Es sind schöne Worte. Sie hören sich besorgt an, fast philosophisch. Es sind die Lieblingsworte von Guus Hiddink, er sagt sie jedes Mal, wenn er auf die unfassliche Laufleistung seiner russischen Spieler angesprochen wird: „Wir laufen viel, aber wir laufen auch viel falsch. Manchmal wünsche ich mir, sie würden weniger laufen.“ Er ist damit einer der ersten Trainer in der Geschichte des Fußballs, der sich über Faulheit freuen würde. „Man kann diese Spieler nicht bremsen“, sagt er. Es sei eben ihre Art.
Die Fußballwelt ist einerseits begeistert von den starken Auftritten der russischen Elf. Da stürmt eine junge Mannschaft mit erfrischendem Kombinationsfußball durch das Turnier, sie läuft aufopferungsvoll viel und besiegt im Viertelfinale ein verdutztes Holland, das nur den Schlusspfiff herbeisehnt. Man rätselt allerdings auch, wie die Mannschaft es schaffen konnte, drei Tage nach dem schweren Spiel gegen Schweden (Laufleistung in 90 Minuten: 112,8 Kilometer) im Viertelfinale gemeinsam 143,7 Kilometer zurückzulegen. Holland kam auf 141,2 Kilometer, ebenfalls ein beachtlicher Wert.
Sieger nach Laufleistung
Die russischen Spieler sind in beängstigend guter Form. Sergej Semak legte gegen Holland 14,99 Kilometer zurück, Konstantin Syrjanow 14,63, Juri Schirkow 14,58. Selbst Mittelfeldspieler Andrej Arschawin – laut Hiddink nicht topfit – schaffte exakt 14.563 Meter. Auf der Liste mit den laufstärksten Spielern im Viertelfinale befinden sich unter den ersten fünf drei russische Spieler, bei der Turnier-Laufleistung sind fünf Akteure in den Top 11, die ersten drei Plätze belegen Semak, Syrjanow und Schirkow.
Nach zurückgelegten Kilometern haben die Russen jedes Spiel für sich entschieden. Gegen Holland liefen die Spieler 2,5 Kilometer mehr, gegen Schweden 1,5, gegen Griechenland gar 3,0. Auch bei der Niederlage gegen Spanien waren es 2,9 Kilometer mehr. Es ist nicht nur die reine Distanz, sondern auch die Intensität und Geschwindigkeit dieser Laufwege. Russlands Spieler bewegen sich meist im Sprint, die Gegner müssen hinterherrennen. Schirkow liegt auf Platz drei der Spurtwertung mit einer Spitzengeschwindigkeit von 31,32 Kilometern pro Stunde, was ihn zu einem der ersten Ausdauer-Sprinter der Welt macht.
Warum sind Russlands Fußballer so fit? Hiddinks lakonische Erklärung: „Sie hatten eine akzeptable Ausdauer. Aber das reicht nicht. Wenn du so ein Turnier spielst, musst du an der Explosivität arbeiten und daran, die Erholungszeit möglichst kurz zu halten. Jetzt haben die Spieler, was sie brauchen.“ Woher seine Spieler jedoch haben, was sie brauchen, das will Hiddink nicht sagen. Im Training jedenfalls ist keine Übung zu erkennen, die Ausdauer oder Regeneration besonders schult.
Zum Laufwunder mutiert
Hiddink arbeitet lieber an einzelnen Spielzügen, manchmal lässt er seine Spieler langsam über den Platz laufen, um Laufwege zu synchronisieren. Deshalb sieht die Spielweise der Russen manchmal aus wie Eishockey oder Basketball – es fehlt nur noch, dass Andrej Arschawin die Spielzüge anzeigt. Seit dem 18. Mai arbeitet Hiddink mit den Spielern, er sagt: „Sie haben es sich in Rekordzeit angeeignet. Zum Beispiel Roman Pawljutschenko: Wenn Sie sehen, wie er sich jetzt bewegt. Und wenn Sie wüssten, wie er sich in der Liga bewegt hat.“ Pawljutschenko – mit 42,72 Kilometern laufstärkster Stürmer der EM – ist nicht der einzige Russe, der innerhalb von drei Wochen vom durchschnittlich fitten Spieler zum Laufwunder mutierte.
Jedes große Fußballturnier braucht diese Geschichte vom David, der um die großen Goliaths herumsaust. Es ist jedoch auffällig, dass diese David-Mannschaften häufig von Hiddink trainiert werden. Die südkoreanische Elf war bei der WM 2002 den Gegnern läuferisch überlegen und stürmte ins Halbfinale. Es wurde offen spekuliert, die Spieler könnten gedopt sein. Hiddink dementierte und erklärte, Grundschnelligkeit sei nicht mit Doping zu erreichen. Sein Kommentar damals: „Wer Beweise hat, soll sie vorlegen.“
Ähnlich war es bei den Australiern vor zwei Jahren. Entweder übernimmt Hiddink zufällig stets laufstarke Teams, oder es gibt noch Sonderschichten hinter verschlossenen Türen. Das würde alle anderen Trainer zu unfähigen Übungsleitern degradieren, die nicht in der Lage sind, Champions-League-gestählte Stars in Form zu bringen und es nicht schaffen, die längere Regenerationszeit sinnvoll zu nutzen.
„Meine russischen Spieler sind wie Soldaten“
Hollands Trainer Marco van Basten sagte nach dem Viertelfinale: „Wir hatten fünf Tage länger Zeit zum Regenerieren. Es ist eine Schande, dass man das nicht gesehen hat.“ Der letzte Satz lässt durchaus Raum für Interpretation, ob van Basten seine Spieler gemeint und damit seine eigene Trainingsarbeit kritisiert hat – oder etwas anderes signalisieren wollte.
In Russland nimmt man die Verwunderung über die geringe Erholungszeit allenfalls zur Kenntnis. Die Zeitungen verweisen auf die russische Liga, die sich als einzige der teilnehmenden Verbände am Kalenderjahr orientiert. Die Premjer-Liga startete am 14. März, keine Mannschaft absolvierte mehr als elf Ligaspiele. Zenit St.Petersburg musste aufgrund des erfolgreichen Abschneidens im Uefa-Cup gar nur sechs Mal antreten.
Die Spieler – bis auf Iwan Saenko sind alle bei russischen Klubs unter Vertrag – hätten eben keine anstrengende Saison hinter sich, dazu komme die typisch russische Disziplin. „Meine russischen Spieler sind wie Soldaten“, sagt Hiddink. Der bisher überragende Soldat ist Andrej Arschawin, der gegen Holland auch in der Verlängerung immer wieder Tempo-Dribblings schaffte.
Nach dem Spiel taumelte er zu den Journalisten, er sah sie aus tiefen Augen an. Seine Wangen waren gerötet, die Lippen ausgetrocknet. Er sah aus wie ein Radfahrer, der gerade die schwerste Bergetappe bei der Tour de France absolviert hat. Er sagte: „Das Spiel war am Ende zu schwer für mich, ich bin völlig erledigt. Wir haben gedacht, dass die Holländer kommen würden, auch physisch. Aber sie kamen nicht.“ Arschawin übrigens kam spät zu den Interviews. Er musste vorher zur Dopingkontrolle.