Heute feiert Michel Platini seinen 65. Geburtstag. Als Funktionär eilte ihm ein zweifelhafter Ruf voraus, als Spieler war er begnadet. Im Herbst 2018 diskutierten wir mit ihm und Karl-Heinz Rummenigge – über deutsch-französisch Fußballduelle und das WM-Halbfinale 1982. Für die beiden war die „Nacht von Sevilla“ eine sportliche Sternstunde – und der Beginn einer langen Freundschaft.
Michel Platini, Karl-Heinz Rummenigge, Sie beide wurde 1955 geboren, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie stellte sich für Sie das deutsch-französische Verhältnis in Ihrer Jugend dar?
Platini: Bei uns hat der Krieg nie eine Rolle gespielt, was daran liegen mag, das meine Familie aus Italien stammt. Obwohl meine Großeltern in Italien geboren wurden, haben meine Eltern nur französisch gesprochen und es wurde bei uns bewusst oder unbewusst keine politische Haltung zu einem anderen Land oder zum Krieg eingenommen.
Rummenigge: Bei uns im ostwestfälischen Lippstadt war es ähnlich. Die Menschen waren froh, dass die Weltkriege vorüber waren. Ich hatte den Eindruck, dass die Deutschen sich schuldig fühlten und sich freuten, als Kanzler Adenauer in Frankreich von Regierungschef de Gaulle empfangen wurde.
Wie war die Atmosphäre, wenn deutsche und französische Mannschaften aufeinandertrafen?
Rummenigge: Kam darauf an, wo wir spielten. Ich erinnere mich an ein Länderspiel in Hannover 1980, wo es keine Rolle spielte, dass wir gegen Frankreich spielten. 1977 spielten wir im Prinzenpark in Paris, wo schon eine besondere Spannung herrschte, die wohl auch mit der Vergangenheit zu tun hatte.
Platini: Ich glaube, diese Atmosphäre hatte weniger mit der Vergangenheit zu tun, als damit, dass wir dem deutschen Fußball mit Respekt begegneten. Was kümmerte uns der Krieg?
Rummenigge: Vielleicht hatten wir auch nur das Gefühl, aufgrund des beschriebenen Schuldempfindens.
Platini: Wir waren die erste Generation nach dem Krieg, die von den Ereignissen nicht traumatisiert war. Mich hat das nie tangiert.
Welche französischen Fußballer waren Stars in Ihrer Jugend?
Rummenigge: Ich kann mich an keinen erinnern. Für Just Fontaine, der bei der WM 1958 Torschützenkönig wurde, war ich zu jung. Und der nächste Franzose, der wieder Weltniveau erreichte, war dann Michel.
Platini: Fußball in den sechziger und siebziger Jahren war ein Desaster in Frankreich. Im Europacup hatten unsere Mannschaft beinahe ein Abo darauf, stets in der ersten Runde auszuscheiden.
Rummenigge: Allerdings muss ich zugeben, dass wir bei den wenigen Spielen gegen französische Teams, in denen es um etwas ging, meist nur mit viel Glück gewonnen haben.
Welche deutschen Spieler taugten für Sie zum Vorbild, Michel Platini?
Platini: Ich liebte die Elf, die 1972 den EM-Titel gewann: Netzer, Overath, Beckenbauer.
Wann haben Sie sich das erste Mal getroffen? Bei einem Jugendturnier?
Platini: Ich habe nie in einer Jugendnationalelf gespielt…
Rummenigge:… ich auch nicht. Vermutlich trafen wir uns bei einem Länderspiel.
Platini: Das System war damals ganz anders. Heute würden Scouts uns im Alter von 12, 13 Jahren entdecken. Damals konnten wir uns glücklich schätzen, wenn wir mit 17, 18 von irgendwo ein Angebot bekamen.
Hatten Sie mal eins aus Deutschland?
Platini: Borussia Mönchengladbach hat mir einen Vertrag angeboten.
Waren Sie auch dort?
Platini: Machen Sie Witze? Ich war mit 17 Jahren doch viel zu schmächtig für die deutsche Liga. Damals bekam ich auch ein Angebot vom FC Valencia, dessen Trainer Alfredo di Stefano war. Habe ich auch abgelehnt.
Wenn Sie sich als Jugendliche nie begegnet sind, standen Sie sich erstmals 1977 beim Freundschaftsländerspiel im Prinzenpark gegenüber. Endstand: 1:0 für Frankreich.
Rummenigge: Ach richtig, das letzte Länderspiel von Franz Beckenbauer.
Platini: Damals gab es einen Streik beim französischen Fernsehen. Olivier Rouyer, dem in diesem Match ein großartiger Treffer gegen Sepp Maier gelang, war ziemlich sauer. Denn das Spiel wurde nicht live übertragen – und niemand bekam etwas mit.
Hatten Sie schon voneinander gehört?
Platini: Bei uns wurden sonntags oft Zusammenfassungen aus der Bundesliga gezeigt, die bekanntlich am Samstag spielte. Deswegen wusste ich ganz gut, was da los ist und was Kalle so macht.
Und welchen Eindruck hatten Sie?
Platini: Ich ahnte, wenn ich gegen den irgendwann im Halbfinale einer WM spielen muss, wird’s schwer für uns. (Lacht.)
Hatte der Sieg 1977, der erste über ein DFB-Team seit der WM 1958, eine besondere Bedeutung?
Platini: Ach was. Auf einen Sieg gegen Italien mussten wir mehr als sechzig Jahre warten! Aber natürlich war dieses Spiel ein Zeichen, dass es nach tristen Jahren für unseren Fußball aufwärts geht. Schließlich war unser Fußball erst durch die Erfolge des AS St.-Étienne in der Mitte der Siebziger wieder zum Leben erweckt worden.
Der AS St. Étienne unterlag dem FC Bayern mit dem jungen Karl-Heinz Rummenigge im Finale um dem Europacup der Landesmeister 1976 nur knapp.
Rummenigge: Auch so ein Match, in dem wir uns nicht hätten beklagen dürfen, wenn wir es verloren hätten. Fünf Minuten vor Ende versenkt „Bulle“ Roth glücklich einen Freistoß, Sepp Maier hat uns wie so oft den Hintern gerettet. Eigentlich hätte St. Etienne mit ein, zwei Toren Unterschied gewinnen müssen.
Platini: Bis zu diesem Zeitpunkt können Sie den deutschen und französischen Fußball nicht vergleichen. Deutschland hatte, seit es 1954 Weltmeister wurde, an jedem großen Turnier teilgenommen und viele wichtige Finals gespielt. So eine Tradition gab es bei uns nicht.
Rummenigge: Ich glaube, alles was den französischen Fußball heute ausmacht, fußt auf der Mannschaft, die Michel bei der WM 1982 anführte. Da hatten sie mit Tigana, Giresse und Michel das beste Mittelfeld der Welt, die Abwehr wurde von Marius Tresor zusammengehalten, einem Bär von Verteidiger. Das Einzige, was ihnen damals fehlte, war ein großer Stürmer…
Platini: …und ein Schiedsrichter, der auf unserer Seite war.
Aber Sie waren sich bewusst, dass Sie nach einer durchwachsenen WM 1978 mit einem großen Team zur WM 1982 in Spanien reisen?
Platini: Nein. Wir hatten in den Monaten vor der Weltmeisterschaft keinen einzigen Sieg eingefahren. Dann verloren wir zum Auftakt gegen England, gewannen gegen Kuwait, Nordirland und Österreich und spielten unentschieden gegen die Tschechen. Keine außergewöhnliche Bilanz, oder? Ins Halbfinale zu kommen, war wie ein Wunder.
Schaut man sich den Turnierverlauf in Spanien an, war es auch für die DFB-Elf ein Wunder, dorthin zu gelangen.
Rummenigge: Wir hatten uns im Verlauf des Turniers gesteigert, aber natürlich war uns bewusst, dass Frankreich ein harter Brocken wird.
Das Halbfinale 1982 wurde überschattet von Toni Schumachers Foul an Patrick Battiston. Die Medien erkannten in der Aktion des Keepers den hässlichen, brutalen Deutschen wieder. Ein Motiv aus längst vergangenen Zeiten.
Platini: Es liegt in der Natur von Journalisten, solche Vergleiche anzustellen. Wir Spieler haben nie so gedacht. Natürlich war es überhaupt nicht gut, wie sich Schumacher an diesem Abend verhielt. Weder in dem Moment, als er Battiston verletzte, als auch nach Ende des Spiels. Er kam nicht vorbei, um sich zu entschuldigen. Er ging mit der Situation sehr arrogant um. Das macht dieses Spiel so problematisch. Sonst wäre es einfach als großartiges WM-Match in die Geschichte eingegangen.
Haben Sie eine Erklärung für Schumachers Verhalten?
Platini: Es lag in seiner Spielweise, den Gegner sehr körperbetont und aggressiv anzugehen.
Rummenigge: Toni war komisch drauf an diesem Abend. Ich erinnere mich, wie wir nach dem Spiel in der Kabine feierten. Er saß ganz allein in der Ecke. Ich sagte zu ihm: „Komm, Toni, wir gehen rüber und entschuldigen uns. Wir müssen doch wissen, was mit dem Spieler los ist.“ Es schien mir eine wichtige Geste zu sein.
Aber?
Rummenigge: Toni war an diesem Abend in seiner eigenen Welt. Er antwortete: „Es geht nicht, ich kann das nicht tun.“
In seinem Buch „Anpfiff“ begründet er seine Aggressionen auch damit, dass er mit Ephedrin gedopt war.
Rummenigge: Ich habe sein Buch nie gelesen, aber Toni war ein spezieller Typ. In den Ligaspielen gegen den 1. FC Köln bin ich Zweikämpfen mit ihm auch stets aus dem Weg gegangen.
Sie kamen in Sevilla erst in der siebten Minute der Verlängerung ins Spiel.
Rummenigge: Ich hatte eine Muskelverhärtung im Oberschenkel. Als Michels Team immer stärker wurde, bat ich unseren Masseur Erich Deuser mir Eis zu geben. Vom Ersatzkeeper lieh ich mir einen Handschuh, wickelte das Eis darin ein und begann, den Oberschenkel zu massieren. Dann fiel in der Verlängerung das 2:1 und Trainer Derwall fragte, ob ich spielen könne. Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob es schlau ist, aber das müssen Sie entscheiden!“ Kaum war ich auf dem Rasen, da fiel das 3:1 für die Franzosen. Und ich dachte: „Vielleicht wäre ich besser auf der Bank sitzen geblieben…“
Platini: …das wäre definitiv besser gewesen. (Beide lachen.)
Rummenigge: Aber Derwall wechselte mich ein – und mir gelang postwendend der Anschlusstreffer. Und als ich zurück zum Anstoßkreis lief, sah ich in den Gesichtern der Franzosen, dass sich etwas verändert hatte. Da war etwas wie … Angst.
Platini: Wir hatten keine Angst. Aber machen Sie sich die Situation klar. Wir konnten nicht mehr auswechseln. Wir hatten Gengheni gegen Battiston ausgetauscht und der lag nun im Krankenhaus. Und die Deutschen brachten erst spät im Spiel Hrubesch und schließlich Kalle aufs Feld – die beiden besten Stürmer in Europa zu dieser Zeit. Und die preschten jetzt auf uns zu, gemeinsam mit Littbarski und Fischer. Und Sie wissen, was passierte, wenn Briegel Fahrt aufnahm? Bei uns standen diesen Spielern Tigana und Giresse gegenüber, die 60 Kilo wogen. Ich beorderte Janvion zu Hrubesch und Lopez zu Rummenigge. Aber es half nichts. Uns fehlte die Erfahrung, um taktisch klug mit dieser Situation umzugehen.
„Mon dieu, Rümmenisch“.
Rummenigge: Angeblich soll Präsident Mitterand das gerufen haben, als er hörte, dass ich eingewechselt werde. Ich weiß nicht, ob es stimmt.
Platini: Das Foto, auf dem sich Mitterand und Kohl auf den Schlachtfeldern von Verdun die Hände reichen, war sehr wichtig für das Verhältnis unserer Länder.
Rummenigge: Viel wichtiger, als alle Fußballspiele zwischen unseren Teams.
Es gibt Philosophen, die glauben, Fußball sei heute die Fortführung kriegerischer Auseinandersetzung mit anderen Mitteln.
Platini: Fußball als Krieg? Das ist Unsinn.
Rummenigge: Absoluter Unsinn. Wir dürfen Fußball nicht so aufladen. Es ist und bleibt ein Spiel – das Spiel, das wir als Kinder auf dem Bolzplatz gespielt haben. Die heutigen Profis sind doch keine Feinde, die kennen sich alle sehr gut, sind teilweise befreundet, weil sie sich in der Champions League ständig treffen.
Platini: Im Übrigen sind für uns Franzosen traditionell die Engländer die viel größeren Rivalen auf dem Rasen, so wie für Euch lange Zeit die Niederländer die größten fußballerischen Widersacher waren.
Rummenigge: Dennoch muss Euch Sevilla lange im Gedächtnis geblieben sein: Als ich Jahre später mal einen Spaziergang am Champs-Elysée machte, erkannten mich einige Passanten. Und weißt Du, was Sie riefen?
Platini: Na?
Rummenigge: Nicht etwa meinen Namen, sie sagten nur: Quatre vingt-deux!
Platini: So alt siehst du gar nicht aus. (Lacht.)
Michel Platini, Sie haben mal gesagt, dass es kein Spiel in Ihrem Leben gibt, das Ihnen emotional mehr gegeben habe als Sevilla 1982.
Platini: Weil die Bandbreite der Empfindungen so groß war. Als Fußballer erleben Sie Siege und Niederlagen, aber 120 Minuten und ein Elfmeterschießen, das Sie durch so unterschiedliche Gefühlswelten trägt, erlebt ein Spieler nur sehr selten. Natürlich war Sevilla für Millionen Franzosen ein Trauma – für mich aber war es eine unvergessliche Nacht, an deren Ende der Glücklichere den Platz als Sieger verließ. Für mich brachte das Spiel auch die Erkenntnis, dass wir endlich eine große Mannschaft haben. Ein Erweckungserlebnis des französischen Fußballs. Ohne dieses Spiel wären wir zwei Jahre später nicht Europameister geworden und es hätte bei uns nie einen Fußball-Boom gegeben, der sich bis in die Gegenwart auswirkt.
Welchen Platz nimmt das Spiel in Ihrer Karriere ein, Karl Heinz Rummenigge?
Rummenigge: Vielleicht waren es die besten 23 Minuten, die ich in meiner Laufbahn gespielt habe. Und: Es war ein Wendepunkt! Danach führte die FIFA flächendeckend eine K.O.-Runde bei der WM ein, es war das Ende der zweiten Gruppenphase. Die Weltmeisterschaft in Spanien war bis dato nicht besonders hochklassig, aber nach dem Match sagte jeder: Das wollen wir sehen. Ein historisches Spiel, so wie das „Jahrhundertspiel“ 1970 zwischen Deutschland und Italien. Jeder Profi möchte in seiner Karriere Teil eines solchen Matches sein.
Platini: Ich sprach mit Franz Beckenbauer über das Halbfinale von 1970. Er sagte, bis auf die Verlängerung war es ein langweiliges Spiel. Sevilla aber war in jeder Hinsicht ein großes Duell.
Alain Giresse sagt, er kann die „Nacht von Sevilla“ nur bis zu Rummenigges Einwechslung anschauen. Patrick Battiston traute sich erst 2014, die Aufzeichnung noch einmal anzusehen. Schauen Sie sich noch alte Spiele an?
Platini: Nein.
Rummenigge: Ich schaue mir gern Niederlagen an.
Platini: Er kann das sagen, er hat ja nicht so viele große Spiele verloren.
Rummenigge: Niederlagen sind zwar bitter, aber sie bringen einen Fußballer zurück auf den Boden – und sie gehören zum Fußball dazu. Jedes Jahr im Sommer schaue ich mir in meinem Ferienhaus die Niederlage des FC Bayern im „Finale dahoam“ 2012 an – und jedes Mal entdecke ich neue Aspekte.
Klingt sehr rational.
Rummenigge: Und ich erinnere mich, wie Pierre Littbarski nach der Finalniederlage 1982 gegen Italien weinend in der Kabine saß und ich zu ihm sagte: „Litti, hör auf zu heulen, es bringt nichts. Du musst akzeptieren, dass wir heute keine Chance hatten.“
Platini: Auch weil ihr nach dem Halbfinale erst um sechs Uhr morgens im Bett wart.
Rummenigge: Nach dem Elfmeterschießen gegen Frankreich war bei unserem Flugzeug ein technisches Problem aufgetreten. Daher konnten wir erst um vier Uhr morgen nach Madrid zurückfliegen. Als ich dort gegen sechs Uhr morgens eingeschlafen war, wurde ich gleich wieder von Lärm vor meinem Fenster geweckt. Direkt unter meinem Fenster im ersten Stock gab Toni Schumacher eine Pressekonferenz. Und als ich hörte, was er erzählte, dachte ich nur: „Oh, Toni, lass es bleiben…“
Platini: In der Nacht hat er bestimmt kein Auge zugemacht.
Sie haben den europäischen Fußball nach der aktiven Laufbahn auch auf offizieller Ebene geprägt: Karl-Heinz Rummenigge ab 2008 neun Jahre lang als Chef der European Club Association (ECA) und Michel Platini seit 2007 als UEFA-Präsident.
Platini: Und wir haben uns in diesen Funktionen gut ergänzt. Weil ich denke, dass bei unseren Entscheidung stets im Vordergrund stand, was dem Fußball hilft und ihn voran bringt.
Meinen Sie Fußball als Spiel oder Fußball als Geschäft?
Rummenigge: Nur wenn die Qualität des Produkts stimmt, nützt es auch dem Geschäft. Und da befinden wir uns momentan in einigen Bereichen auf dem falschen Weg.
Was meinen Sie?
Rummenigge: Es kann nicht sein, dass wir Dinge einführen, die geschäftlich attraktiv erscheinen, aber das Produkt verwässern. Schauen Sie sich die Europameisterschaft an. Als Deutschland 1972 den Titel gewann, nahmen vier Teams am Turnier teil. Als ich 1980 die EM holte, waren es acht. Inzwischen treten 24 Mannschaften dort an – und wenn es so weiter geht, bekommen demnächst alle 55 europäischen UEFA-Mitgliedsverbände einen Startplatz.
Platini: Das größte Problem ist, dass die Vereine immer mehr Geld benötigen, um sich die besten Spieler leisten zu könnten. Ich glaube, da liegt das Kernproblem des Fußballs. Beim Bosman-Urteil ging es darum, dass ein Spieler, dessen Vertrag ausläuft, in der Wahl seines Arbeitsgebers und ‑ortes frei ist. Die negative Begleiterscheinung des Urteils aber war, dass die Profis nun grenzüberschreitend frei zirkulieren und sich reiche Vereine theoretisch die elf besten Spieler der Welt zu einem Team zusammenkaufen können. Das ist schlecht! Denn so steigt die Berechenbarkeit des Spiels. Deswegen war es stets mein Anliegen als UEFA-Präsident, allen Vereinen die Chance zurückzugeben, die Champions League zu gewinnen. Das ist nicht einfach, aber es muss unser Ziel sein.
Sonst?
Platini: Werden die Leute irgendwann nicht mehr zum Fußball gehen, weil sie schon ahnen, wer gewinnt.
Rummenigge: Die europäische Politik hat uns hier einen Bärendienst erwiesen. Als Michel versuchte, Financial Fairplay einzuführen, waren wir oft in Brüssel, um uns für Salary Caps einzusetzen. Aber der Europäische Gerichtshof wollte nicht verstehen, wie das Bosman-Urteil die Fußballwelt verändert hat und dass Spieler längst irrational hoch bezahlt werden.
Dennoch plädieren Sie für die Einführung der europäischen Superliga.
Rummenigge: Stimmt nicht! Die Idee zur Gründung einer solchen Liga stammt von einigen Klubvertretern aus Südeuropa. Wir hatten noch vor zwei Jahren ein Meeting in Barcelona, bei dem ich irgendwann in die Runde fragte: „Gentlemen, glauben Sie wirklich, die Menschen da draußen warten sehnsüchtig auf diese Superliga?“ Alle blickten mich mit großen Augen an. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass so ein Projekt alle nationalen Ligen beschädigen würde. Denn alle würden von heute auf morgen nur noch zweitklassig sein. Aber viele Vereine verfolgen zu sehr ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen. Wie Michel schon sagte, es ist wichtig, dass wir das Spiel im Fokus behalten.
Sie meinen also, es wird am Ende nichts mit der Superliga?
Rummenigge: Ich vermute, dass diese Liga eines Tages kommen wird. Aber fragen Sie mich nicht, wann. Ich bin froh, dass die Gründung nicht mehr in meine Verantwortung als Chef der ECA fällt. Bei meiner Abschiedsfeier 2017 habe ich zu Herrn Čeferin und zu Herrn Infantino gesagt, dass wir einen gesunden Mittelweg unter den Vereinen brauchen – aber auch genug Geld für die Top-Klubs, denn sie sind der Motor des gesamten Fußballs.
Michel Platini, was sagt Ihr Bauchgefühl zur Superliga?
Platini: Mein Bauchgefühl sagt: Ich habe Hunger! (Lacht.)
Rummenigge: Michel, wir haben eine gute Küche im Haus.
Platini: Wir brauchen keine private, geschlossene Liga, mal ganz davon abgesehen, dass die europäischen Gesetze eine private Liga bislang nicht zulassen. Wir brauchen mehr Chancengleichheit unter den Vereinen. Denn wir haben bereits das Problem in allen großen Ligen, dass nach spätestens fünf Spieltagen überall dieselben Vereine dominieren, die seit Jahren oben stehen. Die Fans verstehen das nicht mehr. Das wird ein Problem werden.
Das heißt?
Platini: Ich weiß nicht, ob es die FIFA oder die UEFA in einigen Jahren in der bisherigen Form noch gibt.
Rummenigge: Die Klubs sind heute viel besser gemanagt als vor zehn oder zwanzig Jahren – und die Vereine werden noch deutlich an Bedeutung und Einfluss hinzugewinnen.
Platini: Bedenken Sie, dass der UEFA-Präsident bislang nicht von den Vereinen, sondern von den Nationalverbänden gewählt wird.
Rummenigge: Aber ein Rückzug aus der UEFA würde bedeuten, den Frieden in der Fußballfamilie zu beschädigen. Und die Loyalität und Harmonie in dieser Familie hat bislang immer noch dazu geführt, dass wir gemeinsame Lösungen gefunden haben.
Karl Heinz Rummenigge, fehlt Ihnen Michel Platini in der Spitze der UEFA?
Rummenigge: Wir hatten auf und abseits des Rasens stets ein gutes Verhältnis. Und ich stimme mit Michel überein, dass wir Entscheidungen stets im Sinne des Fußballs getroffen haben.
Platini: Wir haben getan, was wir tun mussten. Kalle war stets ein guter Partner. Nun müssen andere Leute die Entscheidungen treffen – und Lösungen finden.
Fällt es Ihnen wirklich leicht loszulassen, Michel Platini?
Platini: Ich bin kein Journalist. Ich spreche nicht über Dinge, die aus meiner Sicht getan werden sollten, sondern über Dinge, die ich tun kann. Als ich Präsident war, habe ich Dinge entschieden, die ich für richtig hielt, denn ich war der Boss. Nun bin ich nicht mehr in der Situation zu entscheiden, also ist es besser, nicht darüber zu sprechen, was ich täte, wenn ich es könnte.
Zurück zum Fußball: Sind die Deutschen der Schatten, der über Ihrer aktiven Laufbahn liegt? Sie verloren zwei WM-Halbfinals gegen die DFB-Elf und 1983 mit Juve auch das Landesmeistercup-Endspiel gegen den HSV.
Platini: Aber ich habe das EM-Finale 1984 gegen Spanien gewonnen und ein Jahr später gegen Liverpool den Europapokal. Und wir haben den HSV mit St. Etienne im Volksparkstadion 1980 mit 5:0 besiegt.
Punkt für Sie.
Platini: Verloren habe ich nicht gegen die Deutschen, sondern gegen sehr gute Mannschaften. Und ich habe ein wesentlich größeres Problem mit deutschen Politikern als mit deutschen Fußballern. Denn deutsche Politiker haben dafür gesorgt, dass ich aktuell nicht im Fußball sein darf. (Lacht.)
Dennoch tut die Halbfinalniederlage bei der WM 1986 bis heute weh.
Platini: Wenn sie ein Spiel verlieren, das sie nicht verlieren müssen, ist oft der Schiedsrichter Schuld. So war es 1986. Bei dieser WM hatten wir es verdient, ins Finale zu kommen. Wir hatten Italien und Brasilien besiegt, aber im Halbfinale hatten wir einen schlechten Tag.
Schicksal.
Platini: Wir Franzosen konnten damals ein Spiel nur gewinnen, wenn wir wirklich, wirklich gut spielten. Die Deutschen mussten nicht zwingend gut sein, um am Ende zu gewinnen. Das war das Problem meiner Generation.
Sie hadern schon ein bisschen.
Platini: Bei Turnieren geht es nur um den Pokal. Es sind Zufälle, die entscheiden. Wenn der Referée 1982 Schumacher vom Platz gestellt hätte, wäre das Spiel anders verlaufen. Und 1986 habe ich ein Tor zum Ausgleich geschossen, aber der österreichische Linienrichter – kein Deutscher, aber ein halber – entschied auf Abseits. Das sind Momente, die bei Spielen zwischen großen Teams entscheiden.
Kurz bevor das Halbfinale 1986 endet, kommen Sie einen Augenblick zu spät, um vor Schumacher den Ball ins Tor zu schieben. Als er vor Ihnen am Boden liegt, deuten Sie mit dem Fuß an, dass Sie ihm am liebsten treten würden.
Platini: Ich erinnere mich. Ein dumme Aktion! Aber ich war so enttäuscht. Einer dieser Momente, in dem einem bewusst wird: Es war alles umsonst, weil sich alles gegen uns verschworen hat. Gegen Deutschland hatte ich dieses Gefühl leider oft.
Dabei beteuerte Teamchef Franz Beckenbauer mehrfach, dass er gar nicht verstehen könne, wie der DFB-Kader 1986 soweit kommen konnte.
Rummenigge: Franz war wirklich lustig. Ich war damals Kapitän und er kam abends öfter zum Reden auf mein Zimmer. Vor dem Viertelfinale gegen Mexiko sagte er: „Wenn wir uns da gut verkaufen und ausscheiden – kein Problem.“ Und wir besiegten Mexiko in einem schwachen Spiel im Elfmeterschießen. Vor dem Match gegen Frankreich sagte er: „Mit der Mannschaft ins Halbfinale – mehr geht nicht! Unter normalen Umständen haben wir gegen die Franzosen keine Chance!“ Aber das Spiel lief von Beginn an in unsere Richtung.
Und Sie erreichten das Finale, wo Sie knapp mit 2:3 gegen Argentinien unterlagen.
Rummenigge: Das Problem war, dass Franz nach dem Halbfinale aufhörte, uns klein zu reden. Nach dem Halbfinalsieg hatten plötzlich alle das Gefühl, dass wir auch Argentinien schlagen können. Er hätte uns ruhig weiter kleinreden sollen, dann wären wir vielleicht Weltmeister geworden. (Lacht.)
Karl Hein Rummenigge, Michel Platini, waren die Franzosen im WM-Halbfinale 2018 gegen Belgien so etwas wie die Deutschen der Achtziger?
Rummenigge: Was meinen Sie?
Hässliche Gewinner?
Rummenigge: Es gibt keine hässlichen Sieger. Wer gewinnt, hat es auch verdient zu gewinnen.
Platini: Unsere heutige Mannschaft ist sehr komplett. Auch eine Folge der Entwicklung, die wir in den Achtzigern angestoßen haben. In Belgien sind sie noch nicht so weit.
Rummenigge: Belgien war gut, aber Frankreich war besser. Wenn Sie jeden einzelnen Spieler vergleichen, hatte Frankreich die Nase um fünf Prozent vorn. Und das macht in diesen Spielen den Unterschied.
Platini: Deutschland ist seit 1954 in der Lage, auf der großen Bühne Spiele für sich zu entscheiden. Frankreich seit 1982. Und Belgien eben erst seit acht oder zehn Jahren.
Letzte Frage: Inwieweit erkennen Sie noch den aktiven Spieler wieder, wenn Sie sich jetzt gegenüber sitzen?
Platini: Wir haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Ich wollte nach meiner Zeit als Nationaltrainer nicht mehr in einem Klub arbeiten, ich wollte den politischen Weg einschlagen und Fußball auf anderer Ebene prägen. Das bedeutet, dass ich samstags und sonntags andere Dinge mache als Kalle. Als Bayern gegen Chelsea 2012 das Champions-League-Final verlor, spielte das Geschehen auf dem Rasen für mich eine untergeordnete Rolle. Ich hoffte, dass die Veranstaltung gut läuft und sich 80 000 Fans im Stadion wohl fühlen. Es war keine Frage von Gewinnen oder Verlieren mehr.
Rummenigge: Aber im Fußball ist auch nicht immer entscheidend, dass man gewinnt.
Sondern?
Rummenigge: Dass den Menschen im Gedächtnis bleibt, wie ein Spiel gelaufen ist.
Platini: Und dass wir uns auch in Zukunft fragen, wer den Rasen am Ende als Sieger verlässt.