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11FREUNDE WIRD 20!

Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fuß­ball­kultur: Am 23. März erschien​„DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den ein­drucks­vollsten Bil­dern und skur­rilsten Anek­doten aus zwei Jahr­zehnten 11FREUNDE. In unserem Jubi­lä­ums­band erwarten euch eine opu­lente Werk­schau mit unzäh­ligen unver­öf­fent­lichten Fotos, humor­vollen Essays, Inter­views und Back­s­­­tages-Sto­­­ries aus der Redak­tion. Beson­deres Leckerli für unsere Dau­er­kar­ten­in­haber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notiz­buch oben­drauf. Hier könnt ihr das Buch be­stellen. Außerdem prä­sen­tieren wir euch an dieser Stelle in den kom­menden Wochen wei­tere spek­ta­ku­läre Repor­tagen, Inter­views und Bil­der­se­rien. Heute: Eine Repor­tage über Fuß­ball­sta­tis­tiker.

11 Freunde Das große 11 Freunde Buch Kopie

Ende der Neun­ziger herrschte Gold­grä­ber­stim­mung. Mit einem Mal lag alles vor ihnen, wonach sie seit Jahren in ver­staubten Archiven, alten Tages­zei­tungen oder antiken Büchern auf Floh­märkten gewühlt hatten: Resul­tate, Tor­schützen, Tabellen, Auf­stel­lungen, Aus­wechs­lungen, Halb­zeit­stände, Schieds­richter und Zuschau­er­zahlen. Nur ein paar Klicks und sie wussten, wie viele Tore Muhammad Al-Azazy vom Klub Zohra Sanaa in der Saison 1994/95 in Jemen schoss, wann Sitora Buxoro in die zweite usbe­ki­sche Liga auf­stieg oder wer den Coupe des Nations“ gewann, der 1930 als Gegen­ver­an­stal­tung zur kri­tisch beäugten WM in Genf aus­ge­tragen wurde.

All das lag vor ihnen auf einer ein­zigen omi­nösen Inter­net­seite, die umständ­lich Rec.Sport.Soccer Sta­tistic Foun­da­tion“ hieß. Sie wurde gefüt­tert von Män­nern aus Ägypten und Alba­nien, aus Uru­guay oder den Male­diven, von ein­samen Män­nern, die mit dem Internet-Urknall zu einer welt­weiten Gemein­schaft von Frei­zeit-Fuß­ball­sta­tis­ti­kern wurden. Um sie zu ver­stehen, kann man sich etwa die Geschichte von Iordan Tsirov erzählen lassen, einem heute 28 Jahre alten Wirt­schafts­wis­sen­schaftler aus Sofia.

Im Sommer 1999 bekam Iordan Tsirov zu seinem 17. Geburtstag einen Com­puter und einen Inter­net­zu­gang geschenkt, und unter dem Ächzen des rie­sigen Appa­rats und dem Surren des Modems tippte er seinen ersten Begriff in die Such­ma­schine: Soccer“. Einige Jahre schon hatte der Bul­gare Sta­tis­tiken von Fuß­ball­spielen zusam­men­ge­tragen, einige fein säu­ber­lich auf Zet­teln notiert, andere mit der Schreib­ma­schine abge­tippt. Hoch im Kurs standen bei ihm seit je Daten von Ama­teur­spielen aus der Pro­vinz Varna im Nord­osten Bul­ga­riens und von seinem Lieb­lings­klub ZSKA Sofia. Wenn ihn Freunde fragten, was ihn daran fas­zi­niere, sagte er: Diese Infor­ma­tionen werden eines Tages sehr wichtig sein.“

Ange­fangen hatte alles mit einem Buch über die WM 1990, das er eines Tages im elter­li­chen Wohn­zim­mer­schrank fand. Die Geschichten waren span­nend“, sagt er, doch erst als ich auf die letzten Seiten blät­terte, war es für mich, als blickte ich durch ein Fenster in eine neue Welt.“ Tat­säch­lich blickte Iordan Tsirov in den Sta­tis­tik­teil des Buches – eine Blei­wüste aus Zahlen und Text. Wochen­lang stu­dierte er die Daten, lernte den Ver­lauf des Tur­niers aus­wendig, kaufte neue Bücher, ver­glich die Tabellen mit­ein­ander und hor­tete Schnipsel aus Sport­zei­tungen. Einigen Freunden, die sich immer mal wieder ungläubig nach seinem Tun erkun­digten, zeigte er das Daten­ar­chiv in seinem Kin­der­zimmer. Es war das, was er sein Hobby nannte.

Nie­mand wusste mehr über die Pro­vinz Varna

Als er aber in jenem Sommer 1999 das Wort Soccer“ in die Such­maske eingab, wurde dieses über­schau­bare Idyll mit einem Mal zer­stört. Das Internet“, sagt Tsirov heute, war für alle Fuß­ball­sta­tis­tiker der Start­schuss zu etwas sehr Großem.“ Der junge Mann ver­brachte die kom­menden Nächte vor dem Bild­schirm. Er wurde bald Mit­glied der Daten­seite Bul­ga­rian Foot­ball Latest“. Tsirov sor­tierte seine alten Daten, digi­ta­li­sierte sie und schickte sie ab. Ein gutes Gefühl, denn nie­mand wusste so viel über die Pro­vinz Varna wie er. Schließ­lich fand er die Rec.Sport.Soccer Sta­tistic Foun­da­tion“ (RSSSF) und schrieb sofort eine Bewer­bung.

Die vir­tu­elle Gemein­schaft RSSSF hat heute über 300 ehren­amt­liche Zulie­ferer und über die Jahre den ver­mut­lich größten Fuß­ball­da­ten­berg der Welt auf­ge­häuft. Seit ihrem Start im Dezember 1994 hat sich die Seite dabei kaum ver­än­dert. RSSSF ist das Abbild einer Welt, die nur aus Text besteht – und genau des­wegen von Daten­samm­lern geschätzt wird. Wäh­rend sich das Internet seit 15 Jahren bei­nahe täg­lich neu erfindet, nun­mehr aber­tau­sende Spiel­filme auf einer ein­zigen Seite Platz finden oder opu­lente Fotos die Bild­schirme füllen, änderte sich bei rsssf​.com eine ein­zige Sache: Man inte­grierte irgend­wann mal ein zwei­far­biges Logo in die rechte obere Ecke des Bild­schirms.

Die Daten vor ihrem Tod retten

Wel­chen Nutzen haben Bilder für Sta­tis­tiken? Warum brau­chen wir Farbe?“, fragt Karel Stok­ker­mans, einer von drei Grün­dern der RSSSF. Der 44-jäh­rige Nie­der­länder hat für Ästhetik nicht viel übrig. Er ist Mathe­ma­tiker, arbei­tete lange an der Uni­ver­sität. Heute lebt er in Saar­brü­cken und pflegt von zu Hause aus eine hol­län­di­sche Daten­bank. Er liebt Zahlen, die Schön­heit der Ord­nung. Das war schon immer so. Als Kind notierte er die Zeiten von Eis­schnell­läu­fern und hef­tete sie ab. Um sie später zu ver­glei­chen“, sagt er, und damit sie nicht ver­lo­ren­gehen.“

Stok­ker­mans drückt die große Sorge des Samm­lers aus, des kon­ser­vie­renden homo coll­ec­tors. Weil manche Dinge der Schnel­lig­keit der Gegen­wart zum Opfer fallen könnten, bewahrt er sie. Wobei Sam­meln, so heißt es jeden­falls in der Kul­tur­theorie, eigent­lich eine Ersatz­hand­lung ist. Der Sammler will etwas ganz anderes als das, was er tut. Er will Macht über etwas sehr Großes aus­üben. Er will sein wie Gott. Weil ihm das aber nicht mög­lich ist, schafft er sich eine Welt in Minia­tur­form, die er beherr­schen kann. Er wird ein kleiner Gott.

Tat­säch­lich gilt Stok­ker­mans bei Hob­by­sta­tis­ti­kern als eben das: ein Gott. Die Sta­tis­tiker in Bul­ga­rien, Süd­afrika oder Thai­land sind sich einig: Stok­ker­mans ist der Sammler, der mit seinem Daten­ar­senal dem Ideal eines Archivs, alles für immer und überall ver­fügbar zu machen, am nächsten kommt. Er tut dies als Idea­list, ohne Geld, für die Sache!“, sagt Iordan Tsirov. Seine Stimme zit­tert, als er davon berichtet, wie ihn eines Tages die Zusage des RSSSF-Grün­ders erreichte. Er genügte den Ansprü­chen. Wel­come!“, schrieb Stok­ker­mans.

Ein Gott will Karel Stok­ker­mans aller­dings gar nicht sein. Er spricht ruhig, bei­nahe schüch­tern. Selbst wenn er von seinen Errun­gen­schaften erzählt, ist da kein Stolz in der Stimme. Bis auf den Moment, als er von ver­schol­lenen Daten der Insel Java berichtet. Java, 1920 noch unter der Flagge von Nie­der­län­disch-Indien, all die Zahlen“, sagt er. Das war gut.“ Er fand sie in einem Doku­ment in der König­li­chen Biblio­thek von Den Haag.

Auch andere Mit­glieder haben Fuß­ball­ge­schichte geschrieben: So fand etwa der 43-jäh­rige Oshe­beng Alphie Koon­ya­ditse, RSSSF-Mit­glied seit 2002, vor einigen Jahren heraus, dass Süd­afrika schon 1910 in Mai­land der FIFA bei­trat – als erstes Mit­glied außer­halb Europas. Der süd­afri­ka­ni­sche Fuß­ball­ver­band über­nahm diese Infor­ma­tionen dankbar auf seiner Web­seite. Stok­ker­mans bekam die Daten zugleich per E‑Mail. Am Ende blieben vier schwarze Zahlen auf rsssf​.com, schmucklos auf­be­reitet in der Schriftart Cou­rier.

Ganz anders tritt der Deut­sche Sport­club für Fuß­ball­sta­tis­tiken e.V. (DSFS) auf, der auf seiner Home­page gerne von großen Erfolgen berichtet. Am Anfang stand Pio­nier Helmut Druwen, der im Juni 1971 über eine Annonce im Kicker“ fünf Mit­streiter fand. Zwei Jahre später zählte der DSFS bereits 23 Mit­glieder, dar­unter befanden sich etliche Männer aus einer pri­vaten über­re­gio­nalen Tipp­ge­mein­schaft. Sie nannte sich hoch­tra­bend Bun­des­liga-Experten-Club (BEC), Mit­glied werden konnte jeder.

Beim DSFS ver­weist man heute stolz auf die Ein­füh­rung eines regel­mäßig erschei­nenden Club­briefs (ein­seitig, DIN A4, ab 1971) und auf die erste große Anschaf­fung im Jahr 1972: ein Umdru­cker, in der Fach­sprache Matri­zen­dru­cker, mit dem man Abzüge in kleinen Auf­lagen her­stellen konnte. Er kos­tete den Verein 184 Mark – finan­ziert wurde er mit den kurz zuvor ein­ge­führten Mit­glieds­bei­trägen (2,50 Mark pro Monat). Im November 1980 folgte die erste Publi­ka­tion, ein 20-sei­tiges DIN-A5-Heft­chen mit dem Titel Der HSV – Erfolgs­bi­lanz eines großen Bun­des­li­ga­ver­eins“.

Der DSFS erfasst Sta­tis­tiken noch in Büchern

1981 ver­öf­fent­lichte der DSFS Die Halb­zeit­bi­lanz der Ama­teur-Ober­liga 1980/81“, der Grund­stein für die Bücher­reihen von mitt­ler­weile über 400 Sta­tis­tik­bänden und vor allem für das jähr­lich erschei­nende Saison-Abschluss­werk des Sta­tis­ti­ker­ver­eins. Früher hieß es Deutsch­lands Fuß­ball in Zahlen“, heute Deut­scher Fuß­ball-Alma­nach“. Hört sich schmis­siger an“, sagt der Ver­eins­vor­sit­zende Dirk Hennig. Der 44-Jäh­rige lebt in Kassel und sam­melt neben Sta­tis­tiken noch Modell­autos, Tele­fon­karten und Sturm­truppen-Taschen­bü­cher. Er ver­si­chert: Trotz Internet und digi­taler Daten­banken gibt es für das über 350-sei­tige Mam­mut­werk immer noch Abnehmer – 1500 Exem­plare werden pro Jahr ver­kauft.

Dabei erweist sich die Recherche zu den Daten für die mitt­ler­weile rund 400 Mit­glieder nicht immer als ein­fach. Zwar sam­melt der DSFS vor­nehm­lich Sta­tis­tiken des deut­schen Fuß­balls, doch geht er dabei eben auch bis hin­unter in die C‑Ju­gend-Bezirks­liga und his­to­risch weit zurück. Daher ist man auf die Mit­hilfe der Städte und Ver­bände ange­wiesen, wo man aber von dem Zah­len­wahn­sinn häufig nichts wissen will. Der hes­si­sche Fuß­ball­ver­band behaup­tete kürz­lich: Warum sam­melt ihr das noch? Es liegt doch alles vor!‘ Ich fragte also: Wo denn?‘ Darauf hatten sie keine Ant­wort“, sagt Hen­ning. Hinzu kommt, dass sich auch das Internet für Hob­by­sta­tis­tiker mit pro­fes­sio­nellem Anspruch nicht immer als Fund­grube erweist.

Vor allem dann nicht, wenn man es wirk­lich ganz genau wissen will. Etwa bei der Schieds­rich­ter­soll­regel, die im hes­si­schen Fuß­ball dafür sorgt, dass Ver­eine Schieds­richter für eine bestimmte Anzahl von Spielen abstellen müssen. Bei einer Regel­ver­let­zung gibt es Punkt­abzug und/​oder Geld­strafen. Diese wird auf den ein­schlä­gigen Inter­net­seiten meis­tens nicht erfasst“, sagt Dirk Hen­ning. Er klingt dabei ein biss­chen empört.

Fuß­ball und Dinge in Listen zu erfassen

Die größte Her­aus­for­de­rung für den DSFS stellt die Recherche des deut­schen Nach­kriegs­fuß­balls dar. Es wurden Ligen zusam­men­ge­stellt, wenig später neu struk­tu­riert, Ver­eine spielten kurz­zeitig in Liga A, dann wieder in Liga D – ein ein­ziges Chaos!“, sagt Hen­ning. Jedes Ergebnis aus dem Jahr 1946 sei daher eine blaue Mau­ri­tius“. Über die Partie SG Borsig­walde gegen SG Stralau aus der Stadt­klasse Berlin, Staffel B, Saison 1945/46 ist immer noch nichts bekannt. Zu ver­muten sei, so Hen­ning, dass sie erst nach­träg­lich gewertet wurde. Doch wo wurde das doku­men­tiert? So etwas ist für einen Sta­tis­tiker grau­en­haft.“

Ein eng­li­scher Jour­na­list schrieb einmal: Männer lieben zwei Dinge: Fuß­ball und Dinge in Listen zu erfassen.“ Aber was sam­meln die Männer mit ihren Listen eigent­lich? Den Inhalt oder nur den Ver­weis darauf? Pflegen sie ihre Erin­ne­rung oder schlichtweg ihr System? Die Daten ver­mengen sich mit der Erin­ne­rung und der Fan­tasie“, sagt Stok­ker­mans. Ich male mir aus, was sich hinter den Zahlen ver­birgt.“ Dirk Hen­ning hin­gegen sagt: Warum ich das mache? Viel­leicht weil ich Per­fek­tio­nist bin.“

Eigent­lich ein Dilemma, denn Fuß­ball­ar­chive haben keine Ränder und Enden. Es gibt immer noch eine Liga unter der, die man gerade abge­schlossen hat, oder einen Pokal, der nie doku­men­tiert wurde. Wenn man diesen Fakt akzep­tiert, beun­ru­higt das nicht“, sagt er.

Für Iordan Tsirov ist die Recherche auch die Suche nach Wahr­heit und Voll­stän­dig­keit. So war etwa eine Auf­zeich­nung aus der bul­ga­ri­schen Ama­teur­liga Yugoiz­tochna (5. Liga) lange lücken­haft. Es fehlte der Ein­trag zum Spiel Sozopol gegen Stam­bo­lovo vom 12. Spieltag der Saison 2007/08. Tsirov wühlte sich wochen­lang durch Zei­tungs­ar­chive, kon­tak­tierte andere Sta­tis­tiker, den Ver­band, die Ver­eine – ohne Erfolg. Schließ­lich fand er den Namen des dama­ligen Trai­ners von Sozopol heraus, und rief ihn an, seitdem ist alles gut. Das Spiel endete 0:7. Es könnte eines Tages sehr wichtig werden.