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Die Cham­pions-League-Hymne ertönt, hun­derte blau-schwarze Fahnen schwenken von links nach rechts und von rechts nach links, Kame­ra­blitze schießen aufs Spiel­feld. Zwar ist der Ober­rang gesperrt, doch ansonsten ist das San Siro prall gefüllt. Und das obwohl die Fahnen nicht Inter, son­dern Ata­lanta Ber­gamo zum Sieg im Ach­tel­final-Hin­spiel der König­klasse treiben sollen. Knapp zwei Stunden später liegt sich der Groß­teil der 44000 Zuschauer in den Armen. 4:1 wurde der FC Valencia in einer mit­rei­ßenden Partie geschlagen. Mai­land ist an diesen Abend fest in der Hand der Bergamesci, wie die Ein­wohner von Ber­gamo genannt werden. Bars, Restau­rants, Cafés und die Straßen der Mode­me­tro­pole sind voll mit fei­ernden Ata­lanta-Tifosi, es herrscht aus­ge­las­sene Stim­mung.

Vier Monate ver­än­dern alles

Fast auf den Tag genau vier Monate später hat Ata­lanta Berga­masca Calcio wieder eine Partie mit 4:1 gewonnen. Doch nicht nur der Gegner war in Sas­suolo Calcio ein anderer. Auch sonst hätte die Stim­mung in und um das Sta­dion gegen­sätz­li­cher nicht sein können. Von Freude keine Spur. Fans und schwen­kende Fahnen in der eigent­li­chen Heim­stätte von Ata­lanta? Fehl­an­zeige. Statt­dessen sind neben dem Sta­dion Trans­pa­rente zu finden auf denen Schande“ oder Fuß­ball ohne Fans ist kein Fuß­ball“ geschrieben steht.

Zwar liegen zwi­schen beiden Spielen nur 123 Tage. In diesen 123 Tagen aber hat sich die Welt und vor allem Ber­gamo durch das sich aus­brei­tende Coro­na­virus stark ver­än­dert. So erreichten die Welt aus der Stadt nicht nur stetig stei­gende Infi­zier­ten­zahlen, son­dern auch erschre­ckende Bilder. Auf dem Höhe­punkt der Pan­demie mussten in der Lom­bardei mit Hilfe von Mili­tär­fahr­zeugen Lei­chen abtrans­por­tiert werden, da regio­nale Bestat­tungs­un­ter­nehmen nicht mehr hin­ter­her­kamen. Neben diesen beängs­ti­genden Szenen gab es in dieser Zeit aber auch posi­tive Bilder, Bilder die Mut machten. Die zeigten, dass Ber­gamo zusam­men­steht. Gegen das Leid, gegen das Virus.

Bilder der Hoff­nung

So ver­deut­lichte ein Video vom 1. April Soli­da­rität und Lebens­lust einer ganzen Region: Nachdem ein Ver­bund aus Gebirgs­jä­gern, Frei­wil­ligen und Ultras von Ata­lanta ein Feld­kran­ken­haus für an Corona Erkrankte fer­tig­ge­stellt hatte, sangen alle gemeinsam inbrünstig bei der Essens­aus­gabe über ihre Hin­gabe zur Stadt Ber­gamo. Dabei zeigte sich ein wei­teres Mal die enge Ver­bin­dung zwi­schen Stadt, Verein und Fans. Die Ultras wurden ganz gezielt von den Orga­ni­sa­toren des in nur einer Woche errich­teten pro­vi­so­ri­schen Kran­ken­hauses ange­spro­chen, wie ein Mit­glied der berühmten Curva Nord dem Bal­les­terer berichtet: Sie wollen dezi­diert unsere Hilfe, da sie mit­be­kommen haben, mit wel­cher Ernst­haf­tig­keit wir uns bei ver­gleich­baren Anlässen schon ein­ge­bracht haben.“

Nun, Ende Juni, die Lage hat sich in ganz Europa und auch in Nord­ita­lien etwas ent­spannt, möchte auch der Trainer von Ata­lanta, Gian Piero Gas­pe­rini, seinen Teil zur Gene­sung der Stadt bei­tragen: Über den Fuß­ball wollen wir jetzt ein Lächeln in die Stadt bringen, die so sehr geschä­digt ist.“ Gas­pe­rini, der mit dem Coro­na­virus infi­ziert war und sich des­wegen in Spa­nien der Kritik aus­ge­setzt sieht, er hätte gar nicht zum Cham­pions-League-Rück­spiel nach Valencia reisen sollen, steht mit seiner Lust auf Fuß­ball in Ber­gamo ziem­lich alleine da.

Ein Spiel als Beschleu­niger der Seuche

Obwohl die Mann­schaft scheinbar keine Nach­wehen aus der Corona-Pause davon­ge­tragen hat und direkt wieder begeis­ternden Offen­siv­fuß­ball spielt, spie­gelt sich davon nichts in der sonst so fuß­ball­ver­rückten Stadt wider. Nicht nur die Ultras haben sich mit ihren Trans­pa­renten zum Re-Start der Serie A klar posi­tio­niert.

Auch viele andere Men­schen in der Stadt, von denen fast alle einen Freund, eine Bekannte oder Ver­wandte an das Virus ver­loren haben, sehen es kri­tisch, dass wieder Fuß­ball gespielt wird. So fragt Sara Maz­zo­leni, die einen Kiosk in der Nähe des Sta­dions betreibt, im Gespräch mit DW, wie es sein kann, dass es für Pro­fi­fuß­baller Tests in Hülle und Fülle gibt“, diese aber in den Kran­ken­häu­sern fehlen“.

Wahr­schein­lich ist die Skepsis in der Stadt auch so groß, da unter Viro­logen das Cham­pions-League-Hin­spiel zwi­schen Ata­lanta und dem FC Valencia als Beschleu­niger bei der Aus­brei­tung des Virus gilt. Vor allem der Umstand, dass tau­sende Anhänger rund um die Partie von Ber­gamo nach Mai­land hin-und her­ge­reist sind, könnte sich negativ auf den Pan­de­mie­ver­lauf in der Lom­bardei aus­ge­wirkt haben.

Zusam­men­halt und viele Tore

Somit ist es nicht über­ra­schend, dass für viele Bergamesci Fuß­ball der­zeit nicht das Wich­tigste ist, auch wenn die Mann­schaft von Ata­lanta unter sport­li­chen Gesichts­punkten mehr Auf­merk­sam­keit ver­dient hätte. Der über­zeu­gende Sieg gegen Sas­suolo hat mal wieder gezeigt, dass in Ber­gamo der­zeit eines der span­nendsten Pro­jekte im euro­päi­schen Spit­zen­fuß­ball statt­findet. Mit über 2,8 Toren pro Partie (ins­ge­samt: 76 Tore in 26 Spielen) stellt Ata­lanta nach den Bayern die stärkste Offen­sive der fünf großen euro­päi­schen Ligen. Auch am Mitt­woch­abend erspielte sich Ata­lanta nach einem 0:2‑Pausenrückstand noch ein 3:2 gegen die Spit­zen­mann­schaft Lazio. 

Trainer Gas­pe­rini hat seiner Mann­schaft in knapp drei Jahren einen offen­siven Geist ein­ge­impft, der sie bisher in jedem Jahr unter seiner Regie zumin­dest in die Qua­li­fi­ka­tion zum Euro­pa­pokal geführt hat. In dieser Saison hat Ata­lanta mit dieser mutigen Spiel­weise sogar sen­sa­tio­nell das Vier­tel­fi­nale der Cham­pions League erreicht. Dabei war vor allem der Zusam­men­halt des Teams ent­schei­dend, wie der deut­sche Flü­gel­spieler Robin Gosens bei DAZN fest­stellt: Wir spielen seit drei Jahren zusammen und im Gegen­satz zu anderen Teams können wir wohl behaupten: Wir sind eine Mann­schaft.“

Herz und Ver­stand

Anders als bei vielen anderen Spie­lern nimmt man Gosens diese Aus­sagen ab. Schon nach dem bis dato wich­tigsten Spiel der Ver­eins­ge­schichte in Donezk, als Ber­gamo das Ach­tel­fi­nale der Cham­pions League sen­sa­tio­nell und auf den letzten Drü­cker ein­ge­tütet hatte, hätte die ganze Ata­lanta-Familie, inklu­sive Jugend­spie­lern, zusammen gefeiert. Die Spieler gönnen sich gegen­seitig den Tor­er­folg, sodass nicht nur schon fast jeder Kader-Spieler in dieser Saison getroffen hat, son­dern auch ein bul­liger Tor­jäger wie der Kolum­bianer Duvan Zapata auf die Flügel aus­weicht und Tore vor­be­reitet. Außer den für das System emi­nent wich­tigen Außen­spie­lern, die kon­se­quent defensiv und offensiv die Linie halten, haben die Spieler sehr viele Frei­heiten. So hat der kleine Papu Gómez seine sport­liche Heimat in Ber­gamo gefunden und ist eine Kon­stante im Verein. Hin­sicht­lich seiner Posi­tion agiert der Argen­ti­nier dafür sehr variabel und wech­selt sich im Spiel oft mit dem Slo­wenen Josip Ilicic auf der nomi­nellen Zeh­ner­po­si­tion ab.

Ins­ge­samt hat Trainer Gas­pie­rini ein System erschaffen, in dem jeder seine Auf­gaben und die Lauf­wege der anderen Spieler sehr gut kennt, wie Robin Gosens bestä­tigt. Mit­unter kann die Spiel­weise etwas unor­thodox wirken, jedoch macht dieser Umstand Ber­gamo auch sym­pa­thisch. Hinter all den tak­ti­schen Finessen des Trai­ners steckt näm­lich nicht nur viel Akribie, son­dern auch eine Menge Herz. Wer die Spiele schaut, sieht elf Spieler, die für den Verein und das Wappen auf der Brust brennen. Ata­lanta Ber­gamo, das ist im Jahr 2020 ein Verein für Fuß­ball­ro­man­tiker. Exem­pla­risch für diese Hin­gabe steht auch der Deut­sche Robin Gosens – gegen Lazio erzielte er bereits sein achtes Sai­sontor – der im Gespräch mit 11FREUNDE mit seinen Gefühle nicht hin­term Berg hält: Ich liebe diese Stadt.“

Beste Saison der Ver­eins­ge­schichte

Dieser selten gewor­dene Umstand, diese Iden­ti­fi­ka­tion mit der Stadt, könnte auch mit der tra­di­tio­nell sehr engen Ver­bin­dung zwi­schen Fans und Verein zusam­men­hängen. Auf­grund der zurück­lie­genden schreck­li­chen Wochen ist diese Ver­bin­dung etwas abge­kühlt. Der Fuß­ball hat an Bedeu­tung ver­loren. Doch je mehr Tore Ata­lanta schießt, je mehr Punkte die Mann­schaft in der ohnehin schon erfolg­reichsten Saison der Ver­eins­ge­schichte anhäuft, desto schwerer wird es den Men­schen in der Stadt fallen, ihre eigent­lich geliebten Helden zu igno­rieren. Und was, wenn Ata­lanta tat­säch­lich weiter durch die Cham­pions League stürmt?

Viel­leicht werden dann zumin­dest in den Straßen wieder blau-schwarze Fahnen geschwenkt. Und viel­leicht hallt per la curva e per la tua cittá“ – für die Kurve und für deine Stadt – auch inbrünstig durch die Gassen. Spä­tes­tens dann wäre Ber­gamo wieder Ber­gamo. Eine Stadt, die ihren Verein abgöt­tisch liebt.