mir mulmig. Journalist zu werden, konnte ich mir auch nicht recht vorstellen. Also wusste ich nicht, was ich machen sollte.
Haben Sie die Lehrerausbildung abgeschlossen?
Ich habe zwei Monate Referendariat gemacht, aber Geschichte und Deutsch sind brutale, leseintensive Fächer. Mittlerweile war ich A‑Jugendtrainer beim SC und musste mich entscheiden: Setze ich das Referendariat fort oder mache ich den Fußballlehrer?
Sie wurden Fußballlehrer und haben die Freiburger Fußballschule mit aufgebaut. Der große Zampano im Klub war zu jener Zeit Volker Finke: ein Visionär, aber auch kein einfacher Charakter. Wie haben Sie sich mit ihm verstanden?
Ich fand ihn spannend, er war ja damals noch relativ jung. Wenn er zu seinem Büro lief, kam er jedes Mal an unserer Umkleide vorbei, das waren zehn Meter. Wir haben jeden Tag miteinander zu tun gehabt.
Sie sind beide Lehrer …
Ja, aber er ist ein richtiger Lehrer, der den Beruf viele Jahre ausgeübt hat.
Hat er Sie geprägt?
Was mir sehr entgegen kam, waren seine freie Auffassung von Fußball und die Idee, Überzahl in Ballnähe zu schaffen. Eigentlich hat er kicken lassen wie bei der D‑Jugend, wo immer alle zum Ball rennen. Nur wurde es bei ihm ein bisschen mehr gesteuert.
War er ein Kontrollfreak?
Was die Arbeit im Jugendbereich angeht, hat er uns vertraut.
Hat es nie zwischen Ihnen gekracht?
Die ersten Jahre nicht. Später kam Andreas Rettig als Manager, der SC Freiburg wurde allmählich anders und Finke hatte starke Auseinandersetzungen mit Stocker. Das hatte dann auch Auswirkungen auf meinen Bereich. Wenn man lange so intensiv zusammenarbeitet, gibt es immer Reibungen.
Haben Sie nie überlegt, zu gehen?
Ich konn te nicht. Ich habe zwei‑, dreimal mit Stocker darüber geredet, aber er hat das immer abgebogen, und was willst du machen, wenn der eigene Präsident vorm Stadion steht und die Straße kehrt? Willst du dann sagen, „Ich habe ein lukratives Angebot und gehe weg“?
Wer war der talentierteste Spieler, den Sie je trainiert haben?
Das kann ich nicht sagen, es ist aber auch nicht so wichtig. Talent macht höchstens 15 Prozent des Gesamten aus. Hinzu kommen genetische und physische Voraussetzungen, aber auch andere Sachen wie Fleiß und Empathie. Spieler wie Ömer Toprak und Tobias Willi haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sie auch für die Reservisten der A2-Jugend noch Interesse aufgebracht haben. Das sind in der Regel die Jungs, die es bei uns weit bringen.
Wie sehr konnten Sie sich um Ersatzspieler der A2 kümmern?
Für mich war völlig egal, ob einer später Bundesliga spielen würde oder vierte Liga.
Aber der Verein betreibt die Fußballschu le doch, um Bundesligaprofis hervorzubringen.
Schon klar, aber so dürfen wir nicht denken. Wir müssen die gleichen Rahmenbedingungen für alle schaffen, und das hilft gerade den exponierten Spielern, Verantwortung zu übernehmen. Viel mehr, als wenn man mit 17 zu irgendwelchen Turnieren nach Abu Dhabi ins 28-Sterne-Hotel geflogen wird und aus goldenen Schüsseln frisst, wie es manchmal passiert. Dann ist es gut, wenn sie danach wieder zu uns kommen und neben einem Burschen sitzen, der am Wochenende geheult hat, weil er in der A2 nicht zum Einsatz kam.
Hassen Sie Spielerberater?
Nein, die machen auch nur ihren Beruf.
Aber sie sind es doch in der Regel, die den Spielern goldene Schüsseln servieren.
Ja, aber das ist Unwissenheit. Andere Prioritäten. Da geht es ums Geld. Und das hat ja erst mal nichts mit den jungen Spielern zu tun. Die werden ja nicht so gut, weil sie geldgierig sind, sondern weil sie fußballgierig sind. Ein Ronaldo war erst heiß aufs Kicken, dann hat er viel Geld verdient.
Und damit kommen die Berater ins Spiel.
Das ist ein komplexes Thema. Vor Jahren habe ich mich richtig darüber geärgert, aber das ist heute nicht mehr so, weil ich keine Lust habe, mich an etwas aufzureiben, was ich nicht ändern kann. Mein Ansatz ist ein anderer: Spielerberater sind überall, sie sind wie Ameisen und du musst sie einfach an dir hochlaufen lassen. Wichtig ist, dass ich den Jungs erkläre, was diese Menschen machen, warum sie es machen und dass es auch hier unterschiedliche Persönlichkeiten gibt. Und dass sie mit der Entscheidung, die ihnen am meisten Geld bringt, nicht automatisch am glücklichsten werden.
Ein Beispiel?
Nicht, dass bei uns alles super wäre, aber manchmal sehe ich Spieler aus unserer Jugend, sozial intelligente Spieler, die sich in anderen Bundesligaklubs ganz anders bewegen müssen, um überhaupt irgendeine Form von Anerkennung zu finden. Da sieht man eine deutliche Veränderung des Spielers in einem anderen System, das weniger durchlässig ist. Entweder du passt dich dort an oder du bist der totale Außenseiter. Das ist für mich eine fremde Welt.
Hatten Sie Sorge, dass die von Ihnen vertretenen Werte in Gefahr geraten, jetzt wo Sie als Cheftrainer arbeiten?
Natürlich hatte ich Angst, dass es heißen könnte, ich würde Spieler verschleißen oder komischen Fußball spielen lassen. Das hat alles mitgespielt, als es seinerzeit darum ging, den Job zu übernehmen.
Stattdessen werden Sie nun als kauziger, erfolgreicher Gegenentwurf zum medial überinszenierten modernen Fußball gefeiert, was ironischerweise wieder eine starke mediale Aufmerksamkeit zur Folge hat.
Ironisch schon, aber vielleicht auch erwartbar. Das klingt jetzt komisch, aber ich habe gewusst, dass es so kommen könnte. Man hat ja auch schon vorher ohne Kameras 46 Jahre gelebt, und ich weiß ja, wie ich auf Menschen wirke.
Sie befriedigen offenbar ein Bedürfnis nach Authentizität im Fußball. Warum fällt es Ihnen so schwer, das positiv zu bewerten?
Selbstverständlich kann ich das, aber manch mal ist es ein bisschen viel. Neulich bin im Trainingslager mit dem Fahrrad auf den Berg gefahren, da steht jemand vor mir und sagt: „Ich glaub’s nich, ich glaub’s nich, ich glaub’s nich!“ Ich sag: „Jo, reg dich jetzt nich uff, ich weiß schon …“ Er sagt: „Bist du der Christian Streich? Ich glaub’s nich, ich guck die ganze Zeit Bundesliga!“ Ich sag’: „Jo, und wer bist du? Sag mir, was du machst.“ Er sagt: „Ich handel mit irgendwas.“ Ich sag: „Ich handel auch.“
Haben Sie Angst vor unrealistischen Erwartungen? Sie haben in der letzten Rückrunde mit dem SC Freiburg 27 Punkte geholt. Da könnte man ja theoretisch in der ganzen kommenden Saison 54 holen.
Wenn das die Erwartungen sind, sage ich: „Ihr habt keine Ahnung“, doch mit der Drucksituation muss ich trotzdem umgehen. Natürlich kann ich sagen, ihr habt sie nicht mehr alle, doch die Leute haben die Latte nun mal dort hingelegt und ich sehe sie ja.
Haben Sie einen Plan B für den Fall, dass es als Trainer in Freiburg für Sie nicht mehr gut läuft?
Nein. Bringt ja eh nichts. Um eine Sicherheit für den Kopf zu haben, habe ich mir zu Beginn gesagt, dass ich ja wieder die A‑Jugend trainieren könnte. Aber ist das eine realistische Alternative? Soll ich etwa dem Kollegen den Job wegnehmen und laufe dann als Zombie dort rum?
Würden Sie überhaupt zurück ins zweite Glied gehen, nachdem Sie anfangs gar nicht ins erste wollten?
Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich unbewusst nicht doch ins erste Glied wollte. Ich bin mir meiner nie zu hundert Prozent sicher. Über ein Fußballspiel und meine Entscheidungen kann ich wesentlich verlässlicher sprechen als über mich selbst.
Todunglücklich wirken Sie nicht, wenn man Sie am Spielfeldrand und beim Training sieht.
Ich bin überhaupt nicht unglücklich. Es macht mir großen Spaß.
Dann müssen Sie vielleicht den Volker Finke machen und 15 Jahre als Cheftrainer in Freiburg arbeiten.
Falls ich vorher nicht sterbe. Kann schon sein, dass es mich irgendwann von der Bank haut.
Erwischt es nicht eher die Stillen, die alles in sich hineinfressen?
Das könnte sein. Wenn man mich festbinden würde, würde ich erst recht draufgehen.
Schreckt Sie der Gedanke an eine Entlassung?
Das weniger, wenngleich ich als Vater von zwei Kindern auch ökonomisch denken muss. Was mir mehr Sorgen macht, ist, wenn ich sehe, wie immer wieder Trainer als Sau durchs Dorf getrieben werden.
Sind Sie eigentlich ein Fußball-Nerd, der sich nächtelang Spiele ansieht?
Ich schaue Champions League, aber die englische Liga habe ich zum Beispiel das ganze Jahr über nicht gesehen. Da finde ich die Bundesliga interessanter. Und wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe, bin ich abends wahnsinnig müde und lese lieber ein bisschen, auch wenn das zuletzt leider weniger geworden ist.
Sachbücher oder Romane?
Romane.
Mit welchen Vorlieben?
Jonathan Franzen oder mal wieder den Dostojewski, den ich zuletzt vor 20 Jahren in der Hand hatte: „Die Brüder Karamasow“. Aber so ein dickes Buch kriege ich im Moment nicht gut durch.
Sie gehen in Ihre erste komplette Saison als Bundesligatrainer. Kennen Sie so etwas wie Versagensangst?
Man will ja nicht, dass die Leute enttäuscht sind, weil das Team dauernd verliert oder, schlimmer noch, schlechten Fußball spielt. Dann geht man nach Hause und grübelt, hat aber vielleicht keine Idee mehr. Mit anderen Worten: Als Trainer kennt man immer auch Versagensangst. Ich zumindest.
Sie sind Pessimist.
Der Herr Stocker hat immer zu mir gesagt: „Ich möchte einmal so ein Optimist sein wie du!“ Das ist aber der einzige Mensch, der das gemeint hat. Solange ich über den Pessimismus nicht meinen Mut verliere, ist es ohnehin egal.
Was passiert, wenn Sie den Mut verlieren?
Dann lasse ich vielleicht sogenannten Ergebnisfußball spielen: hinten rein stellen und hoffen, dass man 1:0 gewinnt. Aber ich glaube, das funktioniert nicht. Ergebnisfußball in meinem Sinne bedeutet, dass man so gut wie möglich spielt und versucht, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.
Bei der Europameisterschaft haben sich 13 von 16 Teams hinten reingestellt. Ist das 1:0‑Denken nicht tief verwurzelt im Fußball?
Mir soll’s recht sein. Wenn viele Mannschaften so denken und wir gleichzeitig unseren Mut behalten, wäre es nicht unser Schaden.
Glauben Sie, dass Ihre Elf die forsche Spielweise auch bei einer Niederlagenserie beibehält?
Keine Ahnung. Ich hoffe es.
Sind Sie gespannt, wie die Mannschaft in solch einem Fall reagiert?
Nein. Verlieren gefällt mir nicht.
Von Huub Stevens heißt es, er kann so schlecht verlieren, dass er seine Kinder nicht beim „Mensch ärger dich nicht“ gewinnen ließ.
Ich lasse die auch nicht gewinnen. Weil ich sie sonst ja nicht ernstnehmen würde. Und weil ich gewinnen will, im Rahmen meines pädagogischen Ansatzes.
Christian Streich, was machen Sie eigentlich, wenn der SC Freiburg in der nächsten Saison tatsächlich 54 Punkte holt? Leisten Sie dann Abbitte und gestehen, keine Ahnung von Fußball zu haben?
Dann gebe ich zu, dass ich mich geirrt habe. Aber mehr Ahnung habe ich trotzdem.