Sie nannten ihn „Voodoo-Horst“. Er saß in Frankfurt auf einem Gartenstuhl und hätte um ein Haar Carsten Jancker nach Meppen geholt. Geburtstagskind Horst Ehrmantraut über verpasste Transfers und das Leben nach dem Fußballgeschäft.
War es gigantisch?
Anfangs war es schwierig. Als ich nach meiner Unterschrift nach Berlin flog, habe ich erstmals darüber nachgedacht, ob das wirklich richtig war: von einer deutschen Topmannschaft zu einem Zweitligisten zu wechseln. Ich weiß noch, es war der letzte Flug an einem Sonntagabend, und ich kam um halb elf oder elf in Tegel an. Der Mann, der mich abholen sollte, war zu spät, und da saß ich mit meinen Koffern. In Tegel war ja um die Uhrzeit auch nichts mehr los. Ich war völlig demoralisiert und auf einmal schoss es mir durch den Kopf: Was habe ich da nur gemacht? Da floss auch die eine oder andere Träne.
Trotzdem sind Sie fünf Jahre geblieben.
In der Rückschau war die Zeit bei Hertha die schönste meiner Spielerkarriere. Den Aufstieg haben wir tatsächlich geschafft, außerdem kamen mir die Menschen in Berlin viel aufgeschlossener und draufgängerischer vor als die, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Die können austeilen, das schon, aber auch einstecken. Und allein schon den Kaiserdamm runterzufahren, mit seinen vier Spuren auf jeder Seite. Da habe ich geguckt: Fahren die wirklich alle in eine Richtung?
Zum Ende Ihrer Laufbahn sind Sie zum FC Homburg zurückgekehrt und mit dem Kleinstadtverein tatsächlich in die Bundesliga aufgestiegen.
Irre, nicht wahr? 25 000 Einwohner und dann so was! Das waren Glücksmomente.
Der FC Homburg war damals bundesweites Gesprächsthema durch seine Trikotwerbung für eine Kondommarke.
Wir waren in allen Gazetten. Dass die Gesellschaft noch nicht so weit war, so etwas anzunehmen, und dass der DFB es nicht gestattete, ist heute unfassbar. So ein Kondom hat ja nur positive Eigenschaften! Unser Präsident Manfred Ommer war so klug, den Schriftzug mit einem schwarzen Balken zu überkleben. Der Werbeeffekt war immer noch da, weil ohnehin jeder wusste, was sich darunter befand.
Katalysator Ihrer anschließenden Trainerkarriere war das Zweitligaabenteuer des SV Meppen.
Die Zeit in Meppen hat mich als Persönlichkeit sehr geprägt. Solch einen Verein fünf Jahre in der zweiten Liga zu halten, war das Größte. Erstmals war ich alleiniger Chef und konnte machen, was ich wollte, natürlich im Rahmen des vorgegebenen Budgets. Einmal hätte ich fast Carsten Jancker verpflichtet.
Wieso nur fast?
Jancker kam aus der zweiten Mannschaft des 1. FC Köln und wollte da weg, weil er in der ersten keine Chance bekam. Er absolvierte ein Probetraining bei uns und ich war zu zögerlich. Der Junge hatte technisch seine Probleme, aber er war ein Torjäger und sehr flink für seine Größe. Danach zog er weiter zum nächsten Probetraining bei Rapid Wien, wir hatten ein Auswärtsspiel in Jena, und auf dem Rückweg denke ich plötzlich: „Wir müssen den Carsten holen!“ Wir riefen ihn noch aus dem Bus an, doch er sagte: „Trainer, es tut mir leid, aber ich habe schon in Wien unterschrieben.“ Als er später bei Bayern München landete, habe ich mich noch mehr geärgert. Der wäre ja gekommen, auch für das Geld! Da kriegst du die Vollkrise, innerbetrieblich.
Haben Sie davon geträumt, mit Meppen in die Bundesliga aufzusteigen?
Wir waren ja zweimal nah dran. Letztlich hat es aber an der Qualität gefehlt, das muss man fairerweise zugeben. Doch auch so ist etwas Unglaubliches passiert, nämlich dass mich, den Trainer, der bis dahin nur kleine Vereine trainiert hatte, auf einmal Eintracht Frankfurt haben wollte. So bin ich mit meinem alten, anthrazitfarbenen BMW dahin gefahren und sah mich auf einmal einem Podium mit 15 bis 20 honorigen Leuten gegenüber. Ich war so perplex, dass ich nur in kurzen Sätzen antworten konnte. „Trauen Sie sich die Aufgabe zu, Herr Ehrmantraut?“ – „Na klar.“
War Frankfurt die intensivste Zeit Ihrer Trainerkarriere?
Die markanteste. Anspruchsvollste. Verrückteste. Vorher war Dragoslav Stepanovic Trainer gewesen, der aber trotz Spielern wie Maurizio Gaudino keinen Erfolg mehr hatte. Die Eintracht war aus der ersten Liga abgestiegen und stand in der zweiten unten drin. Als ich im Januar 1996 kam, trainierten wir in der Halle, weil das Wetter zu schlecht war. Ich rief die Spieler zusammen, setzte mich auf einen Ball und tat meine Vorstellungen kund. Da hast du förmlich gespürt, wie die Spieler dachten: „Was will der denn? Und der soll uns in die erste Liga bringen?“
Worüber haben Sie gesprochen?
Über das, was ich vorhin erzählt habe: Frankfurt als Bankerstadt, Denkerstadt. Wenn du so eine Stadt hast, bleibt es nicht aus, dass auch die Spieler davon infiziert werden. Die empfanden Fußball nicht mehr als Arbeit, sondern wollten ihn nur noch zelebrieren. In der zweiten Liga musste Fußball aber gearbeitet werden. Jemandem wie Gaudino, zweifellos ein grandioser Fußballer, war das nicht unbedingt in die Wiege gelegt.
Sie hatten bald den Ruf eines Pedanten.
Das bleibt nicht aus, wenn man alles hypergenau machen will. Meine Spezialität war die Einzelkritik nach jedem Spiel. Für mich bedeutete das: Wenn ich nach einem Nachmittagsspiel um 19 Uhr nach Hause kam, hab ich was gegessen und dabei schon auf Videokassette das Spiel geguckt. Bin mit dem Gedanken eingeschlafen, was man verbessern kann und habe mir um vier, halb fünf den Wecker gestellt, Kaffee gemacht und das ganze Spiel noch einmal geguckt. Weil du ja keinen Fehler machen darfst und alles richtig zuordnen musst, wenn du um zehn vor der Mannschaft stehst. Und dann habe ich jeden einzelnen kritisiert, vom Torwart bis zum Linksaußen. Das war eine Arbeit, das können Sie sich nicht vorstellen. Sich das alles in den Kopf zu hämmern!
Waren Sie damals zu penibel?
Heute ist der Umgang ein völlig anderer. Ich kann das auf einen Nenner bringen: Bis vor acht oder zehn Jahren hat der Trainer gesagt und die Spieler haben gemacht. Heute sind die Hierarchien viel flacher, da kann man nicht mehr alles von oben herab diktieren. Du musst die Spieler mitnehmen und das hat auch seine Berechtigung.
Manches schien den Leuten damals ein bisschen esoterisch. Die Rede war von „Voodoo-Horst“ oder „Strahlen-Horst“.
Das hat ein Fernsehjournalist aufgebracht und seitdem bin ich das nicht mehr losgeworden. In einem Interview habe ich gesagt: „Jeder Mensch hat ein Energiefeld um sich herum.“ Das kann Ihnen jeder Physiker bestätigen, das ist messbar. Die Sache hat mich maßlos geärgert. Fester als ich kann man gar nicht auf dem Boden stehen.
Einmal sollen Sie Ihren Co-Trainer aus der Kabine verbannt haben, weil er eine schlechte Aura verströmte.
Völlig falsch. Ich habe ihn rausgeschickt, aber nur weil wir vermuteten, dass Späher vom KSC vor der Tür waren, um unsere Taktik zu belauschen.
Ihr letztes Engagement hatten Sie 2005 beim 1. FC Saarbrücken, danach haben Sie keinen Job mehr übernommen. Eine bewusste Entscheidung?
Ich war insgesamt 30 Jahre im bezahlten Fußball, davon 13 als Spieler. Und wie gesagt, schauen Sie meinen Körper an, ich musste immer viel dafür tun. Auch als Trainer habe ich jedes Prozent aus mir rausgekitzelt. Irgendwann bist du ausgelaugt.
Heute nennt man das Burn-out.
Damals gab es den Begriff nicht, aber ich wollte auf jeden Fall einen Punkt setzen und eine Pause machen. Seit dem Tag, als ich in Saarbrücken aufhörte, habe ich zwölf Angebote erhalten. Ich habe zu allen nein gesagt.
Sind Sie fertig mit dem Fußballgeschäft?
Weiß ich nicht. Vielleicht gibt es noch mal spontan den Entschluss, einen kleineren Verein mit Fundament und Struktur zu übernehmen, um ihn nach oben zu bringen.
Womit verbringen Sie Ihre Tage? Ich stehe gegen halb sieben, sieben auf, kann es mir leisten, morgens eine Stunde Tee zu trinken und denke darüber nach, was ich machen will. Ich spiele Tennis, gelegentlich Golf, und betreibe Landwirtschaft.
Als Broterwerb?
Nein, als Hobby. Wissen Sie, wie schön es ist, früh morgens auf den Acker zu fahren und zu pflügen? Sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen mitzunehmen, den Motor vom Traktor auszustellen und sich an den Ackerrand zu legen? Über Ihnen steht die Sonne, die Lerche singt Ihnen ein Lied. Wenn ich gesund bleibe, kann mir nichts passieren.
Sind Sie finanziell unabhängig?
Ich war nie der Großverdiener, aber ich hatte von Anfang an ein konservatives Denken, was meine Geldanlage betraf. Ich brauchte keine dicken Autos und bin auch nie an den Roulettetisch gegangen. Deshalb befinde ich mich jetzt in einer Lage, wo ich sagen kann: Wenn in der Wirtschaft nichts Blödes passiert, komme ich bis an mein Lebensende klar.