In den Neunzigern wurde Michael Preetz auf Schultern durchs Olympiastadion getragen. Jetzt sind nahezu alle Herthaner froh über sein Aus – selbst einstige Preetz-Jünger wie unser Autor. Über das Gefühl, einen Helden scheitern zu sehen.
Michael Preetz weiß davon nichts, aber ich war jahrelang sein Glücksbringer. Als er sein erstes Bundesliga-Tor für Hertha schoss, im Winter 1997 gegen den KSC, war ich im Stadion, zum ersten Mal in meinem Leben. Als er nur Monate später gegen die großen Bayern zunächst Oliver Kahn und dann auch noch Gabor Kiraly überlistete und Hertha den Rekordmeister trotz seines Eigentors am Ende mit 2:1 bezwang, war ich wieder da. Als Preetz in der Saison drauf die Bayern direkt wieder versenkte, war ich auch im Stadion. Als er am 34. Spieltag 1999 dreimal gegen den HSV traf, dadurch Torschützenkönig wurde, für Hertha die Champions League eintütete und danach von Kollege Kiraly, der ihm das Eigentor offenbar verziehen hatte, auf Schultern getragen wurde, ebenfalls. Als er ein paar Jahre und sehr viele Treffer später mit einem für ihn so typischen Abstauber aus sechseinhalb Zentimetern Entfernung (zirka) Rekordtorschütze des Vereins wurde, bei einem 3:1 gegen Energie Cottbus, war ich, genau, im Stadion. Und als er nach einem 2:0 gegen Kaiserslautern im Mai 2003 seine Karriere beendete, da war ich natürlich auch da. Eigentlich überraschend, dass ich die Geburt seiner Tochter verpasst habe, denn quasi immer, wenn es für ihn wichtig wurde, war ich live dabei. Ein Glücksbringer eben.
Ich war damals, Ende der 90er, Anfang der 2000er, ein kleiner Racker und konnte nur ins Stadion gehen, wenn ich erstens nicht selber irgendwo in Berlin meine Kinderknochen hinhalten musste und sich zweitens ein Erwachsener aus meinem Umfeld – der Freund meiner Mutter etwa (Hertha-KSC) oder meine arme Mutter selbst (Hertha-Bayern, Hertha-Lautern) oder mein Patenonkel (Hertha-HSV) oder mein schon damals eigentlich viel zu alter Opa (Hertha-Cottbus) – erbarmte, Tickets zu kaufen, raus nach Westend zu gurken und dort, in dieser lauten und rauen und abenteuerlichen Schüssel, auch auf mich aufzupassen.
Das passierte nicht allzu oft, ich habe im ersten Absatz viele der Spiele erwähnt, bei denen ich als kleiner Junge überhaupt im Stadion war. Doch wenn ich da war, dann lieferte der Lange. Und bescherte mir und zehntausenden anderen Fans große, identitätsstiftende Momente. Dann schaute ich ungläubig runter zu ihm, Torschützenkönig?, Rekordtorjäger?, Wahnsinn!, und dann wieder ungläubig hoch zu meinem Patenonkel oder meinem Opa und war so glücklich, wie man als kleiner Junge glücklich sein kann. Was ich damit sagen will: Zwischen Preetz und mir, da hat es damals gut gepasst. Er hat mich zum Herthaner gemacht. Bloß ist das alles knapp 20 Jahre her.
Nach seinen Saisontoren 21 bis 23 wird Michael Preetz von Gabor Kiraly durchs Olympiastadion getragen. Hertha ist sensationell Dritter geworden.
In der Zwischenzeit ist viel passiert. Hertha ist gleich zweimal ab- und aufgestiegen, manche meiner Kinderknochen sind nicht nur größer geworden, sondern auch gebrochen und wieder zusammengewachsen, Tickets kaufe ich mir (wenn auch widerwillig) selber, identitätsstiftend ist im Stadion eher das gemeinsame Schimpfen als das gemeinsame Jubeln über die Typen auf der anderen Seite der Laufbahn.
Und der Lange? Wurde erst Lehrling von Dieter Hoeneß, dann selber Manager und dann, am vergangenen Wochenende, man kann es kaum anders formulieren, nach knapp elf Jahren wieder aus dem Amt gejagt. Fans hatten trotz Corona vor dem Olympiastadion gegen ihn demonstriert, Boulevardzeitungen sein verzweifeltes Gesicht auf ihren Titelblättern abgedruckt. Es fehlten eigentlich nur die Mistgabeln und Fackeln. Woraufhin das Präsidium Preetz, seit 2009 hauptverantwortlich für alles, was bei den Profis der Hertha mit Fußball zu tun hat (was ja eigentlich gar nicht so viel ist, wenn wir alle für einen kurzen Moment mal ganz ehrlich miteinander sind), mit sofortiger Wirkung kündigte.
Über die Gründe für den Rauswurf ist seitdem viel geschrieben und gesprochen worden, vor allem in Berlin, und es soll an dieser Stelle nicht wieder um rausgeworfene Windhorst-Kohle, sein mieses Trainerhändchen, wütende Fans oder die chronisch miese Laune im Westen der Stadt gehen. Denn dass Preetz Fehler gemacht hat, mehr, als man ihm in jedem anderen Verein der Welt zugestanden hätte, ist klar. Und dass er in der aktuellen sportlichen Krise als Sportdirektor weder dem Investor noch den Fans länger vermittelbar war, ebenfalls. Sein Rauswurf war, und ich entschuldige mich an dieser Stelle ausdrücklich vorab für die nun folgende Funktionärsformulierung, alternativlos. Preetz musste weg. So kurz, so schmerzlos. Wobei schmerzlos nicht ganz stimmt. Zumindest nicht für alte Preetz-Jünger wie mich.
Denn die vergangenen Tage fühlten sich so an, als stünde ein alter Freund vor Gericht. Ein alter Freund, von dem alle wissen, dass er schuldig ist. Von dem man selbst aber genau weiß oder zumindest zu wissen glaubt, dass er dieses verdammte Verbrechen doch eigentlich gar nicht hatte begehen wollen. Eigentlich ist er für so was überhaupt nicht der Typ, im Gegenteil, er ist da irgendwie reingerutscht, die falschen Freunde, die falschen Feinde, die falschen Vorbilder, das falsche Milieu, Fehler, die zu weiteren Fehlern führten, bis er mittendrin war im Schlamassel, so tief, dass kein Richter der Welt ihn nun würde freisprechen können, zu erdrückend die Beweislast, zu rachsüchtig das Publikum, zu glaubwürdig die Zeugen, selbst sein alter Kumpel Gegenbauer sagt jetzt aus. Man sieht ihn, also Preetz, vorne im Gerichtssaal sitzen, knochige Wangen, faltige Stirn, zusammengepresste Lippen. Einer gegen alle. Dann wird er – folgerichtig – verknackt. Und alle jubeln laut los. Selbst die Kerle, die früher mit ihm zusammen um die Häuser gezogen sind. Wie konnte es nur so weit kommen?
Ein frustrierter Manager – Michael Preetz auf einer der zahlreichen Krisen-PKs seiner Amtszeit.
Nun fährt Michael Preetz nicht ein, im Gegenteil, eigentlich wurde ihm am Wochenende die Freiheit geschenkt. Mehr als 40 Jahre lang bestimmte der Profifußball sein Leben, Training, Spiele, Transfers, Pressekonferenzen, Stress, Druck, Ärger, Misserfolg, Erklärungsnot, miese Laune. Und dann genau die gleiche Scheiße wieder von vorne, Woche für Woche. Er kannte es nicht anders, und trotzdem ließ sich gut beobachten, wie sehr ihm der Job über die Jahre zusetzte. Zumal für mich durch meinen Beruf nun ab und zu die Laufbahn verschwand, die früher für die Distanz gesorgt hatte, die es braucht, um Menschen für Helden zu halten. Bei Interviews oder bei Pressekonferenzen etwa.
Dann konnte ich ihm Fragen stellen, ihn aus der Nähe sehen, seine mal mehr, mal weniger knochigen Wangen, seine meist faltige Stirn, seine quasi immer zusammengepressten Lippen. Er sah aus, als sei das alles furchtbar anstrengend. Er wirkte dauerhaft in die Defensive gedrängt. Fragen beantwortete er weniger, als dass er sie parierte. Dem kicker verriet er einst, da war er noch Spieler, was sein Lieblingsbuch sei: „Sorge Dich nicht, lebe!“, sagte er, „von Dale Carnegie“. Ich weiß nicht, was genau in dem Buch steht, aber es klingt so, als hätte er es gründlicher lesen sollen. Denn Michael Preetz, der Manager, wirkte wie die Sorge in Person. Einer, der viel zu lange über Entscheidungen nachgrübelte, statt sie zu treffen, einer, der zögerte oder gar bremste, statt zu leben. Am Ende ist er als Manager wohl vor allem daran gescheitert.
Der Fußballer Michael Preetz hat, so kam mir das früher vor, selbst mit Körperteilen Tore erzielt, die anderen Stürmern nicht mal wuchsen, Überbeine, Knochenhöcker, diese Kategorie. Es sah nicht schön aus, aber es funktionierte. Danach jubelte er, als sei er erlöst worden. Weit geöffneter Mund, leuchtende Augen, zur Seite ausgestreckte Arme. In den vergangenen Jahren fehlten diese Momente, in denen alles von ihm abfallen konnte, seine Arbeit sah nun nicht nur nicht schön aus, sie funktioniere auch nicht. So hatte er sich das vermutlich nicht vorgestellt, als er im Sommer 2009 die Last eines ganzen Vereins auf seine Schultern nahm.
Aber so ist das im Leben, es läuft nicht immer so, wie man sich das wünscht, und manchmal läuft es auch überhaupt nicht, dann klemmt man fest in diesem Leben oder im Alltag, zu dem das Leben geworden ist, und kann sich kaum noch bewegen. Preetz ist kein Held mehr und ich kein kleiner Junge, ihm wird nicht mehr zugejubelt, meinen Patenonkel und meinen Opa kann ich nicht mehr ungläubig anschauen, weil sie gestorben sind. Das ist traurig, aber so ist es eben. Und wer weiß: Vielleicht findet Preetz ja jetzt die Zeit, sein Lieblingsbuch noch mal in Ruhe zu lesen. Und vielleicht, wenn ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist, in ein paar Jahren oder auch in ein paar Jahrzehnten, wird im Stadion auch wieder gejubelt werden, wenn sein Gesicht auf der Leinwand zu sehen ist. Und vielleicht schaut meine Patentochter dann ungläubig hoch zu mir, weil sie keine Ahnung hat, wer der Typ ist. Dann werde ich ihr von Michael Preetz erzählen, der einst ein großer Spieler bei Hertha war. Nur Spieler?, wird irgendein Idiot, der neben uns steht, provokant fragen. Er war auch Manager, werde ich sagen. Aber das ist nicht so wichtig.