Wayne Thomas kam 1978 als einer der ersten englischen Fußballprofis nach Deutschland. Eigentlich wollte er nur ein paar Monate bleiben – nun lebt er seit über 40 Jahren hier. Ein Gespräch über das Achtelfinale gegen Deutschland, Jadon Sanchos Schicksal und zu viel Alkohol.
Wayne Thomas, Sie sind gebürtiger Engländer, leben seit 1978 in Deutschland und haben mehrmals eine Einladung zur walisischen Nationalmannschaft erhalten. Wen unterstützen Sie bei der EM?
Der damalige walisische Nationaltrainer, der kurioserweise Mike England hieß, hat mich zweimal eingeladen, weil mein Vater und mein Großvater Waliser waren. Aber ich habe mich kurz vor den Länderspielen verletzt. Ich fiebere natürlich immer ein wenig mit der Mannschaft, sie hat sich auch dieses Mal gut geschlagen, finde ich. In Deutschland habe ich mittlerweile mehr Zeit meines Lebens verbracht als in England. Dabei habe ich meiner Mutter damals gesagt, dass ich nur ein paar Monate wegbleibe. Sie hält es mir heute noch vor. Ich sage dann: „Immerhin rufe ich dich ab und zu an. Andere sagen, sie gehen Zigaretten holen und kommen nie wieder.“ Jedenfalls, ich mag Deutschland, trotzdem bin ich heute für England. Das müssen Sie auch verstehen: Wir haben seit 1966 nichts gewonnen. Ich tippe 3:2.
Nach Elfmeterschießen?
Ich habe befürchtet, dass Sie das fragen.
Gareth Southgate macht angeblich seit September 2020 ein spezielles Elfmetertraining.
Wie willst du das trainieren? Wir haben gute Schützen, jeder der Jungs kann einen Ball präzise schießen, und im Training zimmern sie die Elfer bestimmt reihenweise in den Winkel. Aber es ist alles Kopfsache. Wenn du anfängst zu denken, hast du ein Problem. So war es auch 1996. Da wussten die Spieler, dass die gesamte Nation und das gesamte Stadion auf sie schauen. Sie zitterten, sie grübelten, ein Fehlschuss und du bist der Depp der Nation.
Ist ein Elfmeterschießen im Heimstadion also ein Nachteil?
Vor allem für England. Die Spieler wissen, dass die Fans wissen, was im Sommer 1996 passiert ist.
Wird Gareth Southgate in einem möglichen Elfmeterschießen selbst antreten, um die Schmach zu tilgen?
Auf keinen Fall. Er wird vor einem Elfmeterschießen aus dem Stadion in einen Pub flüchten und es dort gucken. Aber wie gesagt: Ich glaube, das Spiel wird vorher entschieden. Es gibt auch keine Ausreden mehr, wir haben die beste Mannschaft seit Jahrzehnten, die Spieler gewinnen regelmäßig große Titel mit ihren Klubs, der Kader ist so gut, dass ein Spieler wie Jadon Sancho nur auf der Bank sitzt.
Würden Sie ihn spielen lassen?
Die meisten Engländer wollen ihn sehen. Aber Southgate wird in der K.o.-Runde keine Experimente mehr machen. Kontrollierte Offensive. So hieß das jedenfalls zu meiner Zeit.
Hat Southgate zu viele Optionen?
Er hat ein ähnliches Luxusproblem wie Jogi Löw. Auch in Deutschland gibt es viele gute Talente. Einige sitzen nur auf der Bank, andere sind nicht mal Nationalspieler. Denken Sie an Niklas Dorsch, der bei Gent in Belgien eine tolle Saison gespielt hat. Auch Sancho spielt in Dortmund gut, aber im ersten EM-Spiel gegen Kroatien war er nicht mal im Kader, im zweiten kam er nicht rein. Gegen Tschechien durfte er dann fünf Minuten spielen, weil Ben Chilwell und Mason Mount in Quarantäne waren und Phil Foden wegen einer möglichen Gelbsperre aussetzen sollte. Ich bin mir sicher: Gegen Deutschland wird Sancho am Anfang wieder draußen sein. Erst das Spielgeschehen wird die Taktik ändern. Erst ein Rückstand könnte eine Chance für Sancho sein.
Sprechen wir über Ihre Karriere. Wie sind Sie 1978 in Deutschland gelandet?
Ich war damals 19 Jahre alt und spielte in der dritten englischen Liga für Peterborough United. Ich wollte Profi werden so wie mein Vater, der für Coventry City gespielt hatte. Es gab auch ein paar Angebote aus England. Aber eines Tages machten wir mit einer Auswahlmannschaft eine Reise nach Deutschland, wo wir gegen eine hessische Kreisauswahl antraten. Dort waren Spieler des KSV Baunatal dabei, damals zweite Bundesliga. Nach der Partie kamen wir ins Gespräch, und die Leute machten mir einen Wechsel schmackhaft.
Kevin Keegan war als erster englischer Fußballprofi 1977 nach Deutschland gekommen und schlug beim HSV ein. Hofften andere Vereine, den nächsten Keegan zu entdecken?
Auf jeden Fall. Ich will mich nicht vergleichen, aber der „Kicker“ nannte mich mal den „Keegan der Zweiten Liga“. Ein paar Jahre später kam Tony Woodcock. Ich habe auch meinen Bruder Dean vom FC Wimbledon zu Alemannia Aachen gelotst, danach spielte er noch für Fortuna Düsseldorf. Einmal haben wir gegeneinander gespielt. Er war übermotiviert und bekam die Rote Karte.
Hatte er Sie gefoult?
Nein, dann hätte ich ihn aus meinem Testament gestrichen.
Sie haben in Ihrer Karriere über 300 Spiele in den ersten zwei Bundesligen gemacht. Sie liefen unter anderem für Alemannia Aachen, Hannover 96, Kickers Offenbach und Bayer Uerdingen auf. Gab es später nie mehr die Chance, zurück nach England zu gehen? Ihre Mutter wartete ja noch.
Doch, immer wieder. In den Winter- und Sommerpausen bin ich auch oft heim. Das erste Mal im Winter 1978/79. Da habe ich ein wenig mit den Klubs aus Coventry und Birmingham trainiert, bei Aston Villa zum Beispiel. Dort haben sie gesagt: Bleib doch hier. Aber wenn du einmal das Leben in Deutschland kennengelernt hast, merkst du schnell, es ist sehr angenehm.
Was war Ihr erstes Wort auf Deutsch?
Bier.
Und Ihr erster Satz?
Ein Bier, bitte. Und wenn ich in der Kneipe drei Bier bestellen wollte, sagte ich dreimal hintereinander: Ein Bier, bitte. Ein Bier, bitte. Ein Bier, bitte.
Heute sind die Mannschaften sehr international, wie haben Sie damals mit Ihren Mitspielern gesprochen?
Wir waren maximal drei Ausländer in der Mannschaft. Aber das war egal, denn auf dem Platz musste man kein Deutsch können, man musste nicht mal sprechen können, ein paar Geräusche, dann kriegst du den Ball. Aber es stimmt: In der Kabine und sonst auch wurde quasi nur Deutsch gesprochen, ich habe die Sprache daher schnell gelernt. Das war einerseits gut, denn ich fand Anschluss, andererseits merkte ich auch, dass die Presse nicht nur Positives schreibt.
Max Merkel urteilte in der „Bild“ über Sie: „Gradlinig und nicht zimperlich. Manchmal könntest du denken, er hätte ein Bügeleisen im Fuß.“
Ich war ein rustikaler Spieler, hart, aber nicht unfair. Ganz ehrlich: Ich hätte nicht gerne gegen mich gespielt.
Sie waren ein Sechser.
Meine Aufgabe war die Jagd auf die Nummer Zehn. Uwe Bein, Asgeir Sigurvinsson oder Marcel Raducanu haben mich gehasst. Edle Filigrantechniker, gute Typen. Mit Uwe Bein habe ich später eine Fußballschule gemacht. Ich erinnere mich, dass Raducanu technisch extrem gut war. Der hat einen so schwindelig gespielt, dass man den Weg in die Kabine nicht mehr gefunden hat.
Bekam man in England mit, wie gut Sie in Deutschland waren?
Damals konnte man froh sein, wenn das eigene Spiel in der „Sportschau“ gezeigt wurde. Man wusste generell recht wenig über Fußball und so gut wie nichts über ausländischen Fußball. Heute ist alles ausgeleuchtet, jedes Spiel wird wissenschaftlich analysiert. Und auch die Vergangenheit wird immer weiter erforscht. Nicht immer zu meinem Vorteil.
Wie meinen Sie das?
Ich wurde in meiner Karriere oft ausgewechselt, und das steht nun in den Datenbanken. Einige Leute fragen mich also: Wayne, warum musstest du so oft runter? Was man dazu wissen muss: Es gab damals die Ausländerregel. Das heißt, es durften nur zwei Ausländer gleichzeitig auf dem Platz stehen, und wenn der Trainer einen weiteren Ausländer bringen wollte, musste ein anderer runter. Das war oft ich.
Bei Ihrem größten Erfolg, dem Pokalsieg 1985 mit Uerdingen, wurden Sie erst acht Minuten vor Ende eingewechselt. Warum eigentlich? Sie waren doch Stammspieler.
Ich hätte eigentlich gar nicht im Kader stehen dürfen, denn ich hatte mir ein paar Tage zuvor die Bänder angerissen. Was für ein großer Scheiß, dachte ich, denn ich hatte alle Pokalspiele mitgemacht. Das Finale wollte ich auf keinen Fall verpassen. Zumal es zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion stattfand, dann noch gegen die Bayern. Mit unserem Masseur traf ich eine Absprache: Kalli Feldkamp sollte denken, es sei alles nicht so schlimm. Ich fuhr dann nach Holland zu einem Spezialisten. Ich weiß noch, dass der Fuß angeschwollen war und er einen gipsartigen Verband drumherum wickelte. Alte Medizinschule. Aber irgendwie ging es, ich saß immerhin auf der Bank.
Kurz nach Ihrer Einwechslung hatten Sie sogar das 3:1 auf dem Fuß.
Danke, dass Sie mich dran erinnern. Es war wirklich keine gute Szene von mir. In Kurzform: Peter Loontiens passt den Ball in die Mitte, ich verschieße aus sieben Metern kläglich. Vor einiger Zeit machten ein paar Filmemacher eine Dokumentation über den Pokalsieg. Zur Premiere kamen alle Spieler, dazu noch etwa 1000 Fans. Ich saß weit hinten im Kino, mein Sohn war auch dabei. Bei der Szene drehte sich der gesamte Saal um und schaute mich mit einer Mischung aus Entsetzen, Schadenfreude und Mitleid an. Auch ich war leicht geschockt, denn ich hatte die Szene in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut verdrängt.
Sie bewahren viele Erinnerungsstücke aus der damaligen Zeit auf: Poster, Bälle, Medaillen. Hat das Trikot des Pokalendspiels einen Ehrenplatz?
Hose und Stutzen habe ich noch, aber das Trikot habe ich leider auf dem Platz verschenkt – an eine der Spielerinnen des Damen-Endspiels zwischen Frankfurt und Duisburg, das vor dem Männerfinale stattgefunden hatte. Ich war sehr euphorisiert und hatte zu viel aus dieser riesigen Magnumflasche getrunken. Aber Sie wissen, wie es ist: Heute tauschen die Spieler die Trikots beim Warmlaufen, damals hat man eins bekommen, das man bis zum Ende der Saison tragen musste. Und wenn man es verloren hatte, gab’s Ärger. Einmal haben die mir in Hannover 100 Mark vom Gehalt abgezogen, weil mein Trikot im Trikotkoffer fehlte. Ich sagte noch, sag mal, glaubt ihr wirklich, ich klaue mein eigenes Trikot? Was das auch für Dinger waren! Nicht atmungsaktiv wie heute, sondern schwerer nasser Stoff, den du wie ein Gewicht über den Platz schleppen musstest. In der Kabine lief der Schweiß direkt in die Schuhe. Und manchmal gab’s im Winter bei minus fünf Grad Kurzarmtrikots. Wenn wir uns beschwerten, sagte der Zeugwart: „Trainer hat gesagt, mehr laufen, dann wird euch schon warm.“
Wie war denn die Feier nach dem Pokalsieg?
Sie ging mehrere Tage. Blöd war nur, dass wir drei Tage nach dem Finale zu einem Bundesligaspiel nach Kaiserslautern mussten. Der Bus hat jeden einzelnen Spieler von zu Hause abgeholt, wir waren alle noch etwas, nun ja… müde. Also, wir fuhren hin, gingen wie durch ein Wunder mit 1:0 in Führung – und verloren dann 1:6. War trotzdem schön, denn auch die FCK-Fans feierten uns als Bayernbezwinger. Danach sind wir wieder in den Bus gestolpert. Weitergefeiert haben wir aber nicht mehr, denn im Bus erfuhren wir von dem Heysel-Unglück, das an jenem Abend passiert war.
Sie hätten im kommenden Jahr auch Europapokal spielen und beim Wunder von der Grotenburg gegen Dynamo Dresden dabei sein können. Warum haben Sie Uerdingen nach der Saison verlassen?
Es gab ein paar interessante Angebote, auch aus dem Ausland. Dann kam der Anruf aus Hannover, ich fuhr hin, das Stadion, die Stadt, die Fans, das gefiel mir alles sofort. Die Zweitligameisterschaft iin der Saison 1986/87 war grandios. Wir waren die Bayern der Zweiten Liga und sind regelmäßig mit 5000 Leuten zu den Auswärtsspielen gefahren, fast jedes Spiel musste mit Verspätung anfangen, weil niemand darauf vorbereitet war. Klar, Europapokal wäre toll gewesen, immerhin war ich Co-Kommentator für die BBC bei den internationalen Uerdingen-Spielen.
Welche Teams verfolgen Sie heute noch?
Vor der Corona-Pandemie bin oft nach Hannover gefahren, das ist nicht weit entfernt von meinem Wohnort in Nordhessen. Meine Heimatbesuche in England verbinde ich gerne mit Spielen von West Ham United, dort ist meine Schwester Mitglied. Gerade die Derbys gegen die anderen Londoner Vereine sind intensiv. Es ist ein bisschen rauer, schön oldschool. Herrlich. Wenn ich bei meiner Mutter in Coventry bin, gibt es hingegen nur Coventry City. Die sind nach Jahren in der Dritt- und Viertklassigkeit wieder in zweite Liga aufgestiegen und haben sich sogar gehalten. Ich hätte dort am Ende meiner Karriere noch spielen können, die haben mir ein Angebot gemacht. Ich habe damals kurz überlegt, aber dann gemerkt, ich möchte gar nicht mehr weg aus Deutschland. Ich mag’s hier.