Stehplätze in englischen Fußball-Stadien? Bisher war das undenkbar, doch jetzt senden Politiker erste Signale, die Sache untersuchen zu wollen. Und die Fankultur braucht dringend neuen Schub.
Im Grunde sind die Dinge so banal, dass es sich eigenartig anfühlt, sie näher zu beschrieben: „Rail Seats“, das sind Klappsitze, die in vielen deutschen und europäischen Fußballstadien seit Jahren verwendet werden. Man kann sie nach oben klappen, dann bieten sie genug Platz, um bequem davor zu stehen. Man kann sie aber auch nach unten klappen, und dann kann man darauf sitzen. Sollte der Anlass es vorschreiben, wie zum Beispiel bei Spielen in der Europa- oder Champions League, dann können die Sitze auch in heruntergeklappter Position arretiert werden.
Neuer Ton in der Debatte
Diese praktische Art der Stadion-Bestuhlung dominiertin dieser Woche die Schlagzeilen der englischen Sportpresse. Aus gutem Grund. Denn die Regierung hat ihre theoretische Bereitschaft angedeutet, das sogenannte „Safe Standing“ auf Basis solcher „Rail Seats“ auch in englischen Stadien zuzulassen. Und gemessen am bisherigen Ton in der Debatte ist das nahezu bahnbrechend.
Warum? Weil in Englands Fußball-Stadien der ersten beiden Ligen, also Premier League und Championship, Stehplätze seit 25 Jahren verboten sind – eine Reaktion der damaligen Thatcher-Regierung auf das Desaster von Hillsborough im April 1989.
Jeder Versuch, der für die Stadion-Sicherheit zuständigen Behörde „Sports Grounds Safety Authority“ ein Zugeständnis zu entlocken, wurde in den vergangenen Jahren mit dieser vorgefertigten Antwort abgebügelt: „Die Regierung hat nicht die Absicht, ihre Position zu ändern und Stehplätze einzuführen in Stadien, die der Vorschrift unterliegen, ausschließlich Sitzplätze anbieten zu dürfen.“
Mehr als 100.000 Unterschriften
Jetzt aber sendet das Ministerium der konservativen Sportministerin Tracey Crouch auf einmal ganz andere Signale. Man werde das Thema „Safe Standing“ einer grundlegenden Überprüfung unterziehen, hieß es zu Beginn der Woche. Man stehe deswegen auch schon im Austausch mit Vertretern der Premier League und der Football League, unter deren Dach die Ligen zwei bis vier ausgetragen werden, sowie einzelnen Fangruppierungen. Und: Am 25. Juni werde Crouch das Thema ganz offiziell im Parlament zur Debatte stellen. Es heißt, die Labour Party wolle sich dann für eine entsprechende Anpassung des Gesetzes stark machen.
Dabei hatte Crouch einen Vorstoß des Premier-League-Absteigers West Bromwich Albion kurz zuvor abgelehnt, in dessen Stadion zu Versuchszwecken 3.600 „Rail Seats“ zu montieren. Zur Begründung hieß es im April, es sei nur eine „lautstarke Minderheit“, die sich für Stehplätze einsetze. Die großen Klubs hätten „keinerlei Verlangen“ danach. Dass die Tottenham Hotspur, Crouchs Lieblingsklub, beim Design ihres Stadion-Neubaus die mögliche Einführung von „Rail Seats“ schon eingeplant haben – geschenkt!
Sinneswandel
Die englische „Times“ schrieb angesichts dieses Sinneswandels jetzt von einem „ersten signifikanten Kurswechsel“ der Regierung seit der Einführung des Stehplatz-Verbotes. Die „BBC“ sprach in einem Bericht von einer „fundamentalen“ Entwicklung – und der „Mirror“ sogar schon vom „Durchbruch“ der sicheren Stehplätze.
Der Grund für die Kurskorrektur dürfte auch eine Online-Petition für die Einführung von Stehplätzen in englischen Fußball-Stadien der ersten beiden Ligen sein. Stand jetzt haben sie rund 112.000 Fans unterzeichnet. In einer Umfrage der Football League gaben zudem 94 Prozent der 33.000 Befragten an, dass sie die Wahl haben wollen, ob sie den Fußball im Sitzen oder im Stehen erleben wollen. Von wegen „lautstarke Minderheit“.
Mehr Sicherheit
Die „BBC“ zitierte in der Sache eine Quelle aus Regierungskreisen: „Die Sicherheit der Fans hat oberste Priorität. Allerdings sehen wir ein, dass sich Technologie und Stadion-Design seit der Einführung des Stehplatz-Verbotes weiterentwickelt haben. Es ist an der Zeit, sich die Sache anzuschauen.“ Es müssten alle Fakten und verschiedene Sichtweisen „extrem sorgfältig“ betrachtet werden.
Die Football Supporters‘ Federation (FSF), die seit Jahren für die Einführung von „Safe Standing“ kämpft, argumentiert ihrerseits auch mit der Sicherheit der Fans – nur eben anders herum: Dass nämlich Fans mit „Rail Seats“ sicherer seien als ohne.
Die Fans hatten keine Schuld
Denn schon heute stehen die Fans bei vielen Spielen des englischen Fußballs hinter niedrigen Sitzschalen, was zum Beispiel bei einem wilden Torjubel gefährlicher sein dürfte, als wenn sie stattdessen hinter hüfthohen Wellenbrechern stünden, wie es bei „Rail Seats“ der Fall wäre. Überhaupt seien die modernen Arenen heute schon von ihrer Konzeption her deutlich sicherer als die vor sich hinvegetierenden „Terraces“ der 70er- und 80er-Jahre.
Hinzu kommt, dass nach dem Hillsborough-Desaster 1989 die Schuld offiziell den angeblich marodierenden Liverpool-Fans auf den Stehplätzen gegeben worden war – mit eifriger Mithilfe der Boulevard-Postille „The Sun“. Heute weiß man, dass es die schludrige Polizeiarbeit war, die damals 96 Menschen das Leben kostete und wegen der mehr als 700 weitere sich zum Teil schwer verletzten. Den Verantwortlichen wird der Prozess gemacht, der Mythos ist entlarvt. Nur: Am Verbot der Stehplätze hat das bis heute, fast drei Jahrzehnte nach dem Desaster, nichts geändert.
Jon Darch, der seit Jahren mit einer Mini-Stahlröhren-Tribüne quer durch das Land reist, um für die „Rail Seats“ zu werben, glaubt, dass es nun bald so weit sein könnte. Dass die Politik ihre grundsätzliche Bereitschaft signalisiert, das Thema neu zu beurteilen, führt er auf die Arbeit der FSF zurück – „es zeigt, dass sie den Druck spüren“.
Und der kommt heute nicht mehr „nur“ von den Fans, sondern auch von den Klubs und den Ligen. Denn die begreifen allmählich, dass die Sitzvorschrift in Kombination mit teuren Eintrittskarten eine junge Generation von Fußballfans aus den Stadien vertrieben hat.
Englischer Fußball ist jungen Fans zu teuer
Zum ersten Mal hat die „BBC“ in der vergangenen Saison im Rahmen ihrer jährlichen „Price of Football“-Studie zusätzlich eine Umfrage unter jungen Erwachsenen durchgeführt. Konkret hat sie 1000 Fans zwischen 18 und 24 Jahren befragt. Vier von fünf (82 Prozent) gaben dabei an, wegen zu teurer Eintrittspreise nur noch selten ins Stadion zu gehen – wenn überhaupt.
Aus den Statistiken der Premier League geht außerdem hervor, dass in der Saison 2017/18 gerade mal vier Prozent der neu verkauften Dauerkarten an junge Erwachsene gingen. Das durchschnittliche Alter derer, die in den Stadien saßen, lag demnach bei 41 Jahren.
Die Premier League braucht neue Zuschauer
Noch muss das Klubs und Liga nicht nervös machen: Die Stadien sind voll, die Auslastung lag in der abgelaufenen Saison im dritten Jahr in Folge bei mehr als 96 Prozent. Für die Premier-League-Klubs sind die Einnahmen an den Drehkreuzen ohnehin zu einem Taschengeld verkümmert. Das große Geld kommt längst aus der TV-Vermarktung; bei manchen Klubs macht das Fernsehgeld heute um die 70 Prozent der gesamten Einnahmen aus.
Ein Problem könnte es aber auf lange Sicht werden. Denn ob eine Generation von Fans, die nicht mehr mit der Gewohnheit aufwächst, den Fußball im Stadion zu erleben, zur nächsten Generation der Dauerkarteninhaber heranwächst, ist mindestens zweifelhaft. Und die Premier League benutzt die angeblich so berauschende Atmosphäre in ihren Stadien zur weltweiten Vermarktung ihres Premium-Produktes – muss nun aber einsehen, dass die in Wirklichkeit oft anders ist.
Ein Schub für Englands Fankultur
Und nun wirkt es so, als könnten Stehplätze in den englischen Fußball zurückkehren. Ob damit die Ticketpreise sinken würden, muss bezweifelt werden: In Schottland, wo der Celtic FC solche Plätze bereits vor zwei Jahren eingeführt hat, ist die Nachfrage bei den Fans riesengroß – und die bestimmt bekanntlich den Preis. Aber es würde den Stadionbesuch für viele wieder attraktiver machen.
England hat die Chance, seiner oftmals etwas dösigen Fankultur einen gewaltigen Schub zu verleihen. Und dazu braucht es nur ein paar Klappsitze – so banal das auch klingen mag.