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Ende der Neunziger herrschte Goldgräberstimmung. Mit einem Mal lag alles vor ihnen, wonach sie seit Jahren in verstaubten Archiven, alten Tageszeitungen oder antiken Büchern auf Flohmärkten gewühlt hatten: Resultate, Torschützen, Tabellen, Aufstellungen, Auswechslungen, Halbzeitstände, Schiedsrichter und Zuschauerzahlen. Nur ein paar Klicks und sie wussten, wie viele Tore Muhammad Al-Azazy vom Klub Zohra Sanaa in der Saison 1994/95 in Jemen schoss, wann Sitora Buxoro in die zweite usbekische Liga aufstieg oder wer den „Coupe des Nations“ gewann, der 1930 als Gegenveranstaltung zur kritisch beäugten WM in Genf ausgetragen wurde.
All das lag vor ihnen auf einer einzigen ominösen Internetseite, die umständlich „Rec.Sport.Soccer Statistic Foundation“ hieß. Sie wurde gefüttert von Männern aus Ägypten und Albanien, aus Uruguay oder den Malediven, von einsamen Männern, die mit dem Internet-Urknall zu einer weltweiten Gemeinschaft von Freizeit-Fußballstatistikern wurden. Um sie zu verstehen, kann man sich etwa die Geschichte von Iordan Tsirov erzählen lassen, einem heute 28 Jahre alten Wirtschaftswissenschaftler aus Sofia.
Im Sommer 1999 bekam Iordan Tsirov zu seinem 17. Geburtstag einen Computer und einen Internetzugang geschenkt, und unter dem Ächzen des riesigen Apparats und dem Surren des Modems tippte er seinen ersten Begriff in die Suchmaschine: „Soccer“. Einige Jahre schon hatte der Bulgare Statistiken von Fußballspielen zusammengetragen, einige fein säuberlich auf Zetteln notiert, andere mit der Schreibmaschine abgetippt. Hoch im Kurs standen bei ihm seit je Daten von Amateurspielen aus der Provinz Varna im Nordosten Bulgariens und von seinem Lieblingsklub ZSKA Sofia. Wenn ihn Freunde fragten, was ihn daran fasziniere, sagte er: „Diese Informationen werden eines Tages sehr wichtig sein.“
Angefangen hatte alles mit einem Buch über die WM 1990, das er eines Tages im elterlichen Wohnzimmerschrank fand. „Die Geschichten waren spannend“, sagt er, „doch erst als ich auf die letzten Seiten blätterte, war es für mich, als blickte ich durch ein Fenster in eine neue Welt.“ Tatsächlich blickte Iordan Tsirov in den Statistikteil des Buches – eine Bleiwüste aus Zahlen und Text. Wochenlang studierte er die Daten, lernte den Verlauf des Turniers auswendig, kaufte neue Bücher, verglich die Tabellen miteinander und hortete Schnipsel aus Sportzeitungen. Einigen Freunden, die sich immer mal wieder ungläubig nach seinem Tun erkundigten, zeigte er das Datenarchiv in seinem Kinderzimmer. Es war das, was er sein Hobby nannte.
Niemand wusste mehr über die Provinz Varna
Als er aber in jenem Sommer 1999 das Wort „Soccer“ in die Suchmaske eingab, wurde dieses überschaubare Idyll mit einem Mal zerstört. „Das Internet“, sagt Tsirov heute, „war für alle Fußballstatistiker der Startschuss zu etwas sehr Großem.“ Der junge Mann verbrachte die kommenden Nächte vor dem Bildschirm. Er wurde bald Mitglied der Datenseite „Bulgarian Football Latest“. Tsirov sortierte seine alten Daten, digitalisierte sie und schickte sie ab. Ein gutes Gefühl, denn niemand wusste so viel über die Provinz Varna wie er. Schließlich fand er die „Rec.Sport.Soccer Statistic Foundation“ (RSSSF) und schrieb sofort eine Bewerbung.
Die virtuelle Gemeinschaft RSSSF hat heute über 300 ehrenamtliche Zulieferer und über die Jahre den vermutlich größten Fußballdatenberg der Welt aufgehäuft. Seit ihrem Start im Dezember 1994 hat sich die Seite dabei kaum verändert. RSSSF ist das Abbild einer Welt, die nur aus Text besteht – und genau deswegen von Datensammlern geschätzt wird. Während sich das Internet seit 15 Jahren beinahe täglich neu erfindet, nunmehr abertausende Spielfilme auf einer einzigen Seite Platz finden oder opulente Fotos die Bildschirme füllen, änderte sich bei rsssf.com eine einzige Sache: Man integrierte irgendwann mal ein zweifarbiges Logo in die rechte obere Ecke des Bildschirms.
Die Daten vor ihrem Tod retten
„Welchen Nutzen haben Bilder für Statistiken? Warum brauchen wir Farbe?“, fragt Karel Stokkermans, einer von drei Gründern der RSSSF. Der 44-jährige Niederländer hat für Ästhetik nicht viel übrig. Er ist Mathematiker, arbeitete lange an der Universität. Heute lebt er in Saarbrücken und pflegt von zu Hause aus eine holländische Datenbank. Er liebt Zahlen, die Schönheit der Ordnung. Das war schon immer so. Als Kind notierte er die Zeiten von Eisschnellläufern und heftete sie ab. „Um sie später zu vergleichen“, sagt er, „und damit sie nicht verlorengehen.“
Stokkermans drückt die große Sorge des Sammlers aus, des konservierenden homo collectors. Weil manche Dinge der Schnelligkeit der Gegenwart zum Opfer fallen könnten, bewahrt er sie. Wobei Sammeln, so heißt es jedenfalls in der Kulturtheorie, eigentlich eine Ersatzhandlung ist. Der Sammler will etwas ganz anderes als das, was er tut. Er will Macht über etwas sehr Großes ausüben. Er will sein wie Gott. Weil ihm das aber nicht möglich ist, schafft er sich eine Welt in Miniaturform, die er beherrschen kann. Er wird ein kleiner Gott.
Tatsächlich gilt Stokkermans bei Hobbystatistikern als eben das: ein Gott. Die Statistiker in Bulgarien, Südafrika oder Thailand sind sich einig: Stokkermans ist der Sammler, der mit seinem Datenarsenal dem Ideal eines Archivs, alles für immer und überall verfügbar zu machen, am nächsten kommt. „Er tut dies als Idealist, ohne Geld, für die Sache!“, sagt Iordan Tsirov. Seine Stimme zittert, als er davon berichtet, wie ihn eines Tages die Zusage des RSSSF-Gründers erreichte. Er genügte den Ansprüchen. „Welcome!“, schrieb Stokkermans.
Ein Gott will Karel Stokkermans allerdings gar nicht sein. Er spricht ruhig, beinahe schüchtern. Selbst wenn er von seinen Errungenschaften erzählt, ist da kein Stolz in der Stimme. Bis auf den Moment, als er von verschollenen Daten der Insel Java berichtet. „Java, 1920 noch unter der Flagge von Niederländisch-Indien, all die Zahlen“, sagt er. „Das war gut.“ Er fand sie in einem Dokument in der Königlichen Bibliothek von Den Haag.
Auch andere Mitglieder haben Fußballgeschichte geschrieben: So fand etwa der 43-jährige Oshebeng Alphie Koonyaditse, RSSSF-Mitglied seit 2002, vor einigen Jahren heraus, dass Südafrika schon 1910 in Mailand der FIFA beitrat – als erstes Mitglied außerhalb Europas. Der südafrikanische Fußballverband übernahm diese Informationen dankbar auf seiner Webseite. Stokkermans bekam die Daten zugleich per E‑Mail. Am Ende blieben vier schwarze Zahlen auf rsssf.com, schmucklos aufbereitet in der Schriftart Courier.
Ganz anders tritt der Deutsche Sportclub für Fußballstatistiken e.V. (DSFS) auf, der auf seiner Homepage gerne von großen Erfolgen berichtet. Am Anfang stand Pionier Helmut Druwen, der im Juni 1971 über eine Annonce im „Kicker“ fünf Mitstreiter fand. Zwei Jahre später zählte der DSFS bereits 23 Mitglieder, darunter befanden sich etliche Männer aus einer privaten überregionalen Tippgemeinschaft. Sie nannte sich hochtrabend Bundesliga-Experten-Club (BEC), Mitglied werden konnte jeder.
Beim DSFS verweist man heute stolz auf die Einführung eines regelmäßig erscheinenden Clubbriefs (einseitig, DIN A4, ab 1971) und auf die erste große Anschaffung im Jahr 1972: ein Umdrucker, in der Fachsprache Matrizendrucker, mit dem man Abzüge in kleinen Auflagen herstellen konnte. Er kostete den Verein 184 Mark – finanziert wurde er mit den kurz zuvor eingeführten Mitgliedsbeiträgen (2,50 Mark pro Monat). Im November 1980 folgte die erste Publikation, ein 20-seitiges DIN-A5-Heftchen mit dem Titel „Der HSV – Erfolgsbilanz eines großen Bundesligavereins“.
Der DSFS erfasst Statistiken noch in Büchern
1981 veröffentlichte der DSFS „Die Halbzeitbilanz der Amateur-Oberliga 1980/81“, der Grundstein für die Bücherreihen von mittlerweile über 400 Statistikbänden und vor allem für das jährlich erscheinende Saison-Abschlusswerk des Statistikervereins. Früher hieß es „Deutschlands Fußball in Zahlen“, heute „Deutscher Fußball-Almanach“. „Hört sich schmissiger an“, sagt der Vereinsvorsitzende Dirk Hennig. Der 44-Jährige lebt in Kassel und sammelt neben Statistiken noch Modellautos, Telefonkarten und Sturmtruppen-Taschenbücher. Er versichert: Trotz Internet und digitaler Datenbanken gibt es für das über 350-seitige Mammutwerk immer noch Abnehmer – 1500 Exemplare werden pro Jahr verkauft.
Dabei erweist sich die Recherche zu den Daten für die mittlerweile rund 400 Mitglieder nicht immer als einfach. Zwar sammelt der DSFS vornehmlich Statistiken des deutschen Fußballs, doch geht er dabei eben auch bis hinunter in die C‑Jugend-Bezirksliga und historisch weit zurück. Daher ist man auf die Mithilfe der Städte und Verbände angewiesen, wo man aber von dem Zahlenwahnsinn häufig nichts wissen will. „Der hessische Fußballverband behauptete kürzlich: ‚Warum sammelt ihr das noch? Es liegt doch alles vor!‘ Ich fragte also: ‚Wo denn?‘ Darauf hatten sie keine Antwort“, sagt Henning. Hinzu kommt, dass sich auch das Internet für Hobbystatistiker mit professionellem Anspruch nicht immer als Fundgrube erweist.
Vor allem dann nicht, wenn man es wirklich ganz genau wissen will. Etwa bei der Schiedsrichtersollregel, die im hessischen Fußball dafür sorgt, dass Vereine Schiedsrichter für eine bestimmte Anzahl von Spielen abstellen müssen. Bei einer Regelverletzung gibt es Punktabzug und/oder Geldstrafen. „Diese wird auf den einschlägigen Internetseiten meistens nicht erfasst“, sagt Dirk Henning. Er klingt dabei ein bisschen empört.
Fußball und Dinge in Listen zu erfassen
Die größte Herausforderung für den DSFS stellt die Recherche des deutschen Nachkriegsfußballs dar. „Es wurden Ligen zusammengestellt, wenig später neu strukturiert, Vereine spielten kurzzeitig in Liga A, dann wieder in Liga D – ein einziges Chaos!“, sagt Henning. Jedes Ergebnis aus dem Jahr 1946 sei daher „eine blaue Mauritius“. Über die Partie SG Borsigwalde gegen SG Stralau aus der Stadtklasse Berlin, Staffel B, Saison 1945/46 ist immer noch nichts bekannt. Zu vermuten sei, so Henning, dass sie erst nachträglich gewertet wurde. Doch wo wurde das dokumentiert? „So etwas ist für einen Statistiker grauenhaft.“
Ein englischer Journalist schrieb einmal: „Männer lieben zwei Dinge: Fußball und Dinge in Listen zu erfassen.“ Aber was sammeln die Männer mit ihren Listen eigentlich? Den Inhalt oder nur den Verweis darauf? Pflegen sie ihre Erinnerung oder schlichtweg ihr System? „Die Daten vermengen sich mit der Erinnerung und der Fantasie“, sagt Stokkermans. „Ich male mir aus, was sich hinter den Zahlen verbirgt.“ Dirk Henning hingegen sagt: „Warum ich das mache? Vielleicht weil ich Perfektionist bin.“
Eigentlich ein Dilemma, denn Fußballarchive haben keine Ränder und Enden. Es gibt immer noch eine Liga unter der, die man gerade abgeschlossen hat, oder einen Pokal, der nie dokumentiert wurde. „Wenn man diesen Fakt akzeptiert, beunruhigt das nicht“, sagt er.
Für Iordan Tsirov ist die Recherche auch die Suche nach Wahrheit und Vollständigkeit. So war etwa eine Aufzeichnung aus der bulgarischen Amateurliga Yugoiztochna (5. Liga) lange lückenhaft. Es fehlte der Eintrag zum Spiel Sozopol gegen Stambolovo vom 12. Spieltag der Saison 2007/08. Tsirov wühlte sich wochenlang durch Zeitungsarchive, kontaktierte andere Statistiker, den Verband, die Vereine – ohne Erfolg. Schließlich fand er den Namen des damaligen Trainers von Sozopol heraus, und rief ihn an, seitdem ist alles gut. Das Spiel endete 0:7. Es könnte eines Tages sehr wichtig werden.