1971 wird Rudi Gutendorf Trainer in Peru. Aus einer Mannschaft, die besser saufen, als Fußball spielen kann, formt er eine Einheit. Zum Dank wird er fast vergiftet.
Wir befinden uns im Jahr 1971. Ich steige in Lima aus dem Flugzeug, in denselben Klamotten in denen ich bei den Offenbacher Kickers meine letzte Pressekonferenz hielt. Mein neues Zuhause ist nun Peru. Ich taumele von einer Einladung zu anderen. Die Müdigkeit nach dem 20-stündigen Flug hängt wie Blei in meinen Beinen. Mir bleibt kaum Zeit die Koffer auszupacken. Noch wohne ich im besten Hotel der Stadt, vom Club gemietet und bezahlt. Eine Woche später: Routine wie immer, Umzug in ein nettes Häuschen. Möbelkauf auf Kosten des Clubs, vertraglich vereinbart. Ansätze von Wärme und Hoffnung.
„Ich muss den Viechern sofort zeigen, wer der Chef in der Manege ist!“
Die ersten Tage bei einem neuen Verein sind für einen Trainer ungeheuer wichtig. Manche Kollegen spielen den starken Max, lassen auf Teufel komm raus Kondition Bolzen. Sie lächeln erst zufrieden, wenn die Spieler keuchend und röchelnd am Boden liegen. Das hat nichts mit Sadismus zu tun. Dahinter verbirgt sich vielmehr die Angst des Dompteurs vor der ersten Raubtier-Nummer: „Ich muss den Viechern sofort zeigen, wer der Chef in der Manege ist!“ Lässt man sich gleich das Heft aus der Hand nehmen, bekommt man es nie wieder. Heutzutage sind die Fußballer fast alle Jungunternehmer, die mit Bauherrenmodellen jonglieren und die Aktienkurse genauso im Kopf haben wie Tabellenplätze. Da wirkt ein Feldwebeltyp wie eine Karikatur von anno dazumal. Ich habe schon immer sturen Drill und Kasernenhof Manieren abgelehnt. Im Prinzip. Aber was hilft das edelste Prinzip, wenn man nach Peru kommt und dort nur auf einen Haufen lustloser Ball- und Lebenskünstler trifft? Mein neuer Arbeitgeber heißt Cristal Lima, der von einer gleichnamigen Brauerei finanziert wird. Leider mögen auch meine Spieler das Bier lieber, als stürmen oder verteidigen. Trotzdem gilt Cristal als der Krösus der Liga, der FC Bayern von Peru sozusagen.
Mein Vorgänger als Trainer war der frühere Weltklassespieler Didi, der Brasilianer ist fast so berühmt wie Pele und hat um läppische zwei Punkte die Meisterschaft verpasst. Sehr bald weiß ich, warum die Brauereidirektoren ein Mann aus Deutschland geholt haben. Uns geht der Ruf als Zuchtmeister voraus und eine Knute haben meine alternden Stars schmerzhaft nötig. Die Moral in der Mannschaft ist verkommen. Die Spieler lassen sich von ihren Fans vergöttern, treiben sich nachts in Spelunken, Bordellen, aber auch in feinen Restaurants herum. Die gesamte Vergnügungsindustrie bewirtet sie gratis und gewährt Ihnen „Freistöße“, so oft sie wollen. Superstars wie Alberto Gallardo oder Ramon Mifflin zu bedienen, ist eine Ehre und gute Reklame zugleich. Gallardo hält man seit der WM 1970 in Mexiko für den besten Linksaußen Südamerikas.
Die Söhne der Inkas sträuben sich gegen die ihnen völlig fremde Schinderei
Doch seit der WM hat er kaum noch trainiert und begnügt sich damit, zwei‑, dreimal im Spiel seine Show abzuziehen. Den Gegner ins Leere rutschen zu lassen, ihn auszutanzen, schon johlt das Volk und Gallardo hat seine Pflicht getan. Ebenso wie Mifflin bleibt er in 80 von 90 Minuten unsichtbar. Die Kunst des Sichversteckens beherrschen beide exzellent. Sie haben es nötig, denn sie haben den Antritt von Kühlschränken und die Beweglichkeit von Bierfässern. So gesehen, passen sie fantastisch zu dem Brauerei-Verein. Ich serviere ihnen jedoch vom ersten Tag an Bundesliga-Training in Reinform: Kopfballpendel, Sprungseile und Bleijacken. Die Söhne der Inkas sträuben sich gegen die ihnen völlig fremde Schinderei. Wenn ich Ihnen die Stoppuhr unter die Nase halte und ihre Zeiten in meine Liste übertrage, schütteln sie ungläubig den Kopf. Beim morgendlichen Dauerlauf trabe ich vornweg, während die Truppe hinter mir her bröckelt, wie Streusel vom Kuchen. Gallardo ist der Sprecher der Mannschaft, er kommuniziert ausdauernd mit der Presse, dem Vorstand und dem Präsidenten, der zugleich Minister in der Militärregierung ist. Gallardo dürfte dabei kaum Nettigkeiten über mich verbreiten. Aber der Erfolg gibt mir recht: Nach einem klaren Sieg lobt die Zeitung „Ultima Hora“, der deutsche Trainer „El Rocco“ (der Felsen) hätte aus Cristal einen „deutschen Panzer“ geschmiedet.