Herr Amerell, bei Sunderland gegen Liverpool entschied ein im Strafraum herumliegender Strandball das Spiel. Ist Ihnen in Ihrer Karriere so etwas mal passiert?
Eine heiße Szene! (lacht) Mir selbst ist so etwas noch nie passiert. Außerdem: Wenn ein deutscher Schiedsrichter mal eine falsche Abseitsentscheidung trifft, gibt es sechs Standbilder, es wird sofort geschimpft und man fordert, dass englische Schiedsrichter auch hier eingesetzt werden. Und jetzt so eine Szene! Da bin ich wirklich heilfroh, dass unsere Qualität so hoch ist.
Der Ball veränderte merklich die Richtung. Wie hätte sich Schiri Mike Jones Ihrer Meinung nach verhalten sollen?
Da gibt es gar keine Diskussion. Es muss Schiedsrichterball geben. Genau so, als wenn ein Zuschauer aufs Feld rennt. Stellen Sie sich vor, bei einem Amateurspiel ragt ein Baum über der Eckfahne ins Feld und der Ball wird dagegen geschossen. Das ist ein Gegenstand, der nicht zum Spiel gehört.
Hätte der Schiedsrichter die Partie bereits vorher unterbrechen und den Ball vom Spielfeld entfernen müssen?
Wenn der Unparteiische ihn vorher bemerkt, wird das Spiel unterbrochen, der Gegenstand wird beseitigt, und es gibt an dem Punkt Schiedsrichterball, wo sich der Ball zum Zeitpunkt der Unterbrechung befand.
Wie bewerten Sie diesen konkreten Fall?
Ein Tor zu geben, wenn das Ganze in einem Angriffszug passiert und ein Torschuss abgelenkt wird – das passiert normalerweise nicht mal in der Kreisliga!
Eine eindeutige Sache also?
Regeltechnisch ein eindeutiger Fall, das weiß jeder Schiedsrichter, der Kreisklasse pfeift, ja sogar jeder Fan. Wenn der Ball abgelenkt wird, kann man ja nicht einfach sagen: Pech gehabt! Wenn zwei Bälle im Spiel sind, was oft genug passiert, wird ja auch unterbrochen und einer entfernt.
Vor einigen Monaten sorgte beim UEFA-Cup-Halbfinale zwischen Hamburg und Bremen die berühmte Papierkugel für Diskussionen. Hätte es demzufolge nicht auch damals Schiedsrichterball geben müssen?
In der Wahrnehmung des Schiedsrichters hat der Gegenstand nicht entscheidend auf das Spiel eingewirkt. Erst nach etlichen Zeitlupen und Großaufnahmen konnte man die Papierkugel sehen.
Muss es eine Torraumszene sein, damit ein ergebnisrelevanter Einfluss entsteht?
Nein. Ob es ein Torschuss ist oder nicht, ist völlig wurscht, das kann auch eine Mittelfeldaktion sein. Der Schiedsrichter unterbricht das Spiel dann, wenn in seiner Wahrnehmung ein direkter Einfluss gegeben ist.
In der Zeitlupe konnte man damals den direkten Einfluss aber recht gut erkennen…
Die Zeitlupe hat der Schiedsrichter aber nicht! Er trifft die Tatsachenentscheidung ausgehend von seiner persönlichen Wahrnehmung.
Geht die Szene vom Wochenende in die Schulung deutscher Schiedsrichter ein?
Wir haben ein internes Portal, dort werden die wichtigsten Entscheidungen des Wochenendes gezeigt und diskutiert. Wir stellen die Szene aber nicht ein, um einen englischen Schiedsrichter zu diskreditieren, sondern um eine Entscheidung zu zeigen, die nachweislich falsch ist.
Hätte der viel diskutierte Torrichter hier etwas gebracht?
Momentan ist der Torrichter bei der UEFA noch in der Testphase. Deswegen werten wir das nicht. Was am Ende dabei herauskommt, wird man sehen. Bei den Spielen, in denen Torrichter bislang eingesetzt wurden, passierte ja nicht viel Entscheidendes.
Der Torrichter hätte den Schiedsrichter doch immerhin darauf hinweisen können, dass der Ball von dem Aufblasball abgelenkt wurde.
Wenn der nicht ganz blind ist, sieht er das ja selber! Ansonsten muss er wenigstens regeltechnisch Bescheid wissen, wie er zu verfahren hat, wenn ein Gegenstand aufs Spielfeld gelangt und das Spiel beeinträchtigt. Ein Kreisliga-Schiri ohne Assistenten muss das ja auch können. Da brauche ich keinen vierten oder fünften Offiziellen mit Headset, sondern schlicht zwei Augen und gesunden Menschenverstand.
Hätte Schiri Jones das Tor nachträglich aberkennen können?
Er kann die Torentscheidung, auch nach Konsultation mit seinen Assistenten, solange zurücknehmen, bis der Anstoß ausgeführt ist. Wenn der Schiedsrichter sich mit seinen Assistenten beraten haben sollte, kann man nur sagen, dass sie alle zusammen einen Nachhilfekurs in Regelkunde besuchen müssten.
Wäre die Sache ebenso klar, wenn der Strandball nicht getroffen worden wäre, sondern nur im Strafraum gelegen hätte?
Der Schiedsrichter kann entscheiden, ob der Strandball für die Szene relevant war oder nicht. Aber wenn sich der Gegenstand mitten in der Angriffsszene befindet, muss er das Spiel natürlich sofort unterbrechen.
Und wie sieht es aus, wenn der Spielball statt den Strandball den Schiedsrichter selbst getroffen hätte?
Der Schiedsrichter ist Luft! Wenn der Spieler dem Schiedsrichter den Ball an die Birne schießt und er von dort ins Tor geht, hat er einen Volltreffer gelandet… (lacht)
Manfred Amerell (62) ist Mitglied im Schiedsrichterausschuss des DFB.