Heute feiert Michel Platini seinen 65. Geburtstag. Als Funktionär eilte ihm ein zweifelhafter Ruf voraus, als Spieler war er begnadet. Im Herbst 2018 diskutierten wir mit ihm und Karl-Heinz Rummenigge – über deutsch-französisch Fußballduelle und das WM-Halbfinale 1982. Für die beiden war die „Nacht von Sevilla“ eine sportliche Sternstunde – und der Beginn einer langen Freundschaft.
Alain Giresse sagt, er kann die „Nacht von Sevilla“ nur bis zu Rummenigges Einwechslung anschauen. Patrick Battiston traute sich erst 2014, die Aufzeichnung noch einmal anzusehen. Schauen Sie sich noch alte Spiele an?
Platini: Nein.
Rummenigge: Ich schaue mir gern Niederlagen an.
Platini: Er kann das sagen, er hat ja nicht so viele große Spiele verloren.
Rummenigge: Niederlagen sind zwar bitter, aber sie bringen einen Fußballer zurück auf den Boden – und sie gehören zum Fußball dazu. Jedes Jahr im Sommer schaue ich mir in meinem Ferienhaus die Niederlage des FC Bayern im „Finale dahoam“ 2012 an – und jedes Mal entdecke ich neue Aspekte.
Klingt sehr rational.
Rummenigge: Und ich erinnere mich, wie Pierre Littbarski nach der Finalniederlage 1982 gegen Italien weinend in der Kabine saß und ich zu ihm sagte: „Litti, hör auf zu heulen, es bringt nichts. Du musst akzeptieren, dass wir heute keine Chance hatten.“
Platini: Auch weil ihr nach dem Halbfinale erst um sechs Uhr morgens im Bett wart.
Rummenigge: Nach dem Elfmeterschießen gegen Frankreich war bei unserem Flugzeug ein technisches Problem aufgetreten. Daher konnten wir erst um vier Uhr morgen nach Madrid zurückfliegen. Als ich dort gegen sechs Uhr morgens eingeschlafen war, wurde ich gleich wieder von Lärm vor meinem Fenster geweckt. Direkt unter meinem Fenster im ersten Stock gab Toni Schumacher eine Pressekonferenz. Und als ich hörte, was er erzählte, dachte ich nur: „Oh, Toni, lass es bleiben…“
Platini: In der Nacht hat er bestimmt kein Auge zugemacht.
Sie haben den europäischen Fußball nach der aktiven Laufbahn auch auf offizieller Ebene geprägt: Karl-Heinz Rummenigge ab 2008 neun Jahre lang als Chef der European Club Association (ECA) und Michel Platini seit 2007 als UEFA-Präsident.
Platini: Und wir haben uns in diesen Funktionen gut ergänzt. Weil ich denke, dass bei unseren Entscheidung stets im Vordergrund stand, was dem Fußball hilft und ihn voran bringt.
Meinen Sie Fußball als Spiel oder Fußball als Geschäft?
Rummenigge: Nur wenn die Qualität des Produkts stimmt, nützt es auch dem Geschäft. Und da befinden wir uns momentan in einigen Bereichen auf dem falschen Weg.
Was meinen Sie?
Rummenigge: Es kann nicht sein, dass wir Dinge einführen, die geschäftlich attraktiv erscheinen, aber das Produkt verwässern. Schauen Sie sich die Europameisterschaft an. Als Deutschland 1972 den Titel gewann, nahmen vier Teams am Turnier teil. Als ich 1980 die EM holte, waren es acht. Inzwischen treten 24 Mannschaften dort an – und wenn es so weiter geht, bekommen demnächst alle 55 europäischen UEFA-Mitgliedsverbände einen Startplatz.
Platini: Das größte Problem ist, dass die Vereine immer mehr Geld benötigen, um sich die besten Spieler leisten zu könnten. Ich glaube, da liegt das Kernproblem des Fußballs. Beim Bosman-Urteil ging es darum, dass ein Spieler, dessen Vertrag ausläuft, in der Wahl seines Arbeitsgebers und ‑ortes frei ist. Die negative Begleiterscheinung des Urteils aber war, dass die Profis nun grenzüberschreitend frei zirkulieren und sich reiche Vereine theoretisch die elf besten Spieler der Welt zu einem Team zusammenkaufen können. Das ist schlecht! Denn so steigt die Berechenbarkeit des Spiels. Deswegen war es stets mein Anliegen als UEFA-Präsident, allen Vereinen die Chance zurückzugeben, die Champions League zu gewinnen. Das ist nicht einfach, aber es muss unser Ziel sein.
Sonst?
Platini: Werden die Leute irgendwann nicht mehr zum Fußball gehen, weil sie schon ahnen, wer gewinnt.
Rummenigge: Die europäische Politik hat uns hier einen Bärendienst erwiesen. Als Michel versuchte, Financial Fairplay einzuführen, waren wir oft in Brüssel, um uns für Salary Caps einzusetzen. Aber der Europäische Gerichtshof wollte nicht verstehen, wie das Bosman-Urteil die Fußballwelt verändert hat und dass Spieler längst irrational hoch bezahlt werden.
Dennoch plädieren Sie für die Einführung der europäischen Superliga.
Rummenigge: Stimmt nicht! Die Idee zur Gründung einer solchen Liga stammt von einigen Klubvertretern aus Südeuropa. Wir hatten noch vor zwei Jahren ein Meeting in Barcelona, bei dem ich irgendwann in die Runde fragte: „Gentlemen, glauben Sie wirklich, die Menschen da draußen warten sehnsüchtig auf diese Superliga?“ Alle blickten mich mit großen Augen an. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass so ein Projekt alle nationalen Ligen beschädigen würde. Denn alle würden von heute auf morgen nur noch zweitklassig sein. Aber viele Vereine verfolgen zu sehr ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen. Wie Michel schon sagte, es ist wichtig, dass wir das Spiel im Fokus behalten.
Sie meinen also, es wird am Ende nichts mit der Superliga?
Rummenigge: Ich vermute, dass diese Liga eines Tages kommen wird. Aber fragen Sie mich nicht, wann. Ich bin froh, dass die Gründung nicht mehr in meine Verantwortung als Chef der ECA fällt. Bei meiner Abschiedsfeier 2017 habe ich zu Herrn Čeferin und zu Herrn Infantino gesagt, dass wir einen gesunden Mittelweg unter den Vereinen brauchen – aber auch genug Geld für die Top-Klubs, denn sie sind der Motor des gesamten Fußballs.
Michel Platini, was sagt Ihr Bauchgefühl zur Superliga?
Platini: Mein Bauchgefühl sagt: Ich habe Hunger! (Lacht.)
Rummenigge: Michel, wir haben eine gute Küche im Haus.
Platini: Wir brauchen keine private, geschlossene Liga, mal ganz davon abgesehen, dass die europäischen Gesetze eine private Liga bislang nicht zulassen. Wir brauchen mehr Chancengleichheit unter den Vereinen. Denn wir haben bereits das Problem in allen großen Ligen, dass nach spätestens fünf Spieltagen überall dieselben Vereine dominieren, die seit Jahren oben stehen. Die Fans verstehen das nicht mehr. Das wird ein Problem werden.
Das heißt?
Platini: Ich weiß nicht, ob es die FIFA oder die UEFA in einigen Jahren in der bisherigen Form noch gibt.
Rummenigge: Die Klubs sind heute viel besser gemanagt als vor zehn oder zwanzig Jahren – und die Vereine werden noch deutlich an Bedeutung und Einfluss hinzugewinnen.
Platini: Bedenken Sie, dass der UEFA-Präsident bislang nicht von den Vereinen, sondern von den Nationalverbänden gewählt wird.
Rummenigge: Aber ein Rückzug aus der UEFA würde bedeuten, den Frieden in der Fußballfamilie zu beschädigen. Und die Loyalität und Harmonie in dieser Familie hat bislang immer noch dazu geführt, dass wir gemeinsame Lösungen gefunden haben.
Karl Heinz Rummenigge, fehlt Ihnen Michel Platini in der Spitze der UEFA?
Rummenigge: Wir hatten auf und abseits des Rasens stets ein gutes Verhältnis. Und ich stimme mit Michel überein, dass wir Entscheidungen stets im Sinne des Fußballs getroffen haben.
Platini: Wir haben getan, was wir tun mussten. Kalle war stets ein guter Partner. Nun müssen andere Leute die Entscheidungen treffen – und Lösungen finden.
Fällt es Ihnen wirklich leicht loszulassen, Michel Platini?
Platini: Ich bin kein Journalist. Ich spreche nicht über Dinge, die aus meiner Sicht getan werden sollten, sondern über Dinge, die ich tun kann. Als ich Präsident war, habe ich Dinge entschieden, die ich für richtig hielt, denn ich war der Boss. Nun bin ich nicht mehr in der Situation zu entscheiden, also ist es besser, nicht darüber zu sprechen, was ich täte, wenn ich es könnte.
Zurück zum Fußball: Sind die Deutschen der Schatten, der über Ihrer aktiven Laufbahn liegt? Sie verloren zwei WM-Halbfinals gegen die DFB-Elf und 1983 mit Juve auch das Landesmeistercup-Endspiel gegen den HSV.
Platini: Aber ich habe das EM-Finale 1984 gegen Spanien gewonnen und ein Jahr später gegen Liverpool den Europapokal. Und wir haben den HSV mit St. Etienne im Volksparkstadion 1980 mit 5:0 besiegt.
Punkt für Sie.
Platini: Verloren habe ich nicht gegen die Deutschen, sondern gegen sehr gute Mannschaften. Und ich habe ein wesentlich größeres Problem mit deutschen Politikern als mit deutschen Fußballern. Denn deutsche Politiker haben dafür gesorgt, dass ich aktuell nicht im Fußball sein darf. (Lacht.)
Dennoch tut die Halbfinalniederlage bei der WM 1986 bis heute weh.
Platini: Wenn sie ein Spiel verlieren, das sie nicht verlieren müssen, ist oft der Schiedsrichter Schuld. So war es 1986. Bei dieser WM hatten wir es verdient, ins Finale zu kommen. Wir hatten Italien und Brasilien besiegt, aber im Halbfinale hatten wir einen schlechten Tag.