Heute vor einem Jahr sorgten Spanien, Kroatien, Frankreich und die Schweiz für den besten Fußballabend seit langer Zeit. Und bewiesen damit: Dieser Sport ist immer noch der wunderbarste auf der ganzen Welt.
Dieser Text erschien ursprünglich am 29. Juni 2021, also am Tag nach den irren Achtelfinalspielen zwischen Spanien und Kroatien (5:3) und Frankreich und der Schweiz (8:7) bei der EM.
Sollten wir den gestrigen EM-Abend irgendwann mal als Comic darstellen, in einer der kommenden Ausgaben unseres Magazins etwa, wir könnten uns die Kohle für den Sprechblasen-Texter sparen. „KA-BOOM!“ „BÄM!“, „KNALL!“, „WOW!“, „PENG!“, „ZACK!“, „POW!“, „UFF!“, „SPLASH!“ – mehr bräuchte es nicht. Denn das, was wir gestern erlebt haben, war der spektakulärste, abenteuerlichste, abwechslungsreichste, spannendste, kurzum schönste Fußballabend seit…, ja seit wann denn eigentlich? Monaten? Jahren? Dem 3:1 von Frankfurt gegen Bayern? Dem 4:3 zwischen Liverpool und Dortmund? Dem 1:7 zwischen Brasilien und Deutschland? Oder gar seit Jahrzehnten? Schwer zu sagen, deswegen formulieren wir es lieber anders: Gestern, da haben wir endlich mal wieder – seit wann auch immer – so richtig was gespürt. Uns daran erinnert, warum Fußball der tollste Sport der Welt war und ist und immer bleiben wird, warum wir uns einst unsterblich in dieses Spiel verliebt haben. Sind für unsere Dummheit, jede noch so große Kröte zu schlucken, die uns FIFA, UEFA oder DFL vorsetzen, entschädigt worden.
Co-Kommentator Sandro Wagner sagte irgendwann, als es grade mal wieder irgendwo 3:3 stand: „Das ist großartige Werbung für unseren Fußballsport!“ Und weil der Abend so toll, die Werbung so gut war, können wir sogar über diese sperrige Tweed-Sakko-Hornbrillen-Streber-Formulierung hinwegsehen. Denn im Kern hatte er ja recht. Beide Spiele, das 5:3 zwischen Spanien und Kroatien und das 8:7 zwischen der Schweiz und Frankreich, machten uns ganz scharf auf Fußball. Was auch immer das kostet, wir wollen mehr davon! Gleichzeitig hatten die Spiele etwas seltsam befriedendes. Zuletzt hatten wir gelitten, geflucht, uns geärgert und gelangweilt, waren teilweise zynisch geworden. Die Spiele gestern, sie waren Brustlöser, Streicheleinheit, Wundsalbe. Sie rochen nach früher, nach einer Zeit, in der noch alles in Ordnung war, und sie klangen wie ein von einer Siegerfaust begleitetes und durch den Raum gerufenes „Geht doch!“, wie ein erleichtertes „So nämlich!“. Ergänzt vielleicht noch von einem: „Und nicht anders!“
Schon der Versuch, die Geschehnisse der beiden Spiele zumindest einigermaßen vollständig wiederzugeben, muss scheitern. Es ist einfach zu viel passiert: Das völlig bananige Eigentor von Pedri, das in einer fairen Welt Keeper Unai Simon schlechtgeschrieben werden würde. Die Aufholjagd der Spanier, die Aufholjagd der Kroaten, die Klasse und Hingabe von Luka Modric, das Tor der Marke „Ausgerechnet“ von Alvaro Morata, die Erlösung durch Oyarzabal. Und da war noch nicht mal die Sonne untergegangen. Dann Haris Seferovic und die Läufe von Steven Zuber, Steven Zuber überhaupt, Steven Zuber, verdammt!!! Außerdem Sandro Wagner und die nackte Kanone, der Elfmeter von Ricardo Rodriguez, die Ballannahme von Karim Benzema, die einen eigenen 90-Minuten-Blockbuster verdient hätte, das Tor von Pogba, das einen eigenen 90-Minuten-Blockbuster verdient hätte, der Jubel von Pogba, der seinen Followern mit Sicherheit mehr bedeutet als jeder 90-Minuten-Blockbuster der vergangenen zehn Jahre. Der in den Schweizern aber auch etwas auslöste, das sie nochmal anrennen ließ.
Die Grätschen von Granit Xhaka, die Pässe von Granit Xhaka, die Frisur von Granit Xhaka. Die Aufholjagd der Underdogs, das Last-Minute-Tor der Underdogs, zu allem Überfluss auch noch erzielt von einem Ex-Schalker. Dann das Hin und Her in der Verlängerung, der melancholische Blick von Admir Mehmedi, die neun Elfmeter, einer besser und kaltschnäuziger als der andere, bevor Kylian Mbappé zum Strafraum schritt und sich, beobachtet von der ganzen Welt, den Ball zurechtlegte. Der Fehlschuss von ihm, schon wieder das Wort „Ausgerechnet“, die Parade von Yann Sommer, der doch eigentlich viel zu klein ist für diesen Job, der Jubellauf seiner Mannschaft, der erst weinende und dann oberkörperfreie Fan. Die Gewissheit, dass wir eben auch im Jahr 2021 noch nicht vorher mit Gewissheit sagen können, wie die Spiele ausgehen werden. Das alles. Und noch viel mehr. Wir können nur inständig hoffen, dass auch Kranführer Ronny gestern vor der Glotze saß. Denn für einen, der so sehr für Verdichtetes brennt, müssen sich die zwei Spiele angefühlt haben wie eine einzige, große Belohnung.
Zuletzt wirkte der Fußball auf uns wie ein alter Freund, der uns langsam abhanden kommt. Ein Vertrauter, den wir seit der Kindheit kennen, mit dem wir groß geworden sind, mit dem wir legendäre Momente und Erfahrungen nicht nur geteilt, sondern gemeinsam erlebt haben. Und den wir nun langsam aus den Augen verlieren. Weil sein Lebensentwurf so gar nicht mehr zu unserem passt. Weil er mit Leuten rumhängt, die wir öde finden oder sogar nur schwer ertragen können. Weil er schon immer seine Macken hatte – mittlerweile aber, zumindest manchmal, ein richtiges Arschloch sein kann. Wir bleiben zwar halbwegs auf dem Laufenden, wissen, wo er wohnt, was er arbeitet, mit wem er so rumhängt, aber eigentlich interessiert uns das alles nur noch, weil wir das Gefühl haben, dass es uns interessieren sollte, interessieren müsste. Zu besonderen Anlässen sehen wir uns zwar, doch diese kurzen Treffen entfernen uns nur noch weiter voneinander. Weil wir merken, dass uns mittlerweile mehr trennt als verbindet, wir uns nicht mehr viel zu sagen haben. Bis wir uns dann doch mal wieder gemeinsam besaufen. Und uns im Rausch einfällt, warum es einst so lustig und schön war miteinander. Warum es vielleicht auch in Zukunft wieder so lustig und schön werden könnte. Den Rausch gestern, wir hatten ihn alle bitter nötig. Lasst uns gemeinsam hoffen, dass der Kater nicht allzu schlimm wird.
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