Die Neunziger, ein Jahrzehnt der Sorglosigkeit. Der atomare Regen war versickert, die Mauer gefallen, GZSZ kam ins Fernsehen. Helmut Kohl regierte vor sich hin, Scharping fuhr Rennrad, DJ Bobo erklomm die Spitze der Hitparade, und im Heidepark Soltau wurde die Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen ausgetragen. Der Sieger hielt es 196 Tage aus. Offenbar hatte man in diesem Jahrzehnt sonst nicht viel zu tun.
In der Rückschau muss uns das vorkommen wie die eigentliche spätrömische Dekadenz, die Dekadenzminister Guido Westerwelle in der Gegenwart vermutet, vielleicht an Bord seines Fliegers nach Süd-Amerika selbst.
Tatsächlich aber war damals schon vieles in der Auflösung begriffen (sonst wäre heute ja auch nicht alles so unangenehm disparat). Auch und vor allem im Fußball: Das so genannte Bosman-Urteil bewirkte die Explosion der Ablösesummen. Im Juli 1998 wechselte Jörg Heinrich für umgerechnet 11,5 Millionen Euro von Dortmund nach Florenz. Jörg Heinrich! In Madrid nahm Atletico-Potentat Jesus Gil y Gil ein lebendes Krokodil mit ins Stadion. Und in Kaiserslautern ließ sich Otto Rehhagel vom Besitzer einer Herrenboutique zum König der Pfalz krönen.
Roembiak und Pfeifenberger
König war er bis 1995 auch in Bremen gewesen, doch als er abtrat, fiel sein Reich in sich zusammen. Seine Epigonen Aad de Mos, Dixie Dörner, Wolfgang Sidka, Felix Magath wurden Neunter bzw. Elfter mit Werder, erstaunlich genug eigentlich, dass nicht auch noch DJ Bobo sein Glück als Coach versuchen durfte. Oder Scharping!
Kurz bevor der ehrgeizlose Schluffifußball mit Männern wie Lody Roembiak und Heimo Pfeifenberger den ganzen Verein in den Abgrund reißen konnte, kam Thomas Schaaf, ein Mann aus der Generation Fridtjof Nansens, der auch zufällig dessen Jacke trug, und schaffte den Hedonismus ab, Interviews, gute Laune, die Loveparade, Fantasietransfers, Alf, Kirmestechno, „ranissimo“, rote Jeansjacken, Roembiak, Pfeifenberger, Scharping, Bobo und dieses ganze vermaledeite Jahrzehnt des Unernstes. Danke Schaaf, Mann aus ferner Zeit!
Übrigens hörte auch das Pfahlsitzen im Heidepark auf. Die Kandidaten hatten wohl erkannt, dass sie den Weltrekord niemals würden brechen können: Symeon Stylites, der erste Säulenheilige, setzte sich 442 n. Chr. auf einen Pfahl und blieb dort 37 Jahre lang. Damals, in der einzig wahren spätrömischen Dekadenz.
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