Wenn die Fans von Spartak Moskau nicht im Stadion ihre Mannschaft anfeuern, dann pilgern sie zum Wagankowoer Friedhof. Denn hier liegt neben anderen Prominenten der Mann begraben, der mit seiner Geschichte für die Herkunft des Vereins steht: Nikolai Petrowitsch Starostin.
Als Sportler hatte er sich einen Namen gemacht, weil er in den 30er Jahren als technisch starker Flügelspieler die Seitenlinie in Moskaus Vorortstadien auf und ab rannte und im Winter als Eishockeyspieler auf Torejagd ging. Dabei war für Starostin der Sport lange Zeit nur eine Möglichkeit, um seine Familie zu ernähren. Bald jedoch begriff er den Sport als eine Bühne, um seine politische Einstellung nach außen zu tragen.
Auf den Spuren von Spartakus
In einer Zeit von Arbeiterbewegung und Spartakiaden, die vorolympischen Spiele in der Sowjetunion, die den anstrengenden Kampf der Arbeiterklasse im Sport ideologisch wirksam zeigen sollten, fand Starostin eine Möglichkeit, als kleiner Mann der großen Politik zu trotzen. Schon bei seinem Heimatverein Krasnaja Presnja, bei dem Starostin das Fußballspielen gelernt hatte, fühlten sich seine Brüder und er den Arbeitern im Industrievorort verbunden. In einem kleinen von Bäumen umsäten Stadion weit westlich von Russlands Machtzentrum am Roten Platz hatten sich Starostin und seine Mitspieler ihre Mannschaft im Viertel Presnja von Moskau geschaffen. Als sich Starostin in der Moskauer Stadtauswahl einen Namen als talentierter Rechtsaußen gemacht hatte, schuf er zusammen mit anderen Fußballern aus der Nachbarschaft aus dem Viertelklub Krasnaja Presnja einen eigenen Verein: den Arbeiterklub Spartak Moskau, in Anlehnung an Spartakus, den Führer des Sklavenaufstandes in der Antike.
Als einer der wenigen Vereine in der Sowjetunion, der nicht an staatliche oder militärische Organisationen angegliedert war, fand Spartak Moskau seine Fans vor allem unter Industriearbeitern und in Gewerkschaften. Für sie stand der Verein mit dem Namen Spartak als Zusammenschluss derer, die unter Ausbeutung zu leiden hatten. Die Bedeutung des Namens Krasnaja, auf Russisch rot, nahm Starostin bewusst mit in seinen neuen Verein Spartak. Als Erinnerung an die Aufständischen der Oktoberrevolution 1917. Für Starostin hatte Spartak immer eine Heimat: das Arbeiterviertel Presnja.
Politischer Kampf vor dem Stadion
Starostin erkannte bald das fußballerische Potential, das in seiner Mannschaft steckte. Zum Ärger der sowjetischen Führung forderte er, die fußballerische Abschottung gegenüber dem Westen aufzubrechen und auch gegen Mannschaften außerhalb der Sowjetunion anzutreten. Zwar ließen die sportlichen Erfolge noch eine ganze Zeit lang auf sich warten. Dennoch hatte sich Starostin mit seiner Mannschaft und den häufig auch gewaltbereiten, aufbegehrenden Fans den Ruf eines Störenfrieds für das sowjetische System eingebracht. Nicht zuletzt, weil er durch sein Engagement für den Verein viel Geld verdiente und bald in Politiker- und Geschäftskreisen bekannt war. Das „Volksteam“, als das Spartak Moskau schnell bekannt war, brachte Starostin viel Einfluss und endgültig die Möglichkeit, mit Hilfe des Fußballs einen Widerstand gegen sowjetische Unterdrückung aufzubauen.
Zusammen mit Ivan Artemyev hatte Starostin bereits 1921 den Moskauer Sportzirkel ins Leben gerufen. Mit ihm zog Starostin auch 1926 die ersten Sponsoren an Land, mit deren Hilfe er das neue Tomskii Stadion bauen ließ. Zwei Jahre später stellte der Stadtrivale Dinamo sein Stadion gegenüber auf die andere Straßenseite. Als Sportler pflegte Starostin enge Kontakte in die Politik. So hatte er in Alexander Kosarev, dem Chef der Partei-Jugendorganisation Komsomol, einen einflussreichen Politiker und Sympathisanten für seinen Verein gefunden. Ab 1934 galt Spartak als ebenbürtiger Rivale zum bis dahin dominierenden Staatsverein Dinamo. Die Rivalität zwischen den beiden Klubs zeigten Fans schon damals bei Prügeleien und Beschimpfungen vor dem Stadion. Auf der einen Seite das militärisch geführte Dinamo, auf der anderen Seite Spartakfans, deren Mannschaft spontane politische Demonstrationsspiele auf dem Roten Platz austrug.
Staatsfeind im Fußball
In den neu eingeführten landesweiten Duellen spielten Spartak und Dinamo bald mit anderen Fabrikmannschaften und Sportvereinigungen den sowjetischen Meister aus. 1936 gewann Spartak zum ersten Mal den Titel. Immer wieder reiste Starostin, der mittlerweile mehr Manager als Spieler war, mit seinem Verein aber auch in andere Länder, nach Zentralasien, um dort Geld und Ruhm für das Volksteam zu bekommen.
Noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Starostin als mittlerweile 36-jähriger Spieler den Chef der Geheimpolizei zum Feind gemacht. Lawrentij Berija, der früher in Georgien für Dynamo Tiflis gegen den Ball getreten hatte, nahm seine Leidenschaft für den Fußball auch mit in seinen hochrangigen Job. Dass Spartak Moskau 1938 sowjetischer Pokalsieger geworden war und zudem im Halbfinale Berijas Heimatverein aus dem Wettbewerb geworfen hatte, konnte der Chef der Geheimpolizei nicht auf sich sitzen lassen. Kurzerhand erkannte Berija Spartak Moskau den Titel ab und ließ das Spiel gegen Tiflis wiederholen. Doch auch in diesem Spiel fertigte das Volksteam den georgischen Vorzeigeklub mit 3:0 ab. Nach dem Spiel erklärte die sowjetische Führung Nikolai Starostin zum Staatsfeind.
Noch vier Jahre lang konnte Starostin mit Hilfe seiner Kontakte in die Politik den Schergen der sowjetischen Geheimpolizei entkommen. Sein Freund und Gönner Kosarew wurde 1939 als Volksfeind erschossen. Auch Starostin wurde vorgeworfen, an kriminellen Aktivitäten Kosarews beteiligt gewesen zu sein. Die Kontakte zum Premierminister über Starostins Tochter reichten nicht mehr aus. 1942 verhaftete der Geheimdienst Starostin und seine vier Brüder unter der Anschuldigung, eine terroristische Kampfgruppe von Sportlern gegen die Parteiführung aufgebaut zu haben.
Kicken mit den Lagerkommandanten
Zwei Jahre in der Lubjanka, dem Gefängnis für politische Gefangene in Moskau, und jahrelange Haft im Straflager und Gulag konnten Starostin von seinen Überzeugungen und dem Fußball nicht abhalten. Die Lagerkommandanten kümmerten sich als bekennende Fußballfans um ihren prominenten Häftling und sorgten dafür, dass er genug zu essen bekam, um das Straflager zu überleben. Zwischendurch stellten die Lagerkommandanten Starostin sogar als Trainer für Fußballvereine an, um ihre Teams in der Gulag-Meisterschaft nach vorne zu bringen. Dem Aufenthalt im Lager entkam Starostin allerdings erst 1954. Wieder einmal halfen ihm seine Kontakte in die Politik. Der Sohn des Diktators persönlich, Wassilij Stalin, der Starostins Tochter noch aus dem Reitklub kannte, holte den prominenten Häftling in seine Residenz und stellte ihn unter seinen persönlichen Schutz.
Als Josef Stalin 1955 starb, galt Starostin nicht mehr länger als politisch Verfolgter. Zurück in Moskau nahm er wieder den Kontakt zu Spartak Moskau auf. Kurz darauf wurde er Präsident des Vereins, den er gut zwanzig Jahre zuvor mit Freunden gegründet hatte. 40 Jahre lang führte Starostin den Verein seiner Jugend. Bei Spielen gegen Dinamo Moskau lebte bis in die 70er Jahre der alte Klassenkampf immer wieder auf. Im Roboterfußball der Sowjetunion verstand sich der Klub von Starostin als spielerische Ausnahme und wurde dabei zum sowjetischen Serienmeister.
Trotz Abstieg und Wiederaufstieg in den 70er Jahren spielte Spartak bis zum Tode Starostins immer um den Titel mit. 1994 erlebte der 92-jährige Ehrenpräsident Starostin zusammen mit den Fans von Spartak Moskau die russische Meisterschaft, den Pokalsieg und den Gewinn des GUS-Cups. Zwei Jahren später pilgerten die ersten Fans zur Büste ihres Idols im Wagankowoer Friedhof, um dem verstorbenen Held des Moskauer Volksteams zu gedenken.