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Da ist der eine, kugelig schon, als er noch spielte. Doch der Ball klebte an seinem Fuß, und er kannte Tricks, die nie­mand sonst kannte. Er wuchs auf in der Mil­lio­nen­me­tro­pole Buenos Aires, später zog er nach Bar­ce­lona und Neapel. In Mexiko-City schoss er das Tor des Jahr­hun­derts, zurück in Buenos Aires insze­nierte er sein Leben als große Oper: Frauen, Gesänge, Drogen, Abstürze, Tränen.
 
Dann ist da der andere, ein schlak­siger Typ aus Weil­heim in Ober­bayern. Er hei­ra­tete ein Jahr nach dem Abitur seine Jugend­liebe. Sie mochte kein Prada oder Gucci, son­dern Pferde. Er liebte Fuß­ball, immer schon. Früher, als Kind, spielte er bei einem Klub namens TSV Pähl, mit elf Jahren ging er zum FC Bayern und blieb dort bis heute.
 
Zwei Typen, zwei Lebens­welten

Diego Mara­dona und Thomas Müller – zwei Typen, zwei Lebens­welten. Trotzdem streifen sich die beiden immer wieder. Viel­leicht, weil sie doch ähn­li­cher sind, als man zunächst glaubt.
 
Es begann alles am 3. März 2010. Thomas Müller und Diego Mara­dona sollten sich nach einem Freund­schafts­spiel zwi­schen Deutsch­land und Argen­ti­nien auf der Pres­se­kon­fe­renz den Fragen der Jour­na­listen stellen. Für Müller war das Neu­land, für Mara­dona Rou­tine, tau­sendmal erlebt, Seite an Seite mit dem Who is who der Fuß­ball­welt. Nächste Frage, bitte.
 
Doch dieses Mal geriet die Sache ein wenig aus der Bahn. Als Mara­dona das Podest erklomm, saß dort ein Junge. Dieser hatte zwar kurz zuvor knapp 70 Minuten vor seinen Augen Fuß­ball gespielt, doch Mara­dona erkannte ihn nicht. Wer war das? Ein Schüler oder Prak­ti­kant viel­leicht, der sich ver­irrt hatte. Ein Ball­junge, der sich heim­lich auf das Podium geschli­chen hatte. Ein Scherz­bold? Mara­dona meckerte ein biss­chen und verzog das Gesicht. Er war es gewohnt neben einem Kaiser, einem General oder zumin­dest neben Jogi Löw zu sitzen, nicht aber neben einem pillo, einem Laus­buben. Also ver­ließ Mara­dona das Podium.

Müller war nicht begrü­ßens­wert
 
Müller blickte irri­tiert drein, ver­mut­lich dachte er eben­falls an einen Scherz, immerhin gibt es mitt­ler­weile zahl­reiche Männer, die als Mara­dona-Double ihr Geld ver­dienen. Doch der kuge­lige Mann, der die Bühne hin­ab­stieg war der echte Mara­dona der Mann mit dem Jahr­hun­derttor, die Zehn, El D10S, Gott. Und dieser Gott hatte ihn, den 20-jäh­rigen Buben aus Weil­heim, für nicht eben­bürtig befunden. Nicht mal für begrü­ßens­wert. So ver­schwand auch Thomas Müller erst einmal, wäh­rend Mara­dona, der die War­te­zeit mit dem Schreiben von Auto­grammen über­brückt hatte, zurück aufs Podest stieg.
 
Es ver­gingen vier Monate, bis sich die beiden erneut trafen, doch für Mara­dona war es kein gutes Wie­der­sehen. Am 3. Juli 2010, um 16:03 Uhr im Green-Point-Sta­dion in Kap­stadt, zir­kelte Bas­tian Schwein­steiger einen Ball scharf in den Straf­raum und Müller hielt seinen Kopf hin, 1:0, nach drei Minuten, im Vier­tel­fi­nale der WM 2010.
 
Deutsch­land gewann an jenem Abend 4:0, und die argen­ti­ni­sche Sport­zei­tung Ole“ schrieb einen Tag später: Diego, der Junge heißt Müller!“ Mara­dona flog nach dem Spiel nach Hause, er wurde ent­lassen und wieder schimpfte und pöbelte er. Müller, der wenige Tage zuvor noch seine beiden Omas im Fern­sehen gegrüßt hatte, machte noch ein wei­teres Tor im Tur­nier und wurde Tor­schüt­zen­könig. Ein paar Monate nach dem Tur­nier sagte er, dass er das lustig fand mit Mara­dona damals in der Mün­chener Allianz Arena. Und seine Omas sagten: So ein lieber Bua!“

Der hei­lige Müller, der hei­lige Diego
 
Vier Jahre später ist Thomas Müller ein Welt­star. Er ist WM-Dritter geworden, hat mit dem FC Bayern die Cham­pions-League, den Welt­pokal und drei Meis­ter­schaften gewonnen.
 
Dieser Müller ist nun 24 Jahre alt, und in Deutsch­land ver­ehren sie ihn. Seit seinen drei Toren gegen Por­tugal kur­sieren im Internet Bilder, auf denen Fans vor Wer­be­pla­katen oder Ein­zel­han­dels­ketten mit dem Namen Müller“ nie­der­knien. Der hei­lige Müller. Wie damals, in Neapel oder Mexiko: der hei­lige Diego.

Schon immer hul­digten Fuß­ball­fans Spie­lern, die nicht rein­passten in den klas­si­schen Spie­ler­setz­kasten, die krumme Beine und Über­ge­wicht hatten (Diego Mara­dona) oder aus­sahen wie wan­delnde Heu­schre­cken“ (der Künstler José Miguel Wisnik über den Bra­si­lianer Sócrates).
 
Was für Diego Mara­dona oder Sócrates gilt, trifft auch auf Thomas Müller zu: Er ist nicht per­fekt, manchmal bewegt auch er sich wie eine Heu­schrecke über den Platz, er wählt statt dem dop­pelten Über­steiger den ein­fa­chen Haken und den schnellen Abschluss, und er jubelt so, wie Fuß­baller früher, in den Sieb­zi­gern, geju­belt haben. Die Faust im Himmel, den Mund weit auf­ge­rissen, the good old times. Im modernen Fuß­ball, per­fek­tio­niert und cho­reo­gra­fiert, wirkt er bei­nahe ana­chro­nis­tisch, aus der Zeit gefallen – und ver­mut­lich gerade des­wegen so bewun­derns­wert. Wie ein Schrift­setzer auf einer W‑Lan-Party. 

An Ronaldo ist nichts feh­ler­haft
 
Viel­leicht muss gerade des­wegen einer wie Cris­tiano Ronaldo immer wieder um Aner­ken­nung bet­teln, denn die Leute gou­tieren zwar seine Tore, doch sie knien nicht vor ihm nieder wie wie früher Diego Mara­dona oder Sócrates, nicht mal wie Lionel Messi oder Thomas Müller heute. Denn an Ronaldo ist nichts feh­ler­haft. Er ist per­fekt. Statur, Schuss­technik, Tricks, Frisur. Wie eine Maschine.
 
Auch Mara­dona hat das gesehen, denn so sehr er sich in lauten Machismo und popu­lis­ti­sches Gebelle ver­rennt, so sehr liebt er auch einen Fuß­ball, wie ihn Thomas Müller spielt. Vier Jahre nach ihrem letzten Auf­ein­an­der­treffen wäre es Zeit für ein erneutes Wie­der­sehen. Mara­dona schickte nach Deutsch­lands 4:0‑Sieg gegen Por­tugal schon einmal eine Gruß­bot­schaft nach Bra­si­lien, die fast wie ein Ver­söh­nungs­an­gebot klang: Thomas Müller hat keine Mus­keln, aber heute hat er unglaub­lich stark gespielt.“
 
Ein Satz, mit dem man eigent­lich auch die aktive Zeit des ewig pum­me­ligen Mara­donas umschreiben könnte, den er, der Macho aus Buenos Aires, aber strikt ablehnen würde. Schließ­lich ging es in der Kar­riere des Diego Mara­dona auch um eine Sache: die Mus­keln spielen zu lassen.